Schlagwortarchiv für: Gott

Psychologin erklärt die Kraft der Demut

Die Wiederentdeckung der Demut kann positive Folgen für jeden Menschen haben. Psychologin Friederike Fritsche erklärt, welche Kraft in der Demut liegt und wie sie uns individuell und kollektiv angesichts neuer Herausforderung stärken kann.

Ein einleitender Abschnitt eines Artikels aus der Fach-Zeitschrift „Psychologie heute“ lautet: „Demut galt zuletzt als verstaubte Tugend. Nun wird sie von der positiven Psychologie wiederentdeckt. Denn dieses Zurücknehmen unseres Egos, dieses Anerkennen der eigenen Grenzen und Schwächen fördert unser Wohlbefinden – und schafft Verbundenheit“. Doch: Wie sah der Weg zu dieser Wiederentdeckung aus? Was lehrt Demut uns auf der Suche nach dem gelingenden Leben – im Umgang mit uns selbst, den Menschen um uns herum, als Gruppe, als Gesellschaft, im Umgang mit der Natur?

Demut – lange Zeit missverstanden

Der Begriff Demut bedeutete ursprünglich „dienstwillig, die Gesinnung eines Dienenden“. Lange wurde er mit Selbstabwertung und Unterwürfigkeit gleichgesetzt. Das gehört leider zur Geschichte der Demut, dass sie so viele Jahre auf tragische Weise missverstanden wurde. Der Brockhaus weiß also, von welchen verkrusteten Schichten dieses Wort mühsam freigekratzt werden muss: „In der Demut akzeptiert der Mensch seine eigenen Grenzen und stellt sich unter das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Demut ist somit von serviler Gesinnung ebenso abzuheben wie von Minderwertigkeitsgefühlen; sie ist vielmehr Ausdruck für das Bewusstsein von der Würde des Menschen.“ So war es wohl ursprünglich gedacht: Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße, weil er es so will. Aus eigener freier Entscheidung. Im Bewusstsein seiner Würde und der Würde seiner Jünger.

Die Psychologie hat seit etwa 25 Jahren eine moderne, multidimensionale Per­spektive auf Demut entwickelt und viele Zusammenhänge erforscht. Demut fördert zum Beispiel Wohlbefinden und Beziehungsqualität, mindert Depressionen und die Angst vor dem Tod, der ultimativen Grenze des Lebens. Wie schafft die Demut das? Einige Aspekte erscheinen mir zentral.

„Angemessene“ Einschätzung

Demütige Menschen schätzen die eigenen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen angemessen ein. Die englische Formulierung der Sozialpsychologin Pelin Kesebir fasziniert mich: „the ability to see the self in true perspec­tive.“ Demut ist demnach die Fähigkeit, das Selbst aus einem „wahren“, also angemessenen, realistischen Blickwinkel zu sehen. „True“ im Sinne von „Ja, so ist es, so bin ich, so bist du“. Wie viel Energie würde dadurch frei werden, wenn ich oder wir als Gruppe nicht mehr damit beschäftigt wären, ein Idealbild zurechtzuzimmern und zu verteidigen. Diesem existentiellen Kern begegne ich am brennendsten, wenn ich mal wieder einen Fehler gemacht habe und es ganz tief in mir spüre, das Unbehagen.

Grenzen und Fehler eingestehen

Demütige Menschen erkennen die eigenen Unvollkommenheiten und Grenzen an und sind bereit, eigene Fehler zu erkennen und einzugestehen. Ich denke an das tiefe Gespräch mit guten Freunden im Urlaub: Wie geht ihr mit Kritik um, erlebt ihr da auch so einen tiefen Schmerz? Das Teilen war der erste Schritt. Wie viel Energie würde frei werden, wenn ich die nächsten Schritte gehen könnte: Ich mache meinen Frieden damit, dass ich, und auch alle anderen, eben nicht vollkommen sind. Ich darf aussteigen aus der ermüdenden Selbstbeschäftigung und -verzerrung, um mich besser dastehen zu lassen. Wir könnten im Streit oder in der Rückschau auf etwas eingestehen: Ja, das war ein Fehler, tut mir leid. Das wäre der selbstbestimmte Ausstieg aus dem Kampf ums Ego. Die Demut hält mir dafür die Tür offen. Und wenn ich dann mit mir selbst barmherziger bin, kann ich das auch mit anderen sein. Das moderne Wort dafür ist Selbstmitgefühl, geprägt von Psychologin Kristin Neff. Das heißt, dass ich mit mir selbst genauso freundlich umgehe wie mit einem Menschen, den ich sehr gerne mag.

Es geht hier aber um viel mehr als bessere Selbsteinschätzung und Konfliktbewältigung, nämlich um eine sehr grundsätzliche Frage: Wie komme ich in die Kraft, das Nötige zu tun angesichts von so vielen Krisen um uns herum? Ein entscheidender Schritt ist, dass ich meinen Frieden damit schließe, dass ich so manches Sehnsuchtsziel eben nicht erreichen kann – in meinem Beruf, in der Familie oder im Umgang mit der Klimakrise. Es liegt nicht alles in meiner Hand. Das klingt ziemlich ernüchternd und gleichzeitig so erleichternd. In meiner Ausbildung habe ich oft den Satz gehört: „Aus dem Anerkennen der eigenen Grenzen entsteht Kraft“ – die Kraft, das anzupacken, was in meinem Gestaltungsbereich liegt. Wo dieser Bereich endet, da können wir immer wieder die Demut befragen – und werden erleben, dass er paradoxerweise größer wird, wenn wir manche Grenze akzeptieren. Ich erlebe das als Schlüssel gegen Ohnmacht und Blockaden angesichts sich auftürmender Krisenberge. Denn das Gefühl von Ohnmacht und Stress sind unsere ständigen Begleiter im Leben: In unserem Inneren entstehen ständig drei zutiefst natürliche Reaktionen auf mögliche Bedrohungen um uns herum. Das kann ein Streit oder die Klimakrise sein: Wir greifen an, (be)kämpfen (fight), oder wir ergreifen (innerlich) die Flucht (flight), oder wir erstarren (freeze). Unsere Lebensherausforderung ist, uns darüber immer wieder bewusst zu werden, denn in diesen Zuständen ist keine „angemessene“ Einschätzung von uns selbst und anderen möglich.

Das große Ganze

Demütige Menschen legen weniger den Fokus auf die eigene Person, sondern sehen sich selbst als Teil eines größeren Ganzen und sehen ihre eigenen Beiträge im Rahmen dieses größeren Ganzen. Für religiöse Menschen heißt dieses „größere Ganze“ Gott. Spürbar ist es für alle Menschen in der Natur. Wir staunen, fühlen uns verbunden, kommen zur Ruhe und Reflexion, entdecken, wie klein wir sind. Die Wiederentdeckung der Demut in und gegenüber der Natur ist der überfällige Gegenpol zur ausbeuterischen Grenzenlosigkeit der letzten Jahrzehnte. Und die Chance, wie wir als Gesellschaft eine weitere Kurve im notwendigen Umdenken kriegen könnten.

Die Natur „lehrt uns Demut“, wie viele es ausdrücken. Diese „Lehrerin“ Natur spüren wir oft im wunderbar positiven Sinne: in den Bergen, beim Sonnenuntergang, im Wald. Aber lassen wir auch die schmerzhafte Form zu? Ich meine das Mitleiden mit der gestressten oder zerstörten Natur. Es wird immer offensichtlicher und schwingt auch bei wunderbaren Naturerfahrungen mit. Welke Bäume im Sommer, ein nicht mehr vorhandener Gletscher. Es gibt unzählige Beispiele, vor unserer Haustür und weltweit. „Solastalgie“ ist ein relativ neuer Fachbegriff für den Schmerz über den Verlust tröstlicher heimatlicher Geborgenheit, ausgelöst durch Umweltzerstörung. Der Begriff wurde von einem Umweltwissenschaftler geprägt, um die emotionale Reaktion der Menschen auf die Zerstörung ihrer Heimat zu beschreiben. Ich glaube, wir müssen dieses Gefühl, diesen Schmerz bewusst zulassen, um dann wieder die zu einer „angemessenen“, demütigen Einschätzung zu kommen, jenseits von „fight, flight, freeze“. Dazu brauche ich, wie bei allen wirklich wichtigen Dingen im Leben, andere Menschen.

Offen gegenüber Menschen und Ideen

Demütige Menschen sind offen gegenüber Menschen und neuen Ideen – auch scheinbar widersprüchlichen. Demut ermöglicht, wertschätzend auf die Vorzüge und Werte anderer fokussiert zu sein, statt auf sich selbst, ohne dabei etwas vom eigenen Selbstbewusstsein einzubüßen. Mit dieser Haltung wäre so viel möglich: Ich würde versuchen, die innere Landkarte meines Mitmenschen, sei es meines Partners oder meiner Partnerin oder einer zufälligen Bekanntschaft, wirklich zu verstehen, auch wenn mir manches erstmal fremd erscheint. Dann wäre der Weg frei, um Menschen oder Initiativen in meiner Umgebung zu finden, die vielleicht erst auf den zweiten Blick Gleichgesinnte sind. Denn wenn wir es schaffen wollen, dann geht es nur gemeinsam. Ich stelle mir vor: Die Demut wäre begeistert, dass wir uns die Mühe machen, ihren ganzen Schatz zu heben, und wäre sofort bereit, mitzumachen, wenn wir auf diese Weise Schritte wagen.

Friederike Fritsche ist Diplom-Psychologin in freier Praxis in Nürnberg.