Nachdenken über Eichen
Von Ulrich Eggers
Ich liebe Eichen – besonders, wenn sie einsam und mächtig auf einem weiten Feld stehen: massiver Stamm mit rissiger Borke, weit ausladende Krone mit kraftvoll bizarren Ästen – ein knorriges Urbild von Kraft. Unübersehbar. Standfest. Oft erratisch, herausragend: Man kann sie nicht übersehen, kommt schwer an ihnen vorbei. Sie stehen am/im Weg, man reibt sich daran.
Und darum geht es mir hier.
Denn diese Ambivalenz von Eichen war schon immer ein Nachdenk-Thema für mich – in vielfacher Hinsicht. Wir brauchen sie nämlich. Die Bäume – ja, die auch. Aber ich meine jetzt mehr die Menschen-Eichen – die Persönlichkeiten, an denen wir uns reiben. Die inspirieren, ermutigen, zu Reaktionen bringen. Die aber auch ärgern, verletzen, Reibung und Wundsein erzeugen. Eine merkwürdige Ambivalenz …
Man entdeckt solche Eichen, wenn man von Menschen, Gedanken, Impulsen nicht loskommt. Sich manchmal geradezu übertrieben provoziert und herausgefordert fühlt. Oder verblüffend verstanden und in neue Räume geführt. Derartige Eichen führen oft zu wunderlichen Übertreibungen: glühende Nachfolge oder heftige Abwehr. Denn Eichen strahlen Autorität aus – und das ist (zumindest in Deutschland nach unserer Nazi-Geschichte) politisch nicht mehr korrekt: Autorität muss verweigert, bekämpft, herablassend missachtet, demontiert und angezweifelt werden. Wir Deutschen (zumindest …) leben immer noch in der Reaktions-Starre geschichtlich erlernter Eichen-Abwehr. Nie wieder! Haben mindestens ein neurotisch-intuitives Missverhältnis dazu – kritiklose Verehrung oder grundsätzliches Misstrauen. Vielleicht, weil wir (heimlich oder offen) merken, wie sehr wir Eichen brauchen. Uns nach ihnen sehnen – egal, ob Pro- oder Contra-Eichen. Hauptsache Eichen. Wir brauchen Orientierung. Messpunkte. Festigkeit. Raue Rinde zum Reiben. Sehnsucht oder übertriebene Abwehr: Alles spricht davon, wie wichtig Eichen sind. Und wie ambivalent.
Denn wir leben gerade mit Corona, mit weltweiter Verunsicherung. Und auf einmal werden selbst hartnäckige Gegner milde: Doch, Eichen sind wichtig! Standfestigkeit. Ruhe. Tiefe Wurzeln, die dem Sturm genauso standhalten wie meinem Reiben. Der Hafer aller möglichen Nebenthemen (in Politik, Glaube, Leben …) sticht nicht mehr, jetzt ist Krise: Menschen brauchen Eichen!
In den Familien ist es auf einmal doch gut, wenn da ein unbequem liebendes Elternteil wie Mama oder Papa wirklich Rückgrat hat. Festigkeit, Erfahrung und (oft so nervende …) Unbestechlichkeit und Liebe. In der Politik erzielt eine Kanzlerin Merkel in ihrer unaufgeregt „alternativlosen“ Faktenorientierung ganz neue Zustimmungsgipfel. Und auch in Glaube und Kirche suchen wir klare Worte mit Autorität.
Ich freue mich darüber. Denn Eichen waren immer wichtig für mich. Aber ich habe oft auch schmerzlich empfunden, dass sie Fragen auslösen. Auch in mir. Ambivalenz.
Ich liebe Eichinnen und Eichen – große geistliche Vorbilder. Menschen, die etwas zu sagen haben. Ich habe enorm viel von ihnen gelernt. Sie gern auch verteidigt, wenn manch eine/r auf sie wie ein rotes Tuch reagiert und übertrieben kritisch zur Jagd bläst.
Bill Hybels ist so ein Name für mich. An der Reaktion auf ihn kann man viel ablesen über unser Verständnis von Eichen. Das Dilemma unkritischer Bewunderung genauso wie das der reflexhaften Abwehr, die manchmal viel tiefer in die eigene Biografie reicht als die ausgetauschten Argumente. Die übertriebene Hitze von Kritik genauso wie das Vakuum und die Langeweile, wenn solch eine Eiche fehlt. Aber auch die tiefe Enttäuschung, Wut – oder faktenfreie General-Verteidigung, die es auslöst, wenn solche Eichen wanken. Eben doch „nur“ menschlich sind – hässlich fehlerhaft, mit Schattenseiten und bleibenden Fragezeichen. Ja, gerade Eichen müssen Rechenschaft geben und sind nicht erhaben über die Regeln des Lebens. Nein, auch Eichen sind nur Bäume – verwachsen, gebrochen, verletzt und verletzend. Mit bleibender Frucht – und bleibender Schuld. Ambivalent.
Und dann: Will ich eigentlich auch diese nervigen Eichen „von der anderen Seite“? Brauche ich zum Beispiel diese konservativen Nerv-Gurken mit ihrem päpstlich narzisstischen Gehabe – oder diese post-evangelikalen Abbruch-Unternehmer, die – oft durch ihre eigenen Wunden hindurch – meine Glaubensruhe stören?
Ich habe widerwillig gemerkt, dass letztlich beide „Sorten“ mir guttun, mich herausfordern, sturmfester machen. Echte Eichen respektieren Auseinandersetzung und Reibung – und sind eben keine Mimosen (wie gelegentlich ihre eifernden Verehrer). Manches, was heute zu mir spricht, kommt von Menschen, die ich vor Jahren vielleicht noch kritisiert hätte. Lebenssituationen und Einsichten verändern sich. Reibung, Spannung oder Mahnung tut mir gut – aber niemand zwingt mich zur Komplett-Hingabe.
Und: Bin ich eigentlich selbst eine Eiche? Will ich eine sein? Als Vater, Mutter, Partner, Freund, Pastor oder Vorgesetzter? Oder möchte ich mich immer passend machen, nicht im Weg stehen, immer geliebt werden? Wer Eiche ist, wird manchmal einsam sein. Muss sich tief in Leben und Glauben verwurzeln, Gegenwind und Sturm mit Liebe und Sanftmut ertragen, zartes Leben und schützende Rinde nebeneinander nähren, Orientierung geben und hinterfragbar bleiben. Eiche auf dem Feld, das ist mühsamer als Baum in der Schonung …
Am Ende: Nur eine Eiche zählt ja letztlich in unserem Leben. Gott selbst. Tiefe Wurzeln, fester Halt, bedingungslose Liebe, Eck- und Stolperstein. Das große Nord auf meinem Kompass. Unverfügbar, aber da. Genau das macht eine Eiche aus – mitten in allen Krisen.