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Das Unperfekthaus in Essen. Foto: Nathanael Ullmann

Pulsierend, kreativ, vielfältig: Das Unperfekthaus in Essen

Das Unperfekthaus in Essen bietet vielen Kreativen eine Spielwiese. Ob Business, Kunst oder Hobby – hier ist Platz für alle, die Räume suchen, um sich auszuprobieren. Ein Rundgang mit dem Gründer Reinhard Wiesemann.

Vor Gründer Reinhard Wiesemann steht eine Kaffeemühle. Das Schmuckstück ist eine echte Antiquität, aus Holz gebaut, mit kunstvollem Rad verziert. Doch statt Kaffeemehl produziert diese Mühle Licht. Obenauf steckt eine Glühbirne. In der Schublade findet sich der Schalter. „Die ist toll, was soll die kosten?“ „Ich wollte dafür 150 haben“, sagt Christoph Gropp. Er hat das Unikat gebaut. „Das ist viel zu wenig“, entgegnet Wiesemann. Und dann: „Ich kauf sie. Für 249,99 Euro.“ Der Bastler kann sein Glück kaum fassen. Erst, als er das Geld in den Händen hält, dämmert ihm, dass das Angebot kein Scherz war. Es sind solche Momente, in denen das Unperfekthaus sein volles Potenzial entfaltet.

Dass das Unperfekthaus in Essen, kurz UPH, ein außergewöhnlicher Ort ist, wird auf den ersten Blick deutlich. Umgeben von Prunkbauten wie der riesigen Mall und dem Firmensitz der Funke Mediengruppe wirkt es wie ein architektonischer Punk. Die fünfstöckige Fassade zieren Bilder von Abraham Lincoln, Joseph Beuys und anderen Persönlichkeiten. Vom Dach bis zum Boden biegt sich eine Murmelbahn. Das Konzept im Innern ist provozierend einfach: Das Haus ist voll mit Musikinstrumenten, Werkzeugen und Spielen. Die Gäste dürfen alles frei nutzen. Was sie in dem Haus anstellen, ist ihnen überlassen. Ob Kunst oder Business, Beruf oder Hobby, populär oder Nische – das ist egal.

Corona hat alles verändert

Reinhard Wiesemann ist der Vater dieser Idee. Gerade ist er auf Stippvisite in seinem eigenen Haus. Abends wird er hier einen Themenabend moderieren. Er steht in der Küche im Erdgeschoss und hält einen Plausch mit einem Mitarbeiter. Sein grüner Pulli und seine randlose Brille erinnern ein wenig an den unaufgeregt charmanten Stil eines Bill Gates. Der wahre Blickfang sind seine Augen: Stets spiegeln sie ein uneingeschränktes Interesse am Gegenüber und eine kindliche Freude am Austausch.

Nach ein paar Minuten in der Küche startet Wiesemann seinen Rundgang. Er hat noch nicht ganz die neonleuchtende Treppe zur ersten Etage erklommen, da macht er schon klar: Es ist viel passiert in den letzten Jahren des Unperfekthauses. „Ich habe gelernt, dass unperfekt heute etwas anderes bedeutet als 2004.“ Früher seien die Besucherinnen und Besucher vor allem handwerklich begabt gewesen, heute laufe vieles virtuell. Den Leuten komme es auch viel mehr auf eine schöne Atmosphäre an. Entsprechend hat sich das Haus über die Coronazeit angepasst. Die Veränderungen werden schon auf der ersten Etage mehr als deutlich.

Dort findet sich seit neuestem der UPH-Kunstladen. Aus der Fensterfront strahlt das Licht auf das Holz der Inneneinrichtung. An Haken und in Kisten warten ausgewählte Stücke auf Käuferinnen und Käufer: Kissen und Mützen, stets mit Kunstdrucken versehen, Gemälde, Postkarten. Inmitten dessen steht Sebastian Kentzler, der den Laden zusammen mit Susanne Kampling nebenberuflich führt, und sortiert ein paar T-Shirts. Wiesemann und er grüßen sich und wechseln ein paar warme Worte.

Angesprochen auf seinen Laden gerät er ins Schwärmen: Werke von 40 Kunstschaffenden biete der Kunstladen an, die meisten aus dem UPH selbst. Vor allem liebe er dabei den Gedanken, die weniger technikaffinen Künstlerinnen und Künstler zu unterstützen: „Sie hätten das alleine nie geschafft, ihre Kunst auf die Produkte zu bringen.“ Die im UPH ausgestellten Werke seien dabei nur ein Bruchteil dessen, was der Laden zu bieten habe. Der Fokus des Ladens liege im Online-Geschäft. Corona hat auch hier ein Zeichen gesetzt.

Hobbykeller de luxe

Wiesemann zieht weiter, in das Herzstück des Unperfekthauses. Konferenzräume finden sich hier, weitläufige Lounge-Flächen und Kunststände an den Seiten. Der Weg hinein führt an einer Schranke vorbei. Neun Euro kostet das „Basis-Clubticket“. Mit ihm können die Besuchenden alle Bereiche des Hauses erkunden, Kaffee und Softdrinks sind inklusive. Ob Menschen den Kreativen über die Schulter schauen wollen oder selbst aktiv werden, können sie selbst entscheiden. Möchte jemand hier dauerhaft eine Bleibe finden, stehen verschiedene Modelle zur Auswahl. Wer das UPH beispielsweise lediglich als Coworking-Space nutzt und sich nicht ins Haus einbringt, zahlt glatte 200 Euro im Monat. Wer selbst mit anpackt, für den ist die Miete deutlich günstiger.

„Die Innenstadt ist voller Orte, an denen man etwas kaufen kann. Das hier ist der einzige Ort, an dem man selbst etwas tun kann“, sagt Wiesemann. Die Idee zu dem Haus ist tief in seiner Kindheit verwurzelt. Der junge Reinhard hatte bei seinen Eltern einen Hobbykeller zur Verfügung. Hier bastelte er nach Herzenslust an Elektronik. Diese Experimentierfreude zahlte sich aus: Bei einem europaweitem Wettbewerb im Stile des heutigen „Jugend forscht“-Wettbewerbs gewann er in Deutschland den ersten, in Europa den zweiten Platz. Noch im Studium gründete er ein eigenes Technikunternehmen. Und das lief so gut, dass der Erfinder sein Studium nach sechs Semestern abbrach.

Mit dem UPH wollte er anderen Menschen das Gefühl seiner Kindheit zugänglich machen. Das Haus in Essen ist sein überdimensionierter Hobbykeller. Ehemals war das Gebäude ein Franziskanerkloster. Die verwinkelten Räume waren für das Vorhaben perfekt. 2004 kaufte Wiesemann das Haus. „Damals dachte ich noch: ‚Ich kaufe das jetzt, dann muss ich das renovieren, dann kommen die Kreativen ins Haus. Aber der Schlüssel war gerade übergeben, da waren die ersten Kreativen schon da. Es hat noch reingeregnet, da hatten wir hier schon unsere ersten Treffen.“ Seitdem ist das UPH ein fester Bestandteil des Ruhrgebiets.

Lounge statt Klosterzelle

Auf der zweiten Etage zeigt sich in voller Stärke, wie sich das Kreativhaus in den letzten Monaten verändert hat. Noch vor wenigen Jahren prägten vor allem die ehemaligen Klosterzellen das Gesamtbild. Von einem kleinen Raum ging es da zum nächsten. Mal standen die Besuchenden in einem kleinen Atelier, mal in einem Musikzimmer. Ruhrpottcharme, so nennt man hier diese urige Mischung: Alles wirkte ein wenig heruntergekommen, aber voller Liebe. Nach einem Umbau strahlt das Haus heute Weite aus. Nur wenige Räume zweigen im zweiten Obergeschoss noch von der Hauptfläche ab. Mitten im Loftbereich findet sich eine Leinwand. Im hinteren Teil stehen Stühle um einen Konferenztisch. Der Boden in Holzoptik strahlt Wärme aus. Die Möbel in kräftigen Farben könnten genauso gut in einem Szene-Café oder einem IKEA-Ausstellungsraum stehen.

Reinhard Wiesemann biegt vom Hauptraum der zweiten Etage ab, öffnet eine Tür – und plötzlich stehen wir in einem voll eingerichteten Bühnenraum. Auch der ist ein Novum. Rund eine halbe Million Euro hat der Umbau insgesamt gekostet, erzählt er. Die fast zweijährige Zwangspause durch Corona war dafür die optimale Zeit. Das Gesicht des Hauses hat sich gewandelt. Nur: Es fehlen die Menschen. Vor allem ist da Stille. 1.000 Künstlerinnen und Künstler beherbergte das UPH vor Corona. Jetzt sind es nach Angaben des Gründers gerade einmal 100 bis 150 Kunstschaffende.

Er vermutet, dass die neuen Räume den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern Angst machen, sich ohne Scheu auszuprobieren. „Aber wir sind nach wie vor das Unperfekthaus!“ Während er da in seinem neuen, leeren Bühnenraum steht, zieht Wiesemann einen Vergleich: Er frage sich, wie das wohl im Mittelalter gewesen sei. Heute empfänden wir eine natürliche Anziehung zu historischen Stadtzentren. Aber wie hätten die Menschen damals darauf reagiert, als all das neu war? „Vielleicht sagten die Menschen des Mittelalters auch: ‚Ih, ein Fachwerkhaus, ich sitze lieber weiter auf dem Lehmboden!‘“ Aus seinen Worten strahlt die Zuversicht, dass es nur Zeit braucht. Zeit, bis das Unperfekthaus zu einer neuen Blüte kommt.

Lampenkunst

Ein Vorgeschmack darauf findet sich in der dritten Etage. Hier ist das Reich der Nerds. Reihenweise 3D-Drucker surren nebeneinander her. In einer Ecke steht eine Miniatur des UPHs. Auf den Tischen stapeln sich Basteluntensilien. Die Decke zieren Planeten. Und inmitten dieses kreativen Chaos steht Christoph Gropp. Er ist der Tüftler, dem Reinhard Wiedemann wenige Minuten später seine Kaffeemühlen-Lampe abkaufen wird. Über eine persönliche Empfehlung sei er hier gelandet, als er auf der Suche nach Verkaufsmöglichkeiten für seine Lampen war, erzählt er. „Unperfekthaus hört sich gut an“, dachte er sich. Nun absolviert er hier einen Probemonat. Das gefällt ihm: „Hier kann ich machen, was ich will: sägen, schneiden …“ Und wie sich zeigt: auch seine Lampenkunst an Mann und Frau bringen. Wiesemann hört gespannt zu. Für ihn ist die Tour durchs Haus selbst eine Entdeckungsreise. „Hier passiert so viel, ich weiß selbst nicht über alles Bescheid“, gesteht er während seines Rundgangs.

Von der Technik-Etage wandert Reinhard Wiesemann ins Dachgeschoss. Dieser Bereich samt Bar und riesiger Dachterrasse wird gerne für Firmenfeiern und Hochzeiten gemietet. Willkommen ist hier jeder. „Nur, wer intolerant ist, den wollen wir hier nicht.“ Im Klartext: Einen Diskussionsabend mit der AfD würde man im UPH finden können, einen Propagandaabend nicht. Im Flur und Keller des Gebäudes, der letzten Station auf dem Rundgang, zeigt sich der alte Charme des UPH noch am stärksten. Große Graffiti-Malereien säumen das Treppenhaus. Im Keller hängen Rohre von der Decke, die Räume sind verwinkelt. Es riecht muffig. Und doch: In jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken. Hier eine Skulptur aus Schädeln, dort ein Spieletisch und in einem Hinterzimmer ein ganzes Fotostudio. Rund 70 Räume hat das UPH, schätzt Wiesemann. Die genaue Zahl, und das macht irgendwie den Zauber des UPH aus, weiß selbst der Erfinder nicht.

Am Abend hat der Gründer zu einer Diskussionsrunde geladen. „Hat Religion eine Zukunft?“ ist das Thema. Plötzlich ist das Obergeschoss voller Menschen. Das macht Hoffnung: Dass das Unperfekthaus bald wieder mit Leben gefüllt ist – und dem Coronavirus ein Schnippchen schlägt.

Nathanael Ullmann ist  Referent für Medien und Öffentlichkeitsarbeit eines Freikirchenbundes.