Immer öfter erproben Kirchen, wie sie New Work anbieten können. Was wie ein Widerspruch klingt, ist eigentlich keiner.
Zwischen Shishabar und Parkhaus, keine fünf Minuten zu Fuß vom Karlsruher Schloss entfernt, liegt das Kairos13. Die Evangelische Kirche hat hier 2020 einen Social Co-Working-Space eröffnet für Menschen, die in einem Start-Up oder freischaffend an nachhaltigen und sozialen Themen oder Projekten arbeiten.
Große Teppiche liegen auf dem Betonfußboden des hellen Arbeitsraums, der mit viel Holz und Schwarz eingerichtet ist. Neben Schreibtischen dürfen Wohnzimmerecke und Kaffeebar nicht fehlen, denn Vernetzung ist ein wichtiges Anliegen. Aus der reduzierten Überhangsfläche eines Gemeindehauses soll ein Innovationscampus werden, der zwei Ziele verfolgt: sozialnachhaltiges Engagement fördern und einen kirchlichen Ort schaffen für Menschen, die sonst kaum oder keine Kontaktflächen zu Kirche haben. „Das geschieht sehr niederschwellig und ganz automatisch darüber, dass Co-Working unter dem Dach von Kirche stattfindet und ich als kirchlicher Mitarbeiter vor Ort und selbst Teil der Community bin“, erklärt der Leiter Daniel Paulus.
New Work passt zur Kirche
Die sich rasant verändernde Arbeitswelt, die immer globaler, digitaler und mobiler wird, wird gern mit dem Stichwort „New Work“ beschrieben. Das Konzept entwickelte in den 1970er-Jahren der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann. Er beschrieb die konventionelle Arbeit damals als eine Krankheit, die man aushalte bis zur Rente, und er prognostizierte stattdessen für die Zukunft eine positive Entwicklung: gemischte Teams statt homogener Abteilungen, Projektarbeit, Innovation statt Tradition und Kontrolle. Sein menschenfreundliches Zukunftsbild aus Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft passt gut zur biblischen Ethik.
Zu den wichtigen Formen neuer Arbeit zählt das Co-Working: Menschen, die ihren Arbeitsort frei wählen können, etwa Freelancer oder Gründerinnen, bilden eine Bürogemeinschaft und nutzen das Inventar gemeinsam. Als in der Pandemiezeit klar wurde, dass Arbeiten auch außerhalb des betrieblichen Büros gut funktionieren kann, erhöhte sich auch die Zahl derjenigen, für die ein solcher öffentlicher Arbeitsort infrage kommt.
Work-Life-Balance ist Hauptargument
Zu Beginn vor allem in wenigen Metropolen bekannt, breitet sich das Konzept nun weltweit aus. Rund 18.700 Co-Working Spaces nennt Statista für 2018. Etwa 1,65 Millionen Menschen haben sie genutzt.
Danach befragt, welche Vorteile sich Arbeitnehmende von neuen Arbeitsplatzkonzepten erhofften, stand die bessere Work-Life-Balance ganz oben. Es zeigte sich: Viele Menschen lieben ihre Freiheit und würden gern zeitlich und örtlich ungebundener, selbstbestimmter und vernetzter arbeiten.
Laut einer Umfrage des Online-Magazins Deskmag schätzen Menschen am Co-Working-Space vor allem die angenehme Arbeitsatmosphäre (59 %), die Kommunikation mit anderen (56 %) und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein (55 %).
Der Grad der Verbindlichkeit allerdings ist sehr unterschiedlich. Während manche Anbieter sich schlicht als Schreibtischvermieter verstehen, entsteht anderswo eine enge Gemeinschaft mit hoher Verbindlichkeit und gemeinsamen Werten und Anliegen. Dort entstehen Synergieeffekte, die häufig zu neuen Projekten führen.
Co-Working existierte bereits in Klöstern
Soziologen ordnen Co-Working-Spaces wie Cafés, Bibliotheken oder Kirchen den „dritten Orten“ zu, als wichtige Lebensmittelpunkte neben dem eigenen Zuhause und dem klassischen Arbeitsplatz im Betrieb. Auch Kirchen haben mittlerweile verschiedene Co-Working-Konzepte entwickelt. Die Theologin und Innovationsforscherin Maria Herrmann wirbt dafür, sich bewusst zu werden, dass Co-Working einerseits etwa in den Klöstern eine lange kirchliche Tradition hat und andererseits auch große Chancen bietet für die Zukunft.
Klöster mögen in der allgemeinen Wahrnehmung nicht mehr als Orte der Innovation präsent sein. Doch lange Zeit waren sie die Räume, in denen nicht allein für Einzelne, für eine Institution oder aus rein wirtschaftlichem Interesse geforscht und gearbeitet wurde. Auch Gemeinschaft und Ästhetik spielten wichtige Rollen. Genau das kann heute auch Co-Working-Spaces von anderen Kontexten der Arbeit unterscheiden: die Entdeckung und Erfahrung, dass es sowohl für ein gutes Arbeitsleben als auch für das Neue Verbündete und eine angemessene Atmosphäre braucht. Dass man nicht alleine an Innovationen arbeiten kann. Dass verschiedene Perspektiven, Fähigkeiten und Ressourcen notwendig sind. Dass Schönheit und Ästhetik Einfluss haben.
Alter Gemäuer, neuer Geist
Warum aber sollen sich Kirchen und Gemeinden mit dem Thema Co-Working-Space beschäftigen? Hansjörg Kopp, Generalsekretär des CVJM Deutschland, nennt dazu Folgendes: „Kirche hat den Auftrag, nah bei den Menschen zu sein. Und damit auch mitten in einer agilen Gesellschaft mit zunehmend mobilem Arbeitsverhalten. Wie wunderbar, wenn der Schatz unserer alten Gemäuer Neuland und Freiraum bietet.“
Mittlerweile haben etliche Gründer und Gründerinnen auch mit kirchlichem Hintergrund oder aus ihrem Glauben als Motivation Projekte rund um das Co-Working entwickelt. Für sie und ihre Generation ist das Thema New Work und im Speziellen das Arbeiten und Leben in den Co-Working-Spaces eine angemessene Form von Gemeinschaftserleben. Letztlich sehnt sich jeder Mensch nach einem Kreis von Verbündeten, einer tragenden Verbindung. Vor allem in einer Zeit, in der die Familienverbände kleiner werden und oftmals nicht durch Nähe verbunden sind. Um dieses Community-Building geht es den Pionieren und Pionierinnen in diesem Bereich.
„Hirschengraben“ in Luzern: Innovation in konservativer Stadt
Der Architekt Sandro Schmid nennt seinen „Hirschengraben“ ein „Kollektiv von Weltveränderern, ein Sparringspartner für deine Träume und ein Spielplatz für Unternehmen“. Zum Start hat er seine Mitstreiter gefragt: „Was hat Luzern davon, dass es euch gibt?“ Seine Frage zeigte Wirkung: Bislang haben die 35 Mitglieder 21 Projekte und Start-ups gegründet: Von der Wäscherei über Wertefinder bis zur Business-Community ist die Spanne groß. In einer Stadt, die eher konservativ geprägt ist, tragen sie zu einer Reformation der Arbeit bei. Sandro Schmid bringt dabei gern auch seinen christlichen Glauben ins Spiel: „Mein Vertrauen auf Gott gibt Menschen etwas. Gott hat mich versorgt, mich Geschichten erleben lassen, die mir als ein Wunder entgegenkommen.“
Gründergeist in Frankfurt: Villa in der Innenstadt
Als die Idee der Villa Gründergeist vor vier Jahren entstand, kämpfte das Bistum Limburg nicht nur mit den Folgen des schleppenden Umgangs mit den Missbrauchsskandalen, Relevanzverlusten und einem prognostizierten Einbruch der Kirchensteuereinnahmen. Man zweifelte auch an der eigenen Berufung. Das Bistum steckte nach dem durch den Papst angenommenen Rücktritt von Bischof Franz-Peter Tebartz von Elst in einer Leitungskrise. Nicht der beste Nährboden für gemeinsam getragene pastorale Ziele oder gar für kirchliche Innovationen. Oder vielleicht gerade doch?
Im Dezernat Kinder, Jugend und Familie wurde überlegt, was mit einer rund 100 Jahre alten Villa mit rund 600 Quadratmetern Fläche mitten in der Frankfurter Innenstadt passieren könnte. In einem kleinen Projektteam über verschiedene Hierarchieebenen hinweg entstand die Idee einer Plattform für Zukunftsfragen. Nicht die kirchlichen Mitarbeitenden sollten das Haus allein von sich aus mit Leben füllen, sondern Pioniere und Macherinnen aus möglichst vielen Bereichen. So entwickelten sich mit Gründer David Schulke mutige Ziele: die Welt täglich besser machen durch die Förderung von Social Entrepreneurship und Sozialinnovation. Die Learnings aus dieser Reise nutzbar machen für Menschen, die Kirche neu gründen und Glauben anders leben wollen – im Umfeld einer sinnstiftenden und durch das Villa-Team gut begleiteten Community.
Kaffeebar „Effinger“ wird zum Modell für andere
Der Bildungscoach und Entrepreneur Marco Jakob hat 2015 in Bern den Co-Working-Space mit Kaffeebar „Effinger“ mitgegründet, der ein Modell für viele andere geworden ist. Er sieht kirchlich orientiertes Co-Working allerdings auch kritisch. Die Kirche einfach zu einem Co-Working-Space umzubauen und zu meinen, dann kämen die Leute schon von selbst, sei ein fataler Irrtum. Wer beruflich die Möglichkeit dazu hat, den ermutigt er vielmehr dazu, einen bestehenden Co-Working-Space in der eigenen Umgebung aufzusuchen und selbst regelmäßiger Co-Worker zu werden, zuzuhören, wahrzunehmen, was Leute bewegt und ihre Träume und Projekte kennenzulernen.
Wer Herausforderungen wahrnimmt, kann überlegen, wie er mit den eigenen Fähigkeiten, Netzwerken und Ressourcen etwas zur Lösung beitragen kann. „Rechne mit Gottes Hilfe. Und wenn dein Beitrag mehr als zehn Prozent deiner Zeit beansprucht, so mache dich selbstständig und verlange einen angemessenen Preis für das, was du tust“, rät der Christ. „Falls es etwas ist, das die anderen nicht direkt bezahlen können, so suche mit ihnen nach einem Weg, wie es finanziert werden kann. So ist das, was du tust, wirksam, authentisch und nachhaltig.“
Byro Aarau: Mehr als Cappuccino-Beziehungen
Gründungen, die ein inhaltliches Ziel verfolgen und durch Projekte und Veranstaltungen auch positiv in ihre lokale Umgebung hineinwirken oder global etwas bewegen wollen, sind meist vom Gedanken einer engeren Community getragen, der man sich verbindlicher anschließt.
Daniel Hediger, Co-Gründer vom „Byro Aarau“ stellt fest, dass das nicht immer einfach ist und spricht von Beziehungsfähigkeit, die jemand mitbringen muss. „Das sind nicht nur lustige Cappuccino-Beziehungen. Community geht nur dann, wenn du bereit bist, dich auf Beziehungen einzulassen.“ Verbindliche Beziehungen müssten da wachsen und der Wille zur Veränderung vorhanden sein. „Hier beginnt die schwer quantifizierbare Wirkung eines Co-Working-Spaces.“ Es gelte, Vertrauenskultur aufzubauen auf und der Versuchung zu widerstehen, in alte, hierarchische Strukturen zurückzufallen.
Bei all diesen faszinierenden Projekten wird deutlich, dass es kein Grundmuster für den Start, den Aufbau und den Betrieb eines Co-Working-Spaces gibt. Sowohl bei der Ausrichtung auf die jeweilige Zielgruppe als auch in Bezug auf Kirchennähe gibt es verschiedene Ansätze. Es wird noch viel experimentiert werden – und den Königsweg vielleicht nie geben. Die Tendenz ist aber klar: Für viele Menschen und Milieus sind die klassischen Kirchen nicht attraktiv. Sie sehnen sich zutiefst nach Gemeinschaft, aber ohne Gemeindeordnung. Nach sinngebenden Angeboten, aber ohne Gottesdienstliturgie. Arbeit und Freizeit werden nicht mehr scharf getrennt. Und in diese Sehnsucht hinein lohnt es sich, Angebote zu setzen.
Jürgen Jakob Kehrer ist Referent der Evangelischen Landeskirche Württemberg und freiberuflicher Organisationsentwickler. Dorothea Gebauer betreibt ein eigenes Co-Working-Space, hat mehrere Gründungen begleitet und arbeitet im Bereich innovativer Bildung, PR und Fundraising.
In diesen Wochen erscheint ihr gemeinsames Buch: „Co-Working: aufbrechen, anpacken, anders leben – Herausforderung und Chance für Gemeinden und Organisationen“ (Vandenhoek und Ruprecht).