Der regionale Bioladen "grüne Perle" in Witten. Foto: Jan Hagelstein

Regionale Bioprodukte im Ruhrgebiet – die „grüne Perle“ zeigt, wie es geht!

Regionale Bio-Lebensmittel zu fairen Preisen? Das muss keine Utopie bleiben! Eine Gruppe engagierter Menschen hat einen Regionalladen in der Wittener Innenstadt gegründet. Dort verkaufen Erzeuger aus dem Umkreis ihre Waren. Benjamin Kleine Vennekate erzählt, warum es sich lohnt mitzumachen.

Wer durch unseren Laden geht, der erspürt Hoffnung. Nicht nur, weil Wände, Ladentheken und Gemüseregale in grüner Farbe erstrahlen und regional erzeugte Lebensmittel hier sichtbar wertgeschätzt werden, sondern auch weil Menschen wieder anfangen, in der Wittener Innenstadt einzukaufen, wo in den letzten Jahren so viele Läden geschlossen haben. Wir setzen einen Gegentrend. Das war uns wichtig bei der Gründung.

Wenn ich freitagvormittags meinen ehrenamtlichen Dienst im Laden leiste, treffe ich keine Kunden, ich treffe Gleichgesinnte – Landwirte, Schreinerinnen, Cafébesitzer, Sozialpädagoginnen, Rentner. Ich begegne einer Stadt, die anfängt, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

MARKTMACHT DER DISCOUNTER

Mitte August 2022 hat die „grüne Perle“ für alle Liebhaber regionaler Bio-Produkte feierlich ihre Türen geöffnet. Eine Initiative hatte beschlossen, groß zu träumen und verschiedenen Missständen entgegenzutreten. Unnötig lange Transportwege für Erzeugnisse, die eigentlich auch ganz in der Nähe hergestellt werden können, und viele Praktiken konventioneller Landwirtschaft halten wir in Zeiten des Klimawandels nicht mehr für angemessen. Außerdem beschäftigten uns die herrschenden Dumpingpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse. Die vier großen Supermarktkonzerne – Aldi, Edeka, Rewe und die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland – haben in Deutschland einen Marktanteil von über 85 Prozent – und damit eine unverhältnismäßig große Marktmacht gegenüber Lieferanten. Erst im letzten Jahr hat Oxfam eine Auflistung unfairer Handelspraktiken veröffentlicht, unter denen vor allem landwirtschaftliche Familienbetriebe leiden: geforderte Rabatte, nicht vereinbarte Rückgabe von Waren und rückwirkende Vertragsänderungen mit hohen Geldforderungen. Das „kann bedeuten, dass Supermarktketten nach Ablauf des Geschäftsjahres oder des Vertrages fünf- bis sechsstellige Geldbeträge von den Lieferanten verlangen – nur weil sie die Macht haben, das zu tun“, schreibt Oxfam in seinem Bericht.

Wir glauben an eine Lösung, die alle mit ins Boot holt: Landwirte und Konsumentinnen – und wir denken, dass regionale, solidarische und nachhaltige Lösungen für viele der genannten Probleme die besten sind. Nicht zuletzt wünschen wir uns selbst hochwertige und frische Bio-Lebensmittel, die uns schmecken, gesund halten und deren Wertschöpfungskette inklusive der Transportwege wirklich nachhaltig ist.

MIT 100 EURO EINSTEIGEN

Darum wagten wir im Frühjahr 2022 den Schritt und gründeten die “Wittener Regional e. G.”, eine Genossenschaft, aus der heraus der Regionalladen “grüne Perle” entstehen sollte. Die Idee: Wir bauen ein Netzwerk aus regionalen Erzeugern auf, die ihre Produkte wie Obst, Gemüse, Brote und viele weitere Lebensmittel direkt ins Zentrum der Stadt liefern und so eine große Kundschaft erreichen.

Mit Erfolg: Innerhalb weniger Monate hatten wir fast 40 Produzenten gefunden, die den Regionalladen gerne regelmäßig versorgen wollten. Die meisten von ihnen müssen weniger als 30 Kilometer zum Regionalladen zurücklegen. Obwohl das Ruhrgebiet einer der größten Ballungsräume Europas ist, werden überall auch hochwertige Bio-Lebensmittel erzeugt. Wie beispielsweise bei den Jungs vom “Hevener Feld”.

Vor einem Jahr mieteten Jonas Dietrich und Matthias Brohl ein Stück Acker am Wittener Stadtrand und betreiben nun eine solidarische Landwirtschaft: Interessierte kaufen Ernte-Anteile und können sich dann von April bis November einmal in der Woche eine Gemüse-Kiste abholen. In diesem Jahr wurden 160 Kisten bestückt – die Warteliste ist lang.

Diese und viele weitere Erfolgsgeschichten im Bereich der urbanen Landwirtschaft möchten wir mit der „grünen Perle“ fördern und zugleich in der Stadtbevölkerung wieder ein Bewusstsein für den hohen Wert von Lebensmitteln schaffen. Unsere Strategie: Partizipation! Jede und jeder kann mit einem Anteil von 100 Euro einsteigen und Miteigentümer der „Grünen Perle“ werden. Der Laden ist also nicht die Sache irgendeiner Geschäftsführung, sondern alle machen mit, alle entscheiden. Und gemeinsam haben wir beschlossen, mit Hilfe der Einnahmen durch die verkauften Anteile ein leerstehendes Ladenlokal mitten in der Fußgängerzone zu mieten. Die Eigentümerin war begeistert von unserer Idee und gewährte uns für die ersten Monate einem Mietrabatt. Auch der Ladenumbau durfte nicht zu teuer werden. Darum investierte ein Heldenteam aus Freiwilligen über Monate hinweg Freizeit und Fähigkeiten in den Ladenumbau. Je mehr der Laden seine fertige Form annahm, desto häufiger hielten Passantinnen und Passanten an und nachdem die lokale Presse intensiv über das Projekt berichtet hatte, stieg die Zahl der Genossenschaftsmitglieder auf über 350 Personen. Warum ich einer von ihnen bin? Ich mag den Bibelvers aus Jeremia 29,7: „Suchet der Stadt Bestes…, denn wenn‘s ihr wohl geht, so geht’s euch gut.“ Als Team haben wir festgestellt, dass uns unsere Stadt sehr am Herzen liegt und wir einen Beitrag leisten wollen, damit das Leben, Einkaufen und der Aufenthalt für alle Beteiligten besser wird.

Benjamin Kleine Vennekate ist Produktmanager an der Universität Witten/Herdecke. Mehr zur „Grünen Perle“ online: wittener-regionalladen.de

Global Food Garden - eine Anlage zum Gemüseanbau. Foto: Daniel Johansson

Startup gegen den Hunger: Eine innovative Methode zum Gemüseanbau

Immer mehr Menschen hungern. Der Klimawandel verschärft das Problem noch weiter. Daniel Johansson und David Rösch haben mit „Global Food Garden“ neue Anbaumethoden für wasserarme Regionen entwickelt. Ein Lichtblick.

Es ist sonnig, als ich mich auf mein Fahrrad schwinge, um den „Global Food Garden“ zu besichtigen. Während ich durch Freiburg fahre, genieße ich die Gegend. Uns umgibt hier viel Grün. Wasser und fruchtbarer Boden ermöglichen eine hohe Lebensqualität. Ich muss daran denken, wie anders es in den Gebieten aussieht, für die der „Global Food Garden“ sich einsetzt. Regionen, in denen kaum etwas wächst und Dürreperioden es den Menschen schwer machen, sich ihre Lebensgrundlage zu erarbeiten.

Angekommen auf dem Freiburger Gelände fällt zuerst die große Hydroponik-Anlage aus leuchtend gelben Balken auf. Hinter großen Fensterscheiben sprießen zahlreiche Salatköpfe aus einer weißen Wand. Ich werde bald erfahren, dass diese Form des Gemüseanbaus der Anfang war von allem.

Wasser zielgenau nutzen 

Der gelernte Schiffsingenieur Daniel Johansson hörte von einem Kollegen davon. Aufgewachsen auf einem Schiff der christlichen Organisation OM hatte Daniel selbst mehrere Jahre auf einem solchen Schiff gearbeitet, bevor er 2010 mit seiner Familie in die deutsche OM-Zentrale nach Mosbach im Odenwald kam. Hier erfuhr er, dass sich mit dieser Methode Gemüse in Regionen anbauen lässt, in denen das mit herkömmlichen Herangehensweisen nicht oder kaum möglich ist.

In einem solchen hydroponischen System wachsen Pflanzen nicht in Erde, sondern in mit Nährstoffen angereichertem Wasser, was – so wie hier – auch einen vertikalen Anbau ermöglicht. Eine solche Anlage benötigt aber nicht nur weniger Raum, sondern vor allem bis zu 90 Prozent weniger Wasser als Äcker, da das Wasser zirkuliert oder zielgenau bereitgestellt wird, nicht aber versickert.

Die Vorstellung, mit solchen Systemen eine mögliche Antwort auf den Hunger in der Welt und die zunehmenden klimatischen Herausforderungen zu haben, ließ den heute 43-Jährigen nicht mehr los. „Mir ist es wichtig, einen guten Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen“, sagt er in unserem Gespräch. „Oft sind wir Christen schnell im Dagegen-sein, dabei wäre es doch viel besser zu sagen: Wir haben hier einen positiven Beitrag und eine Antwort.“

2018 kam er mit einem anderen Visionär ins Gespräch: David Rösch. Er träumte von einer Ausbildungsstätte, die junge, geflüchtete Männer für einen Ausbildungsplatz vorbereitet und ihnen damit eine berufliche Perspektive in Deutschland gibt.

Aus dem Gespräch wuchs eine Kooperation mit Zukunftsperspektive. David Röschs Projekt [p3]-Werkstatt hatte die nötigen Ressourcen für den Bau erster Hydroponik-Anlagen, während Daniel Johansson über Kontakte ins Ausland verfügte, um Gemüseanbau-Projekte zu starten und Menschen im Bereich der Hydroponik zu schulen. Genau genommen sind es also sogar zwei Projekte, die ich hier besichtigen darf.

Innovative Möbelstücke

Als wir die Halle von [p3] betreten, herrscht eine ruhige aber gesellige Atmosphäre. Es duftet nach frischem Holz. Moderne Möbelstücke sind zu sehen. Dass hier Wert auf Qualität und Design gelegt wird, fällt auf. An der Wand wachsen Zimmerpflanzen in einem langen Rohr – ebenfalls eine Hydroponik-Anlage, wie ich später erfahre. Mittlerweile sind schon in mehreren Freiburger Restaurants Anlagen dieser Art zu bestaunen.

In drei Werkstätten für Holz, Elektrik und Metall werden hier Schüler unterrichtet. Einige arbeiten gerade hochkonzentriert an Holzaufbauten für Fahrräder, die diese zu einer mobilen Küche oder einem fahrbaren Infostand machen. Seit 2019 werden hier auch Hydroponik-Anlagen entwickelt, gebaut und vertrieben. Ohne große Werbung kommen immer wieder Anfragen von Schulen, Restaurants und Firmen, die Pflanzen auf diese Weise anbauen wollen. Auch nach den hydroponischen Möbelstücken, aus denen Kräuter oder Zimmerpflanzen wachsen, herrscht rege Nachfrage. Innovative, nachhaltige Produkte, geeint mit einem starken Fokus auf das Soziale, kennzeichnet die [p3]-Werkstatt und macht sie damit zum perfekten Partner für Daniels “Global Food Garden”.

Mittlerweile wohnt Daniel mit seiner Familie im Schweizerischen Oberdorf im Baselland und hat zahlreiche Projekte mitgeholfen umzusetzen – mit hydroponischen oder anderen Anlagen, die Gemüseanbau in trockenen Regionen ermöglichen. In Kenia beispielsweise entstanden aus einfachsten Mitteln sogenannte „Wicking Beds”. Unter diesen Hochbeeten zirkuliert Wasser unter einem Erde-Mist-Gemisch. Überschüssiges Wasser läuft zurück und wird erneut ins Beet gepumpt. Sie wurden zur lokalen Attraktion, als es darin selbst in der Trockenzeit grünte und blühte.

Auch in einem abgelegenen Küstendorf in Grönland ist der „Global Food Garden“ aktiv. Normalerweise wird frisches Gemüse hier ausschließlich aus dem Ausland angeliefert. Nun soll bald mit einer Indoor-Farming-Anlage Gemüse vor Ort produziert werden, sodass lange Transportwege entfallen und nebenbei Arbeitsplätze entstehen. Eine Pilotanlage ist gebaut und wird aktuell noch getestet.

Während der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass neben den großen Anlagen, die im Bau und der Vorbereitung sehr abhängig von der Begleitung des “Global Food Gardens” sind, noch einfachere und möglichst unabhängige Lösungen hilfreich wären. Also reduzierte man die nötige Technik auf ein Minimum, sodass sie nun in eine Kiste passt. Mithilfe einer kleinen Solaranlage mit Akku wird hier die Pumpe eines hydroponischen Systems betrieben, das eine Nährlösung in den Pflanzbereich pumpt, wo die Wurzeln sie aufnehmen können, bevor überschüssiges Wasser zurück in den Wasserspeicher fließt. Rund 400 Euro kostet eine solche „Africa Food Garden Box“, die etwa 400 Gemüsepflanzen bewässern kann und so eine Familie mit Nahrung und einem kleinen Einkommen versorgt.

Bei einem Projekt in Nigeria hat sich jedoch gezeigt, dass es mit innovativen Anbaumethoden allein noch nicht getan ist. Es stellen sich auch Fragen nach geeigneter Lagerung, Transport und Verkauf des Gemüses, damit dieses tatsächlich auch seinen Weg zu den Menschen findet. Deshalb muss der „Global Food Garden“ ein Netzwerk mit einer Vielzahl an Akteuren sein.

Ausbildungszentren überall

Als Daniel vor ein paar Jahren überlegte, wie ein Vision Statement für sein Leben aussehen würde, wurde ihm klar: „Wenn ich am Ende alles aus eigener Kraft erreicht habe, dann habe ich zu wenig groß geträumt oder geglaubt.“ Ihm ist wichtig, das, was er angeht, mit Gottvertrauen zu tun: „Ich möchte erleben, wovon die Bibel spricht, nämlich dass wir noch Größeres als Jesus vollbringen dürfen.“ Für seine Arbeit mit dem „Global Food Garden“ hat er dabei ein biblisches Vorbild: Josef aus dem Alten Testament, der mit Gottes Hilfe und der Fähigkeit und Weisheit, die er ihm anvertraute, das ganze Land mit Nahrung versorgte.

So sehr Daniel Teamplayer ist und innovative Ideen hat – die Entwicklung von Geschäftsideen und Business-Entwicklung waren ihm bislang fremd. Doch nach und nach und nicht ohne Zweifel und Rückschläge fuchste er sich in die Sache hinein: „Wenn man sich gebrauchen lässt, gehen Türen auf“, ist er überzeugt – und: „Wenn ich das kann, dann können das auch andere.“ Er träumt von Ausbildungszentren überall auf der Welt, in denen Modellprojekte der verschiedenen Systeme gezeigt und gelehrt werden, damit für jede Region das passende System vermittelt werden kann.

Zahlreiche Qualifikationen und Berufsfelder schweben ihm vor: Vom Gemüseanbau und der Fischzucht über den Bau und Betrieb von Gewächshaussystemen bis zur Saatgutherstellung oder Lebensmittelveredelung wäre vieles denkbar. Auch hier befruchten sich die beiden Projekte wieder. „Eigentlich haben wir hier in Freiburg mit der [p3]-Werkstatt schon so ein Ausbildungszentrum im Kleinformat“, sagt Daniel. Die Ausbildungserfahrung, die [p3] bei der Arbeit mit Geflüchteten sammelt, die teilweise wenig oder keine Schulbildung haben, ist hilfreich für Projekte in Ländern mit geringem Bildungsstand.

Dorothee Bühler de Arcos ist Lehrerin in Freiburg. Mehr zum Global Food Garden: globalfoodgarden.de
Mehr zum Projekt [p3]: p3-werkstatt.de

Das Unperfekthaus in Essen. Foto: Nathanael Ullmann

Pulsierend, kreativ, vielfältig: Das Unperfekthaus in Essen

Das Unperfekthaus in Essen bietet vielen Kreativen eine Spielwiese. Ob Business, Kunst oder Hobby – hier ist Platz für alle, die Räume suchen, um sich auszuprobieren. Ein Rundgang mit dem Gründer Reinhard Wiesemann.

Vor Gründer Reinhard Wiesemann steht eine Kaffeemühle. Das Schmuckstück ist eine echte Antiquität, aus Holz gebaut, mit kunstvollem Rad verziert. Doch statt Kaffeemehl produziert diese Mühle Licht. Obenauf steckt eine Glühbirne. In der Schublade findet sich der Schalter. „Die ist toll, was soll die kosten?“ „Ich wollte dafür 150 haben“, sagt Christoph Gropp. Er hat das Unikat gebaut. „Das ist viel zu wenig“, entgegnet Wiesemann. Und dann: „Ich kauf sie. Für 249,99 Euro.“ Der Bastler kann sein Glück kaum fassen. Erst, als er das Geld in den Händen hält, dämmert ihm, dass das Angebot kein Scherz war. Es sind solche Momente, in denen das Unperfekthaus sein volles Potenzial entfaltet.

Dass das Unperfekthaus in Essen, kurz UPH, ein außergewöhnlicher Ort ist, wird auf den ersten Blick deutlich. Umgeben von Prunkbauten wie der riesigen Mall und dem Firmensitz der Funke Mediengruppe wirkt es wie ein architektonischer Punk. Die fünfstöckige Fassade zieren Bilder von Abraham Lincoln, Joseph Beuys und anderen Persönlichkeiten. Vom Dach bis zum Boden biegt sich eine Murmelbahn. Das Konzept im Innern ist provozierend einfach: Das Haus ist voll mit Musikinstrumenten, Werkzeugen und Spielen. Die Gäste dürfen alles frei nutzen. Was sie in dem Haus anstellen, ist ihnen überlassen. Ob Kunst oder Business, Beruf oder Hobby, populär oder Nische – das ist egal.

Corona hat alles verändert

Reinhard Wiesemann ist der Vater dieser Idee. Gerade ist er auf Stippvisite in seinem eigenen Haus. Abends wird er hier einen Themenabend moderieren. Er steht in der Küche im Erdgeschoss und hält einen Plausch mit einem Mitarbeiter. Sein grüner Pulli und seine randlose Brille erinnern ein wenig an den unaufgeregt charmanten Stil eines Bill Gates. Der wahre Blickfang sind seine Augen: Stets spiegeln sie ein uneingeschränktes Interesse am Gegenüber und eine kindliche Freude am Austausch.

Nach ein paar Minuten in der Küche startet Wiesemann seinen Rundgang. Er hat noch nicht ganz die neonleuchtende Treppe zur ersten Etage erklommen, da macht er schon klar: Es ist viel passiert in den letzten Jahren des Unperfekthauses. „Ich habe gelernt, dass unperfekt heute etwas anderes bedeutet als 2004.“ Früher seien die Besucherinnen und Besucher vor allem handwerklich begabt gewesen, heute laufe vieles virtuell. Den Leuten komme es auch viel mehr auf eine schöne Atmosphäre an. Entsprechend hat sich das Haus über die Coronazeit angepasst. Die Veränderungen werden schon auf der ersten Etage mehr als deutlich.

Dort findet sich seit neuestem der UPH-Kunstladen. Aus der Fensterfront strahlt das Licht auf das Holz der Inneneinrichtung. An Haken und in Kisten warten ausgewählte Stücke auf Käuferinnen und Käufer: Kissen und Mützen, stets mit Kunstdrucken versehen, Gemälde, Postkarten. Inmitten dessen steht Sebastian Kentzler, der den Laden zusammen mit Susanne Kampling nebenberuflich führt, und sortiert ein paar T-Shirts. Wiesemann und er grüßen sich und wechseln ein paar warme Worte.

Angesprochen auf seinen Laden gerät er ins Schwärmen: Werke von 40 Kunstschaffenden biete der Kunstladen an, die meisten aus dem UPH selbst. Vor allem liebe er dabei den Gedanken, die weniger technikaffinen Künstlerinnen und Künstler zu unterstützen: „Sie hätten das alleine nie geschafft, ihre Kunst auf die Produkte zu bringen.“ Die im UPH ausgestellten Werke seien dabei nur ein Bruchteil dessen, was der Laden zu bieten habe. Der Fokus des Ladens liege im Online-Geschäft. Corona hat auch hier ein Zeichen gesetzt.

Hobbykeller de luxe

Wiesemann zieht weiter, in das Herzstück des Unperfekthauses. Konferenzräume finden sich hier, weitläufige Lounge-Flächen und Kunststände an den Seiten. Der Weg hinein führt an einer Schranke vorbei. Neun Euro kostet das „Basis-Clubticket“. Mit ihm können die Besuchenden alle Bereiche des Hauses erkunden, Kaffee und Softdrinks sind inklusive. Ob Menschen den Kreativen über die Schulter schauen wollen oder selbst aktiv werden, können sie selbst entscheiden. Möchte jemand hier dauerhaft eine Bleibe finden, stehen verschiedene Modelle zur Auswahl. Wer das UPH beispielsweise lediglich als Coworking-Space nutzt und sich nicht ins Haus einbringt, zahlt glatte 200 Euro im Monat. Wer selbst mit anpackt, für den ist die Miete deutlich günstiger.

„Die Innenstadt ist voller Orte, an denen man etwas kaufen kann. Das hier ist der einzige Ort, an dem man selbst etwas tun kann“, sagt Wiesemann. Die Idee zu dem Haus ist tief in seiner Kindheit verwurzelt. Der junge Reinhard hatte bei seinen Eltern einen Hobbykeller zur Verfügung. Hier bastelte er nach Herzenslust an Elektronik. Diese Experimentierfreude zahlte sich aus: Bei einem europaweitem Wettbewerb im Stile des heutigen „Jugend forscht“-Wettbewerbs gewann er in Deutschland den ersten, in Europa den zweiten Platz. Noch im Studium gründete er ein eigenes Technikunternehmen. Und das lief so gut, dass der Erfinder sein Studium nach sechs Semestern abbrach.

Mit dem UPH wollte er anderen Menschen das Gefühl seiner Kindheit zugänglich machen. Das Haus in Essen ist sein überdimensionierter Hobbykeller. Ehemals war das Gebäude ein Franziskanerkloster. Die verwinkelten Räume waren für das Vorhaben perfekt. 2004 kaufte Wiesemann das Haus. „Damals dachte ich noch: ‚Ich kaufe das jetzt, dann muss ich das renovieren, dann kommen die Kreativen ins Haus. Aber der Schlüssel war gerade übergeben, da waren die ersten Kreativen schon da. Es hat noch reingeregnet, da hatten wir hier schon unsere ersten Treffen.“ Seitdem ist das UPH ein fester Bestandteil des Ruhrgebiets.

Lounge statt Klosterzelle

Auf der zweiten Etage zeigt sich in voller Stärke, wie sich das Kreativhaus in den letzten Monaten verändert hat. Noch vor wenigen Jahren prägten vor allem die ehemaligen Klosterzellen das Gesamtbild. Von einem kleinen Raum ging es da zum nächsten. Mal standen die Besuchenden in einem kleinen Atelier, mal in einem Musikzimmer. Ruhrpottcharme, so nennt man hier diese urige Mischung: Alles wirkte ein wenig heruntergekommen, aber voller Liebe. Nach einem Umbau strahlt das Haus heute Weite aus. Nur wenige Räume zweigen im zweiten Obergeschoss noch von der Hauptfläche ab. Mitten im Loftbereich findet sich eine Leinwand. Im hinteren Teil stehen Stühle um einen Konferenztisch. Der Boden in Holzoptik strahlt Wärme aus. Die Möbel in kräftigen Farben könnten genauso gut in einem Szene-Café oder einem IKEA-Ausstellungsraum stehen.

Reinhard Wiesemann biegt vom Hauptraum der zweiten Etage ab, öffnet eine Tür – und plötzlich stehen wir in einem voll eingerichteten Bühnenraum. Auch der ist ein Novum. Rund eine halbe Million Euro hat der Umbau insgesamt gekostet, erzählt er. Die fast zweijährige Zwangspause durch Corona war dafür die optimale Zeit. Das Gesicht des Hauses hat sich gewandelt. Nur: Es fehlen die Menschen. Vor allem ist da Stille. 1.000 Künstlerinnen und Künstler beherbergte das UPH vor Corona. Jetzt sind es nach Angaben des Gründers gerade einmal 100 bis 150 Kunstschaffende.

Er vermutet, dass die neuen Räume den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern Angst machen, sich ohne Scheu auszuprobieren. „Aber wir sind nach wie vor das Unperfekthaus!“ Während er da in seinem neuen, leeren Bühnenraum steht, zieht Wiesemann einen Vergleich: Er frage sich, wie das wohl im Mittelalter gewesen sei. Heute empfänden wir eine natürliche Anziehung zu historischen Stadtzentren. Aber wie hätten die Menschen damals darauf reagiert, als all das neu war? „Vielleicht sagten die Menschen des Mittelalters auch: ‚Ih, ein Fachwerkhaus, ich sitze lieber weiter auf dem Lehmboden!‘“ Aus seinen Worten strahlt die Zuversicht, dass es nur Zeit braucht. Zeit, bis das Unperfekthaus zu einer neuen Blüte kommt.

Lampenkunst

Ein Vorgeschmack darauf findet sich in der dritten Etage. Hier ist das Reich der Nerds. Reihenweise 3D-Drucker surren nebeneinander her. In einer Ecke steht eine Miniatur des UPHs. Auf den Tischen stapeln sich Basteluntensilien. Die Decke zieren Planeten. Und inmitten dieses kreativen Chaos steht Christoph Gropp. Er ist der Tüftler, dem Reinhard Wiedemann wenige Minuten später seine Kaffeemühlen-Lampe abkaufen wird. Über eine persönliche Empfehlung sei er hier gelandet, als er auf der Suche nach Verkaufsmöglichkeiten für seine Lampen war, erzählt er. „Unperfekthaus hört sich gut an“, dachte er sich. Nun absolviert er hier einen Probemonat. Das gefällt ihm: „Hier kann ich machen, was ich will: sägen, schneiden …“ Und wie sich zeigt: auch seine Lampenkunst an Mann und Frau bringen. Wiesemann hört gespannt zu. Für ihn ist die Tour durchs Haus selbst eine Entdeckungsreise. „Hier passiert so viel, ich weiß selbst nicht über alles Bescheid“, gesteht er während seines Rundgangs.

Von der Technik-Etage wandert Reinhard Wiesemann ins Dachgeschoss. Dieser Bereich samt Bar und riesiger Dachterrasse wird gerne für Firmenfeiern und Hochzeiten gemietet. Willkommen ist hier jeder. „Nur, wer intolerant ist, den wollen wir hier nicht.“ Im Klartext: Einen Diskussionsabend mit der AfD würde man im UPH finden können, einen Propagandaabend nicht. Im Flur und Keller des Gebäudes, der letzten Station auf dem Rundgang, zeigt sich der alte Charme des UPH noch am stärksten. Große Graffiti-Malereien säumen das Treppenhaus. Im Keller hängen Rohre von der Decke, die Räume sind verwinkelt. Es riecht muffig. Und doch: In jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken. Hier eine Skulptur aus Schädeln, dort ein Spieletisch und in einem Hinterzimmer ein ganzes Fotostudio. Rund 70 Räume hat das UPH, schätzt Wiesemann. Die genaue Zahl, und das macht irgendwie den Zauber des UPH aus, weiß selbst der Erfinder nicht.

Am Abend hat der Gründer zu einer Diskussionsrunde geladen. „Hat Religion eine Zukunft?“ ist das Thema. Plötzlich ist das Obergeschoss voller Menschen. Das macht Hoffnung: Dass das Unperfekthaus bald wieder mit Leben gefüllt ist – und dem Coronavirus ein Schnippchen schlägt.

Nathanael Ullmann ist  Referent für Medien und Öffentlichkeitsarbeit eines Freikirchenbundes.

Weihnachten in der Nachbarschaft in Delmenhorst. Foto: Privat

Weihnachten auf die Straße bringen: Advent in der Nachbarschaft feiern

Gerade die Advents- und Weihnachtszeit bietet sich dafür an, gemeinsam mit der Nachbarschaft zu feiern, neue Leute kennenzulernen und das Fest lebendig werden zu lassen. So kann es gelingen.

Adventsbrunch

Nach ein paar Jahren in unserem neuen Zuhause in Delmenhorst hatte ich die Idee, zum Advent einen Frauen-Brunch zu veranstalten. Ich lud dazu Frauen ein, mit denen ich im Alltag immer wieder Berührungspunkte hatte (Nachbarinnen, Mütter von Mitschülern meiner Kinder, Babysitterin, Frauen aus der Gemeinde …). Tage vor dem Brunch begann ich mit der Deko, backte Kekse und Kuchen und organisierte, dass der Rest der Familie zu der Zeit woanders wäre.

Alle Gäste schienen sich über das Treffen zu freuen: Wir genossen einen ausgiebigen Brunch bei netten Gesprächen, sangen zusammen ein Lied, ich las eine kurze Geschichte vor und so verging die Zeit wie im Flug.

Corona durchkreuzte zwei Jahre lang meine Pläne, wieder einen solchen Brunch zu veranstalten, aber ich hoffe sehr, dass er dieses Jahr wieder stattfinden kann – die Einladungen dafür sind schon raus.

Baumstraßen-Weihnacht

In unserer Straße gibt es sehr viele Menschen, die in keine Kirche gehen. Im ersten Corona-Jahr hatten wir vor Weihnachten den Eindruck, dass es cool wäre, direkt etwas für unsere Nachbarn anzubieten. Bei Gesprächen sagten sie uns immer wieder, dass in diesem Jahr kein richtiges Weihnachten sein würde, weil sie durch Corona nicht einmal an Heiligabend zur Kirche gehen oder ihre Familien besuchen könnten. Da hatte ich die Idee, am 24.12. eine Corona-konforme Straßenweihnacht zu organisieren. Alle sollten dabei sein, vor allem die Älteren, die nicht mehr aus dem Haus gehen könnten. Nachdem wir das Okay vom Ordnungsamt bekommen hatten, waren Konzept und Durchführung eigentlich ganz einfach:

Am 6.12. verteilten wir als ganze Familie in unserer Straße in jeden Briefkasten eine Einladung mit zwei Weihnachtsliedern auf der Rückseite und einem kleinen Schokonikolaus daran. Am selben Abend bekamen wir schon Nachrichten von unseren Nachbarn, wie schön diese Idee sei und dass sie sich freuten.

Am 24.12. bauten wir dann am Nachmittag zwei Lautsprecherboxen, ein Mikro und viel schönes, buntes Licht auf, spielten schon ab 16 Uhr Weihnachts-CDs ab und warteten gespannt, ob sich die Nachbarschaft aus den Häusern bewegen würde.

Es war unglaublich, wie viele Gäste kamen: Einige ältere Menschen positionierten sich an ihren Fenstern, die Arme abgestützt auf der Fensterbank, einige schauten von ihren Vorgärten aus zu und viele Familien mit Kindern standen direkt vor unserem Haus, manche mit Kerzen in den Händen. Das war ein wirklich wunderschöner und rührender Anblick.

Nach einer kurzen, herzlichen Begrüßung sangen wir zusammen (mit Playback) ein Lied, ich las die Weihnachtsgeschichte aus der Kinderbibel vor, mein Mann Frank gab einen kurzen Impuls weiter und betete, wir sangen noch ein Lied und endeten nach ca. 20 Minuten.

Die Freude und Rührung der Nachbarschaft war groß und viele bedankten sich sehr herzlich bei uns für diese schöne Weihnachtseinstimmung. So war uns sofort klar, dass wir auch 2021 wieder eine Baumstraßen-Weihnacht durchführen würden.

Bis heute gibt es Menschen in unserer Straße die anhalten, wenn sie meinen Mann oder mich vor unserem Haus sehen und sagen, wie schön und berührend es an Heiligabend für sie war. Richtig Weihnachten, sagten viele und ein 70-jähriger Mann erzählte mit Tränen in den Augen, dass er das erste Mal in seinem Leben Weihnachten gefeiert hätte, weil seine Eltern das früher verboten hätten. Einsame und Alleinstehende haben sich gemeldet und waren so dankbar und berührt, an Weihnachten in der Straße bleiben zu können und trotzdem mit anderen Lieder zu singen.

Da wir auch für die Feier 2021 viel positives Feedback bekommen haben, soll die Baumstraßen-Weihnacht auch dieses Jahr wieder in unserer Straße stattfinden.

Kathrin Lederer ist Sozialpädagogin und lebt mit Familie in Delmenhorst (herzeltern.de).

Schokoladenweihnachtsmann. Symbolbild: Getty Images / AND-ONE / iStock / Getty Images Plus

Schokoweihnachtsmänner: Der harte Kampf um die Bohne

Der süße Vollmilch-Weihnachtsmann bekommt einen bitteren Beigeschmack, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen die Schokobohnen angebaut werden. Marie Gundlach berichtet, wie fairer Handel den Kakaobauern hilft.

Zartschmelzende Vollmilchschokolade – sie ist die Lieblingssorte der Deutschen. Bei einer Umfrage der Süßwarenindustrie zählte fast die Hälfte der Befragten sie zu ihren Favoriten. In der Hitliste folgen Nougat, Zartbitter und weiße Schokolade – und wir langen hierzulande gerne zu: Neunzig Tafeln verspeisen wir alle im Schnitt pro Jahr.

SCHON VOR 5000 JAHREN LECKER

Die wichtigste Zutat für eine gute Schokolade: der Kakao. Ursprünglich stammt die Pflanze aus Südamerika. In Ecuador fand man auf Keramikgefäßen aus Grabbeigaben 5300 Jahre alte Kakaorückstände. Die Bohnen wurden dort nicht nur zum Getränk verarbeitet, sondern auch wie Münzen verwendet. Heute wachsen Kakaopflanzen rund um den Äquator und die Bohnen für den weltweiten Schokoladenkonsum stammen überwiegend aus Westafrika.

Ihre Ernte ist nach wie vor Handarbeit: Die reifen Früchte müssen einzeln mit Messer oder Machete vom Baum geschlagen werden. Anschließend werden sie gespalten, die Bohnen mit ihrem weißen Fruchtfleisch herausgeschabt und ausgebreitet. Sie gären, werden braun und entwickeln dabei ihr Aroma.

Meist werden sie dann getrocknet und in Jutesäcken exportiert.

GENUSS MIT BITTERER NOTE

Obwohl in Ghana und an der Elfenbeinküste rund zwei Drittel des weltweiten Kakaos geerntet werden, leben die Kleinbauernfamilien überwiegend in Armut. Grund dafür ist vor allem die Struktur des Kakaoanbaus. Die Kleinbauern mit überschaubarem Landbesitz sind in einer schwachen Verhandlungsposition gegenüber den Großkonzernen aus Amerika und Europa. Die globalen Player diktieren den Kakaopreis – wer nicht mitzieht, bleibt auf seiner Ernte sitzen.

Auch sonst ist der Schokogenuss erheblich getrübt: Obwohl die Situation seit Langem bekannt ist, arbeiten noch immer rund 1,5 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen auf Kakaoplantagen in Westafrika, wie Zahlen der Universität Chicago belegen. Den Kindern wird dadurch nicht nur die Schulbildung und damit die Aussicht auf eine bessere Zukunft verwehrt, oftmals hantieren sie beispielsweise mit Macheten oder Pestiziden oder müssen schwere Lasten tragen. Das US-amerikanische Büro für internationale Arbeitsangelegenheiten stuft die Kakaoernte als eine der schlimmsten Arten von Kinderarbeit ein. Immer wieder werden Kinder hier auch Opfer von Menschenhändlern. Offiziell gehen die Regierungen in den Ländern zwar gegen diese Praktiken vor, in der Realität bleibt die Kinderarbeit aber oft ohne Folgen für die Verantwortlichen.

Neben den sozialen Aspekten leidet auch die Umwelt erheblich unter dem hohen Kakaokonsum der Weltbevölkerung. 1980 umfasste die jährliche Ernte noch 1,6 Millionen Tonnen, inzwischen hat sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Das bedeutet auch: Es braucht mehr Fläche für den Anbau. Dafür müssen vor allem Wälder weichen: In den Jahren 2001 bis 2014 hat Ghana etwa zehn Prozent seiner Waldfläche an die Landwirtschaft verloren – einen großen Teil davon für Kakao-Plantagen.

FAIRTRADE WÄCHST ERFREULICH

Andererseits geht es auf dem Schokoladenmarkt auch in eine erfreulich gute Richtung: Der Anteil von fair gehandeltem Kakao wächst jährlich und hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht. Gerade erst hat beispielsweise die belgische Marke Guylian den Kakao für ihre Pralinen in Form von Meeresfrüchten Fairtrade-zertifizieren lassen. Zwar ist bei 16 Prozent Marktanteil, den fair gehandelte Kakaobohnen auf dem Weltmarkt einnehmen, immer noch viel Luft nach oben, aber das Bewusstsein der Schokofans wächst und immer neue faire Sorten mit hippem Image und Design mischen den Markt auf.

Nelson Cruz ist Landwirt im westafrikanischen Inselstaat São Tomé, einem der ärmsten Länder weltweit. Auf seinem Feld baut er Kakaofrüchte an, die er als Mitglied einer Genossenschaft und zu Bedingungen des fairen Handels vermarktet. „Der Faire Handel hat das Leben der Menschen hier sehr verändert“, sagt Nelson Cruz. Früher war der Kakao-Anbau auf São Tomé verstaatlicht. Deshalb waren viele Menschen nur Feldarbeiter. Seit der Landreform vor rund dreißig Jahren sind sie nun Kleinbauern mit eigenem Landbesitz. Auf São Tomé haben sie sich 2009 zur CECAQ-11-Genossenschaft zusammengetan, um durch den Fairen Handel bessere Preise zu erzielen.

PERSPEKTIVE AUF BESSERUNG

„Wenn der faire Handel kommt, wandelt sich die Welt natürlich nicht gleich von schwarz in rosa. Die Lebensumstände sind noch sehr schwierig. Aber es gibt jetzt Perspektiven, dass es besser wird“, sagt Stephan Beck, Kakao-Experte der fairen Handelsorganisation GEPA. Seit 2010 arbeitet GEPA mit der Genossenschaft zusammen und hat sie auch bei Qualitätssteigerung und der Bio-Zertifizierung unterstützt: Auf Chemikalien wird verzichtet, die Wasser-Qualität wurde verbessert, Bäume wurden für eine bessere Ernte beschnitten und die Plantage durch neue Anpflanzungen verjüngt.

Für Nelson Cruz und seine über tausend Mitstreitenden in der Genossenschaft hat sich der Kakaopreis wesentlich verbessert, es wird mehr produziert und ohne Chemikalien fallen im Bio-Anbau gesundheitliche Probleme weg. Außerdem werden hier auf São Tomé die Bohnen gleich zu Bio-Trockenkakao weiterverarbeitet, was zu einem nochmals höheren Erlös führt. Der ermöglicht Bauern und Bäuerinnen all das, was für uns selbstverständlich ist: Sie können ihre Kinder zur Schule schicken, bekommen medizinische Versorgung und haben die Chance, Geld zurückzulegen.

SIEGEL: BEGLAUBIGTE FAIRNESS

Die positiven Beispiele des fairen Handels verdecken jedoch nicht das Unrecht, das weiterhin im Schokoladenhandel herrscht. Pro Euro, den eine Schokoladentafel bei uns kostet, erhalten die Erzeugerfamilien gerade einmal sechs Cent, wie das INKOTA-netzwerk vorrechnet. Der Verein setzt sich mit seiner Kampagne „Make chocolate fair!“ für ein menschenwürdiges Einkommen im Kakaohandel ein. Aus gutem Grund: Allein die fünf Konzerne Mars, Mondelēz, Nestlé, Ferrero und Hershey’s kontrollieren zusammen rund 60 Prozent des globalen Schokoladenmarktes. Auf der anderen Seite lebt die Mehrheit der 5,5 Millionen Kakaobäuerinnen und -bauern mit umgerechnet 191 US-Dollar durchschnittlichem Jahreseinkommen unterhalb der Armutsgrenze.

Selbst die Preise, die durch Fairhandels-Siegel zugesichert werden, reichten häufig nicht für ein menschenwürdiges Einkommen, kritisiert INKOTA. Dabei sollen sie eigentlich genau dafür stehen.

Damit ich als Verbraucherin besser beurteilen kann, wie die Tafel produziert wurde, verleihen unabhängige Organisationen Zertifikate für bestimmte Kriterien. Soziale Siegel zertifizieren bestimmte Arbeitsbedingungen, ökologische Siegel belegen einen umweltschonenden Anbau und Klima-Siegel stehen etwa für weniger Emissionen bei Transport und Verpackung. Kein Siegel kann alle Bereiche abdecken und so ist es nur logisch, dass viele Schokoladenproduzenten auf eine Kombination aus verschiedenen Siegeln setzen.

BREITERE VERFÜGBARKEIT

Zu den bekanntesten Zertifikaten zählt das Fairtrade-Siegel. Bei den stark schwankenden Weltmarktpreisen garantiert es einen Mindestpreis pro Tonne Kakao. Außerdem gibt es Prämien für Projekte in den Anbauländern und für die Produzenten direkt. Im Gegenzug müssen die Bauern und Bäuerinnen arbeitsrechtliche und ökologische Standards einhalten. Auch wenn die Höhe der Mindestpreise in der Kritik steht, spricht für dieses Siegel ein großes Plus: Mit vielen Produkten in Supermärkten und Discountern hat es ein breites Bewusstsein für das Anliegen des fairen Handels geschaffen und Produkte auf breiter Basis verfügbar gemacht.

Während es vor allem Erzeugnisse von Kleinbauernfamilien zertifiziert, können das Siegel der Rainforest Alliance (zu der nun auch UTZ gehört) auch große Plantagen erlangen. Es verspricht keinen Mindestpreis pro Tonne, sondern setzt vor allem auf Fortbildung in den Erzeugerländern, um Qualitätsverbesserung und dadurch ein höheres Einkommen zu erzielen. Ohne Mindestpreise garantiert dieses Siegel den Bauern und Bäuerinnen aber keinerlei Absicherung, wenn der Weltmarktpreis fällt. Aufgrund der laxeren Kriterien wird dem Siegel Greenwashing vorgeworfen. Es mag besser sein als gar nichts, ist aber schon dem Fairtrade-Siegel deutlich unterlegen

HÖHERE STANDARDS

Noch anspruchsvoller ist die GEPA, die aus dem Anliegen eines fairen Handels gegründet wurde und zu deren Unternehmensphilosophie weitaus höhere Standards als beim Fairtrade-Siegel gehören. Sie steht für enge Beziehungen zu ihren Partnern und Partnerinnen im Globalen Süden. Gerade erst hat sie ihren Mindestpreis erhöht und im vergangenen Jahr 52,5 Prozent über dem durchschnittlichen Weltmarktpreis bezahlt. Aber auch junge Marken wie Tony’s Chocolonely oder Nucao setzen bewusst auf die Nachhaltigkeit ihrer Produkte. Das Start-Up Fairafric hat einen ganz eigenen Ansatz gewählt: Während andere Firmen den Kakao importieren und in Europa weiterverarbeiten, produziert Fairafric seine Bio-Schokolade komplett in Ghana. Dadurch bleibt mehr Wertschöpfung im Land und Arbeitsplätze werden geschaffen.

Neben den Siegeln betreiben einige Schokoladenproduzenten auch eigene Initiativen. Ritter Sport etwa hat in Nicaragua eine eigene Plantage aufgebaut, um direkten Bezug zu den Angestellten und Einfluss auf Arbeitsbedingungen und Qualität zu haben. Laut Unternehmensangaben ist die Plantage als Mischkultur angelegt, um Biodiversität zu fördern und den Einsatz von Pestiziden zu verringern. Der Nachteil

Denen, die auf der Farm arbeiten, gehört kein eigenes Land, für das sie verantwortlich sind, sondern sie sind von Ritter Sport abhängig. Je nachdem wie das Unternehmen agiert, kann das ein Vor- oder Nachteil sein.

Auch andere Firmen haben ihre eigenen Projekte und Förderprogramme. Ohne Siegel werden diese allerdings nicht unabhängig überprüft. Als Kundin bin ich also auf die Angaben des Unternehmens angewiesen – und deren PR-Abteilung kann im Zweifel viel erzählen.

Der Wunsch nach ethisch und ökologisch produzierter Schokolade sei in den letzten 20 Jahren in Europa gewachsen, ist Gerrit Wiezoreck, Geschäftsführer des Bio-Schokoladenunternehmens EcoFinia überzeugt: “Der generelle Trend zur Nachhaltigkeit in Europa führt dazu, dass in den letzten fünf Jahren auch immer mehr konventionelle Hersteller und Discount-Marken mehr Fairtrade- und Bio-Schokolade rausbringen. Das ist erstmal eine sehr positive Entwicklung.”

PROTEST DER OSTERHASEN

Mit den individuellen Kaufentscheidungen für teurere, weil zu faireren Preisen produzierte Schokolade allein ist es jedoch nicht getan: Es müsse sich auch weltpolitisch einiges ändern, fordert INKOTA. Dass der Bundestag im Jahr 2021 ein Lieferkettengesetz beschlossen hat, ist ein guter Anfang. So sind die Unternehmen ab 2023 dafür verantwortlich, Menschenrechtsverletzungen in ihrer Lieferkette zu analysieren und zu bekämpfen. Allerdings greift das Gesetz vielen noch nicht weit genug. Wer von Menschenrechtsverletzungen betroffen ist, kann noch nicht vor deutschen Gerichten dagegen klagen, bemängelt INKOTA zum Beispiel. Das wäre aber wichtig, um das Gesetz auch wirklich konsequent durchzusetzen. Die marktbeherrschenden Konzerne müssen stärker in die Pflicht genommen werden.

In Ghana und an der Elfenbeinküste sorgt INKOTA schon dafür, dass sich Kakaobauern und -bäuerinnen vernetzen, Informationen weitergeben und dadurch ihre Verhandlungsbasis gegenüber den Konzernen stärken. Zu Ostern hat das Netzwerk eine Aktion organisiert, bei der Engagierte aus über 30 Gruppen als Osterhasen verkleidet mit Protest-Schildern durch Fußgängerzonen zogen. Passanten und Passantinnen sollten erfahren, wie viel Armut und Kinderarbeit in konventioneller Schokolade steckt. Zudem wurden Postkarten verteilt, die an die Unternehmen geschickt werden konnten. Die Vorlage für eine digitale Postkarte steht auf der INKOTA-Webseite zur Verfügung.

Ich finde, gerade bei einem Genussmittel wie Schokolade zählt Klasse statt Masse. Mir Billig-Schokolade auf der Zunge zergehen zu lassen, während ich weiß, dass womöglich Kinder dafür schuften mussten und die westafrikanischen Kleinbauernfamilien in Armut leben, klingt für mich einfach falsch. Existenzsichernde Löhne sind nicht alles, aber mit existenzsichernden Löhnen fängt alles an – damit in Zukunft das einzig Bittere am Kakao sein Geschmack ist.

Marie Gundlach studiert Datenjournalismus und hat während der Recherche eine neue Lieblingsschokolade entdeckt.

 

Eine belebte Einkaufsstraße. Symbolbild: Getty Images / William Barton / iStock / Getty Images Plus

Kirche und Konsum: Würde Jesus heute Markenjeans tragen?

Modernes Marketing ist darauf ausgelegt, Wünsche zu wecken, unabhängig davon, was wir wirklich brauchen. Konsum ist mittlerweile Selbstzweck. Doch das hat weitreichende Konsequenzen für uns  – und die gelebte Nächstenliebe. Eine Spurensuche von Pastor Matthias Voigt.

New York City, 1920er-Jahre. Edward Bernays war im Ersten Weltkrieg Propaganda-Offizier gewesen und hatte die US-amerikanische Bevölkerung darauf eingestimmt, in den Krieg einzutreten. Als der Krieg zu Ende war, überlegte er sich: Was in Kriegszeiten durch Propaganda funktioniert hatte, könnte man doch in Zeiten des Friedens für die Wirtschaft anwenden. Und er gründete in New York das erste PR-Büro.

Grüne Werbung

Eines Tages trat die Zigarettenfirma Lucky Strike an ihn heran. Lucky Strike hatte gerade ein neues Design entworfen und auf ihre Zigarettenschachteln drucken lassen. Es war grün. Das Problem war: Aufgrund der Farbe kauften vor allem Frauen diese Packungen nicht. Die Farbe war nicht angesagt, galt als unmodern und passte vor allem nicht zur Garderobe. Lucky Strike hatte eine Menge in das neue Design investiert, aber die Packungen wurden nicht gekauft.

Was tat Bernays? Er mietete das luxuriöse New Yorker Hotel Waldorf-Astoria und lud zu einem großen, opulenten Ball. Zum „grünen Ball“. Er beauftragte einflussreiche Designer, die an diesem Abend eine grüne Kollektion vorstellten. Alle Frauen trugen grüne Abendkleider und Bernays sorgte dafür, dass alle wichtigen Modejournalisten an diesem Abend anwesend waren.
Und was geschah? Alle Journalisten schrieben über diesen besonderen Ball. Grün wurde zur Modefarbe der nächsten Saison. Grün war in. Es war der Trend. Wer modisch vorne mit dabei sein wollte, trug Grün. Und wer hatte die passenden Zigaretten für diesen Trend? Lucky Strike. Und der Absatz ging durch die Decke.

Eier mit Speck

Edward Bernays war unglaublich erfolgreich und einflussreich mit seiner PR. Anderes Beispiel: Wir kennen Bacon and Eggs – Eier mit Speck – als das klassische amerikanische Frühstück. Als man sich immer mehr auf Toast mit Kaffee zum Frühstück beschränkte, engagierte ein Fleischproduzent Bernays. Und nachdem dieser eine Umfrage unter Ärzten veröffentlichen ließ, die ein reichhaltiges Frühstück empfahlen, stiegen die Verkaufszahlen des Fleischproduzenten rasant. Kaum jemand kennt seinen Namen, aber Bernays wurde vom Life Magazine zu einer der 100 einflussreichsten Personen des 20. Jahrhunderts gekürt.

Er war so erfolgreich, weil er eine Sache verstanden hatte und bewusst steuerte: Menschen kaufen nicht nur das, was sie brauchen oder ihnen nützt, sondern das, was ihnen ein gutes Gefühl gibt. Das, was eine Sehnsucht stillt. Unser Konsum ist von Sehnsüchten und Gefühlen stärker bestimmt als von unserem echten Bedarf.

Das ist auch hundert Jahre nach Bernays Erfindung von PR nicht anders. Herausforderungen mit Konsum und Besitz gibt es aber natürlich schon deutlich länger. Als Christ und Pastor interessiert mich, was wir von Jesus über den Umgang mit Konsum lernen können. Was hat Konsum mit unserem Inneren zu tun? Und wie sieht ein Lebensstil aus, der nicht von Konsum bestimmt ist?

Zwei Risiken des Konsums

Im Lukasevangelium wird uns von einer Begegnung mit Jesus berichtet. Als Jesus immer bekannter wurde, kamen immer wieder auch Menschen mit ihren Fragen und ihren Anliegen zu ihm. Es war damals üblich, dass man religiöse Lehrer auch zu solchen Angelegenheiten wie Finanzen befragte. Und so kommt jetzt ein Mann zu Jesus und will, dass er sich um seine Erbangelegenheit kümmert. Aber Jesus lehnt ab und benutzt stattdessen die Situation dafür, um allen Umstehenden eine Sache klarzumachen: „Lieber Mann, wer hat mich denn zum Richter über euch eingesetzt oder zum Vermittler in euren Erbangelegenheiten?“, fragt Jesus und wendet sich daraufhin an alle: „Nehmt euch in Acht! Hütet euch vor aller Habgier! Denn das Leben eines Menschen hängt nicht von seinem Wohlstand ab“ (Lukas 12,14-15).

Er spricht eine doppelte Warnung aus. Er sagt es gleich zweimal, um die Wichtigkeit klarzumachen: „Nehmt euch in Acht. Hütet euch.“ Hütet euch vor Habgier, also vor diesem Wunsch, dem Streben, immer mehr haben zu wollen.

Und dann folgt seine Begründung: „Denn das Leben eines Menschen hängt nicht von seinem Wohlstand ab.“ Das Leben ist nicht im Wohlstand zu finden. Echtes Leben findet sich nicht in Besitz, Geld oder Vermögen.

Und um den Punkt noch klarer zu machen, erzählt Jesus anschließend die Geschichte von einem Landwirt, dessen Land eine sehr gute Ernte gebracht hatte. Er überlegt: Was mache ich mit all meinem Reichtum? Er beschließt, all seine Scheunen abzureißen, um größere Scheunen zu bauen, und sagt sich: Wenn ich das alles fertig habe, wenn ich all diesen Reichtum gesammelt, gelagert, verstaut und angehäuft habe … dann werde ich Ruhe finden. Dann werde ich Freude haben am Leben.

Das gute Leben

Am Ende der Geschichte sagt Jesus, was Gott für ein Urteil über diesen Landwirt fällt: „Du Narr, noch in dieser Nacht wird dein Leben von dir zurückgefordert werden. Wem wird dann das gehören, was du angehäuft hast? … So geht es dem, der nur auf seinen Gewinn aus ist und nicht reich ist vor Gott“ (Lukas 22,20-22).

Was kritisiert Jesus hier? Nicht, dass der Mann viel hatte. Nicht, dass er reich war. Nicht, dass er überlegt, wie er es lagern soll. Sondern Jesus kritisiert zweierlei.

Erstens: Jesus nennt es dumm, töricht, kurzsichtig, wenn unser Fokus darauf liegt, mehr besitzen zu wollen. Wenn wir denken, dass wir darin Leben finden. Der Landwirt sagt: „Wenn ich das alles habe und gelagert habe, dann habe ich Ruhe, dann habe ich Freude. Dann kann ich leben.“ Er meint, dass er das gute Leben in seinem Besitz findet. In seinem Wohlstand. Seine Vorstellung ist: Wenn ich genug habe, dann habe ich das gute Leben. Aber Jesus sagt: Das Leben ist nicht in Besitz zu finden. Wahres und gutes Leben finden wir woanders.

Was hat das nun mit uns zu tun? Ich selbst bin nicht immun dagegen zu meinen, dass das gute Leben in Geld und Besitz zu finden ist. Ich bin jetzt 38 und bin gerne Pastor, aber ich habe in meinem Freundeskreis mehrere Leute, die gerade richtig in ihren Karrieren durchstarten. Projektmanager, Geschäftsführer, Firmengründer. Sie alle verdienen deutlich mehr als ich. Ich sehe die Häuser, die sie bauen, die Reisen, die sie unternehmen. Oder einfach, mit welchen Konsumgütern sie ihr Leben gestalten. Ich merke immer wieder, wie ich denke: Das wäre das wirklich gute Leben. Das ist das leichte Leben. Das bessere Leben.

Konsum als Lebensstil

Wir meinen oft, dass Leben eben doch in Besitz zu finden ist. Das ist kein Zufall. Denn diese Tendenz unseres Herzens wird ganz bewusst verstärkt vom – und hier kommt noch mal Edward Bernays ins Spiel – modernen Marketing. 1955, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Zeit des Wirtschaftsaufschwungs, hat der Ökonom und Analyst Victor Lebow Folgendes geschrieben: „Unsere so enorm produktive Wirtschaft verlangt es, dass wir Konsum zu unserem Lebensinhalt machen. Dass wir den Kauf und die Verwendung von Gütern zu Ritualen erheben, in denen wir unsere geistliche Zufriedenheit und die Befriedigung unseres Egos finden. Das führt dazu, dass Dinge immer schneller konsumiert und verbraucht werden, immer schneller veralten und ersetzt werden müssen.“

Damit unsere Wirtschaft funktioniert, muss Konsum ein Lebensstil werden, sagt Victor Lebow. Unser Lebensinhalt, von dem wir uns geistliche Zufriedenheit und Befriedigung unseres Egos erhoffen, also Status und innere Ruhe. Denn nur, wenn wir das in Konsum und Besitz finden wollen, kaufen wir immer Neues. Lebow zeigt auf, dass Konsum bewusst in die Mitte unseres Lebens gestellt wird. Dass wir bewusst unsere Hoffnungen auf den Konsum setzen sollen.

Konsumentengehirn

2017 hat ein interessanter Artikel aus dem ZEIT-Magazin beschrieben, welche Rolle Konsum in unserem Leben inzwischen eingenommen hat. Darin wird der Münchener Konsum- und Marketingforscher Hans-Georg Häusel zitiert: „Das Konsumentengehirn fragt weniger danach, ob wir etwas brauchen, als nach Belohnung. … Der Belohnungswert wird durch Marken nur noch gesteigert. Besonders Modeartikel haben immer diesen Belohnungscharakter, weil sie suggerieren, uns attraktiver zu machen. Mit anderen Worten: Wir kaufen, weil es sich gut anfühlt.“

Und weiter sagt Häusel: „Der Konsum ist an die Stelle traditionell sinnstiftender Institutionen wie Religion, Familie oder politische Ideologien getreten. Während Identität früher davon abhängig war, von wem man abstammte oder wie gottgefällig man lebte, bildet sie sich heute über die Dinge, die wir kaufen.“

In den Dingen, die wir kaufen, wollen wir Sinn finden, Wert, Identität. Anerkennung. Unser Konsum ist nicht von unserem Bedarf gesteuert, sondern richtet sich danach, was eine Sehnsucht in uns stillt: Ich fühle mich gut und wertvoll, weil ich mich mit meinem Style von der Masse abhebe. Ich weiß, ich bin okay, weil ich mir etwas Bestimmtes leisten kann. Ich hebe mich ab, weil ich weiß, wie man mit der richtigen Espresso-Maschine einen guten Flat White macht.

Was machen wir da? Wir suchen das gute Leben im Besitz. Durch unseren Konsum suchen wir Sinn und Leben. Wie der Landwirt. Wenn ich dieses oder jenes besitze, dann habe ich das gute Leben. Das ist das eine, was Materialismus mit uns macht.

Ich, Meiner, Mir, Mich

Die zweite Gefahr können wir ebenfalls bei dem Landwirt beobachten. Es ist extrem auffällig im griechischen Text, wie oft der Bauer die Personalpronomen ich, mein, mich verwendet. Meine Scheune, mein Getreide, meine Vorräte, meine Ernte.

Während damals sehr klar war, dass die Reichen eine Verantwortung für die Gesellschaft hatten und Teile ihrer Ernten verwenden sollten, um den Armen zu dienen, liegt sein Fokus komplett bei sich selbst. Und Gottes Urteil ist: „Du törichter Mensch. Wenn du heute Nacht stirbst, was hast du davon? Du bist nicht reich vor Gott.“ Du hast dich nur auf dich selbst fokussiert. Das ist der zweite Punkt, den der Materialismus bei uns bewirkt: Unser Blick ruht auf uns selbst und wir blenden die anderen zu einem Stück weit aus. „Ich, meiner, mich, mir – Gott segne uns vier.“

Weil unser Konsum uns bei dieser Sehnsucht nach dem guten Leben packt, laufen wir Gefahr, die Bedürfnisse von anderen auszublenden.

Ich will ein konkretes Beispiel dafür geben. Jeder, der sich schon mal ein bisschen mit der Modeindustrie beschäftigt hat, weiß, dass viele Kleidungsstücke unter äußerst schlechten Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Und viele von uns haben sich wahrscheinlich schon einmal vorgenommen, mehr teurere, nachhaltigere Marken zu kaufen. Warum scheitern wir mit diesem Vorsatz immer wieder?

Weil wir in dem Moment, in dem wir im Laden stehen und überlegen, ob wir jetzt wirklich 50 Euro mehr für die nachhaltig produzierte Jeans bezahlen, doch schnell unseren Geldbeutel und unseren Konsum mehr lieben als die Menschen, die unter der Produktion leiden. Weil die Verlockung, für das gleiche Geld mehr Kleidungsstücke zu bekommen, einfach zu groß ist. In dem Moment, in dem wir eingeschränkt werden, verlieren wir andere Menschen ziemlich schnell wieder aus dem Blick.

Wenn Materialismus uns dazu führt, das Leben im Besitz zu suchen und unseren Blick auf uns selbst verengt – was können wir dagegen tun?

Die Freiheit der Einfachheit

Jesus hat in seiner Geschichte mit dem Landwirt schon gezeigt, dass unsere Sterblichkeit uns eine neue Perspektive auf Besitz und Konsum geben kann. Passend dazu lesen wir im 1. Timotheusbrief: „Ein Leben in der Ehrfurcht vor Gott bringt tatsächlich großen Gewinn, vorausgesetzt, man kann sich – was den irdischen Besitz betrifft – mit Wenigem zufrieden geben. Oder haben wir etwas mitgebracht, als wir in diese Welt kamen? Nicht das Geringste! Und wir werden auch nichts mitnehmen können, wenn wir sie wieder verlassen. Wenn wir also Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen“ (1. Timotheus 6,5-8).

Paulus schreibt hier im Klartext: Wir haben nichts mit in diese Welt gebracht und werden auch nichts mitnehmen können. Ich las mal von einem Pastor, der eine sehr reiche Frau beerdigte. Er wurde von den Umstehenden gefragt: Wie viel hat sie hinterlassen? Woraufhin der Pastor antwortete: „Alles. Jeden einzelnen Cent.“

Mein Sohn hat während des Lockdowns Monopoly entdeckt und wir saßen zum Teil stundenlang auf dem Balkon und haben Monopoly gespielt. Wir haben eine Hamburg-Version und so haben wir um die Elbchaussee gekämpft, versucht, die große Freiheit zu vermeiden und uns darüber lustig gemacht, dass eine Übernachtung beim HSV so wenig kostet. Ich habe versucht, meinem Sohn das Geld aus der Tasche zu ziehen und er umgekehrt mir, und es galt: Wer am meisten hat, gewinnt. Aber am Ende des Spiels kommt alles wieder in die Schachtel. Und was bleibt, ist der Spaß und die Zeit, die er und ich zusammen hatten.

Mit leichtem Gepäck

Wir leben unser Leben immer wieder nach dem Grundsatz von Monopoly: Je mehr, desto besser. Wer am meisten hat, gewinnt. Aber „wenn das Spiel vorbei ist, kommt alles wieder in die Schachtel“, wie es der US-amerikanische Pastor John Ortberg einmal formuliert hat. Selbst wir landen da. Wir können nichts mitnehmen. Und Paulus ergänzt: Nehmt diese große, ewige Perspektive ein. Und lasst euren Umgang mit Besitz davon geprägt sein. Alles, was ihr habt, ist Reisegepäck. Und das bringt ihn dazu, uns zur Einfachheit zu ermutigen: „Wenn wir daher Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen.“

Er meint damit nicht, dass alle Christen arm sein sollten. Er meint, wenn wir nur das Mindeste haben, Kleidung und Nahrung, wollen wir es uns genügen lassen. Wir können selbst im Einfachen zufrieden sein. Als wichtigen Zusatz schreibt er in Vers 17: „Schärfe denen, die es in dieser Welt zu Reichtum gebracht haben, ein, nicht überheblich zu sein und ihre Hoffnung nicht auf etwas so Unbeständiges wie den Reichtum zu setzen, sondern auf Gott; denn Gott gibt uns alles, was wir brauchen, in reichem Maß und möchte, dass wir Freude daran haben.“

Bewusst etwas einfacher

Ich verstehe den Gott, von dem wir in der Bibel lesen, so: Er möchte, dass wir das, was wir haben, genießen. Dass wir Freude daran haben. Wie kommt das zusammen: Einfachheit und Genuss? Einfachheit heißt nicht Askese, sie bedeutet keinen negativen Blick auf Besitz. Oder dass man nichts haben darf, was Freude macht. Wir dürfen genießen, was Gott uns gibt. Aber auch mit einem einfachen Lebensstil zufrieden sein. Was heißt es dann, einen Lebensstil der Einfachheit zu leben?

Einfachheit sieht für jeden von uns anders aus. Gerade wenn wir unterschiedlich viel haben oder besitzen. Es gibt nicht den einen uniformierten Lebensentwurf, wie viel Besitz in Ordnung ist. Sondern: Einfachheit bedeutet, dass ich bewusst ein wenig einfacher lebe, als ich es mir eigentlich leisten könnte. Und das sieht für jeden von uns anders aus.

Ich lebe bewusst etwas einfacher, als ich es mir eigentlich leisten könnte. Aus zwei Gründen. Zum einen, um mir bewusst zu machen, dass mein Leben nicht im Besitz zu finden ist. Oder in mehr Gütern. Oder in mehr Luxus. Mein Leben liegt bei Gott, der mich versorgt. Einfachheit wirkt also dieser ersten Auswirkung des Materialismus entgegen.

Und ich lebe etwas einfacher, als ich könnte, um Geld zu haben, das ich großzügig weggeben kann. Das heißt, Einfachheit wirkt auch dem zweiten Symptom des Materialismus entgegen, diesem Blick nur auf uns selbst.

In der Bibel finden wir die Einladung, etwas einfacher zu leben, als wir es uns leisten könnten, um uns auf Gott auszurichten und andere zu lieben.

Lebensstil prüfen

Im Jahr 1980 kamen in London 85 Christen aus 27 Ländern im Rahmen der Lausanner Bewegung zusammen, einer weltweiten Bewegung von Christen aus unterschiedlichen Hintergründen und mit ganz unterschiedlichen finanziellen Mitteln. Die Hälfte dieser Leute kam aus dem globalen Süden. Vier Tage lang dachten sie intensiv darüber nach, wie ein Leben in Einfachheit aussehen kann. Und ich finde das Statement großartig, das sie am Ende verabschiedet haben. Hier ein Auszug daraus:

„Manche von uns sind dazu berufen, unter den Armen zu leben, andere dazu, ihre Häuser für Bedürftige zu öffnen. Aber wir alle sind entschlossen, einen einfacheren Lebensstil zu führen. Wir wollen unsere Einnahmen und Ausgaben nochmals prüfen, um mit weniger leben und mehr weggeben zu können. Wir stellen keine Regeln oder Gesetze auf, weder für uns noch für andere. Aber wir beschließen, auf Verschwendung und Extravaganz in unserem Lebensstil, unserer Kleidung, unseren Häusern, unseren Reisen und unseren Kirchengebäuden zu verzichten. Wir erkennen den Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Luxuriösen, zwischen kreativen Hobbys und leeren Statussymbolen, zwischen Bescheidenheit und Eitelkeit, zwischen großen Festen als Höhepunkte oder als normale Anlässe, zwischen dem Dienst für Gott und der Sklaverei durch Trends. Wo genau jeder diese Linie zieht, erfordert gewissenhaftes Nachdenken und Entscheidungen von uns selbst sowie die Unterstützung von anderen.“

Wie kann Einfachheit in unserem Leben aussehen? Wie können wir etwas einfacher leben, sodass wir uns dem Versprechen des Materialismus lösen, das besagt: Das gute Leben findet sich in Besitz? Was können wir diesem Versprechen entgegenstellen? Wie können wir einfacher leben, sodass wir mehr weggeben und anderen damit dienen können?

Ein Lebensstil der Einfachheit findet sein Vorbild sowie seine Motivation und Kraft in Jesus Christus. Jesus kam auf die Welt, wurde in einem Stall geboren und lebte so viel einfacher, als er es sich hätte leisten können. Um Gottes Liebe zu zeigen. Was wäre passiert, wenn Jesus nur sich selbst im Blick gehabt hätte? Was wäre passiert, wenn er das „gute Leben“ allein im Reichtum des Himmels gesehen hätte? Er ging in die Einfachheit – aus Liebe zu uns, aus Nächstenliebe. Könnten wir nicht seinem Beispiel folgen, den Blick von uns nehmen und in einen einfacheren Lebensstil investieren, um andere zu lieben?

Matthias Voigt ist Pastor Hamburg-Barmbek und arbeitet an seiner Doktorarbeit.

Jörg Zink. Foto: Dr. Matthias Morgenroth

„Sieh nach den Sternen – Gib acht auf die Gassen“: Zum 100. Geburtstag von Jörg Zink

Er war eine öffentliche Person mit einem breiten Verständnis für Schöpfung, christliche Spiritualität, politisches Handeln und zeitgemäße Sprache. Der große Theologe und Publizist Jörg Zink wäre am 22. November 100 Jahre alt geworden.

Geboren wird Jörg Zink auf einem „Bruderhof“, einer christlichen Gemeinschaft, deren Mitglieder ohne eigenen Besitz weitgehend nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden leben wollen. Seine Eltern haben sich einen Traum erfüllt, als sie den Habertshof im hessischen Bergland bei Schlüchtern gründeten. Der Erste Weltkrieg ist gerade vorbei und die kleine Gemeinschaft strebt nach „Frieden zwischen den Völkern“ und einem „behutsameren Umgang mit der Erde“, wie er selbst im Rückblick in seinen Memoiren „Sieh nach den Sternen – gib acht auf die Gassen“ schreibt.

Frieden in der Natur

Als Jörg Zink zwei Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Kurz nach ihrem Tod heiratet sein Vater erneut, stirbt aber kurz darauf ebenfalls, und der Junge wächst fortan mit seinen beiden älteren Brüdern, einem Stiefbruder und seiner Stiefmutter in Ulm auf. Obwohl er sich später nicht mehr an seine Eltern erinnern kann, finden sich zahllose Spuren des Traums seiner Eltern in seinem eigenen Leben wieder: Er gründet 1972 die „Haldenwiese“, einen Pferde- und Spielhof, auf dem Kinder mit und ohne Behinderung zusammen mit Pferden und anderen Tieren leben – und Zeit seines Lebens setzt auch er sich für Umweltschutz und Frieden ein.

Als Kind und Jugendlicher sei er, so beschreibt er sich später, eigensinnig, trotzig, „unhandlich“ gewesen. Inneren Frieden findet der Hitzkopf vor allem in der Natur. Regelmäßig flüchtet er allein oder mit seinem Stiefbruder auf die Schwäbische Alb, lebt von dem, was die Natur ihm schenkt und übernachtet unter freiem Himmel. Dort erlebt er auch innige Gottesbegegnungen. Ein Bibelvers aus Jeremia 17 wird ihm zum wichtigen Leitvers: „Gesegnet ist der Mann, der sich auf den Herrn verlässt und dessen Zuversicht der Herr ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt. Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte.“

Politisch aktiv

Jörg Zink nimmt diese Verse als Anleitung zur Bewältigung der „Aufgaben der Zukunft“. Er fordert seine Mitmenschen in seinen Büchern auf: „Es soll etwas von Frieden von euch ausgehen. Etwas von Hoffnung, etwas von neuen Anfängen, wo keiner mehr an neue Anfänge glaubt. Etwas von Zukunft, wo ganze Völker sich nur noch an ihrer Gegenwart festhalten können, weil sie sonst die Angst verschlingt. Es soll etwas von dem Gleichnis ‚Wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen‘ an euch sichtbar werden.“
Wie das konkret aussehen kann, macht Jörg Zink mit seinem eigenen Leben vor: Als Pfarrer und Medienschaffender setzt er sich für das ein, was seine Eltern ihm in die Wiege gelegt haben. Er wird bekannt: Über 100-mal spricht er das „Wort zum Sonntag“ und verfasst rund 200 Bücher. Als er feststellt, dass Jugendliche mit der Luthersprache nichts anfangen können, beginnt er in den 60er-Jahren, die Bibel neu zu übersetzen. Er veröffentlicht zudem geistliche Gedanken mit eigenen Fotos in kleinen Büchern, die zu seiner Bekanntheit beitragen. Bei ihm gehört vieles zusammen: das tiefe Fundament der Bibel, eine erfahrbare Spiritualität, ein Sinn für die Schönheit der Schöpfung und die politische Aktion, die bei ihm dazu führt, dass er sich bei der Gründung der Grünen mitengagiert.

Herrschaft der Reichen?

Beim Thema Gerechtigkeit geht Jörg Zink mit seinen Mitchristen hart ins Gericht: „Globale Gerechtigkeit? Es waren doch wohl nicht die Chinesen oder Inder, die seit fünfhundert Jahren mit ihren Kriegsflotten von Ufer zu Ufer gefahren sind, um die Reichtümer anderer Völker in ihrer Heimat anzuhäufen, bis am Ende die ärmsten der armen Völker sämtlich von ihnen abhängig waren? Ist das System der heutigen Wirtschaft nicht das vor allem von den Christen erfundene Mittel zu einer weltweiten Herrschaft der Reichen?“ Sein Ansatz zur Wiedergutmachung, zum Bessermachen, ist gleichzeitig simpel und unfassbar schwer: „Die Bergpredigt gibt die Richtung vor. […] Mit jedermann reden, auch mit dem, der an Gewalt glaubt, und zwar ohne Hass. Mit jedermann leben, auch mit denen, die Macht haben und an ihre Macht glauben, und zwar ohne Überheblichkeit. Aber sich von jedermann unterscheiden, der noch seine Hoffnung auf Macht und Gewalt setzt.“

Zum Ende des Kalten Krieges formiert sich in Deutschland eine Friedensbewegung unter dem Motto „Nie wieder Krieg“, die sich gegen die Wehrmacht, die Wiederbewaffnung Deutschlands und in letzter Konsequenz – und am Ende erfolglos – vor allem gegen die Stationierung atomarer Waffen in Mitteleuropa richtet. Ihren Höhepunkt erlebt sie im Oktober 1983, als sich zwischen Stuttgart und Ulm eine Menschenkette aus 1,3 Millionen Menschen bildet – darunter auch Jörg Zink. Er berichtet später: „In der Menschenkette stehend sahen wir uns Ordnungskräften des Landes gegenüber, die beauftragt waren, uns in Schranken zu halten und Gewalttaten zu verhindern. Als sie den Geist spürten, der bei uns herrschte, sagten viele unter den Polizisten: ‚Wenn ihr eure Kette nicht voll bekommt, stellen wir uns mit euch in eure Reihe.‘“ Worüber er sich wundert: In der Politik wird Gewalt stets mit Gewalt bekämpft. Doch was ist mit dem Bibelwort Jesu, in dem er sagt, dass das alte „Zahn um Zahn“ durch ihn überwunden wurde und stattdessen gilt: „Halte ihm auch noch die andere Wange hin“? Er sucht immer gemeinsam mit anderen nach neuen Wegen, um gewaltfrei auf Gewalt zu reagieren. Um auch bei Demonstrationen der Staatsgewalt gewaltfrei gegenübertreten zu können, gilt für ihn: „Wir lassen es nicht zu, dass in unseren Gedanken ein anderer Mensch zu unserem Feind wird.“

Hoffnung auf Wandel

Auch für Umweltschutz steht Jörg Zink mit Wort und Tat ein. Bereits Anfang der 80er-Jahre sagt er: „Wer auch nur mit halber Aufmerksamkeit verfolgt, was um ihn her geschieht, kann wissen, wie unerhört gefährdet die Lebensräume von Mensch, Tier und Pflanze auf diesem Planeten sind. Man kann wissen, dass es so nicht weitergehen darf, und handelt doch unverändert wie bisher. Man kann wissen, dass sich um des Lebens auf dieser Erde willen etwas ändern muss. Aber es ändert sich so gut wie nichts.“ Jahrzehntelang sieht sich Jörg Zink mit dieser Beobachtung allein in der christlichen Welt. Sieht denn niemand, was so offensichtlich um ihn herum geschieht?

Doch auch angesichts dieses frustrierenden Resümees stützt er sich auf den Dreiklang von Liebe, Glaube an den Wandel und Hoffnung. Die Bewahrung der Schöpfung muss für ihn mit Dankbarkeit begonnen werden, mit einer Liebeserklärung an die Schönheit der Erde: „Soll praktische Verantwortung etwas wirken und etwas wert sein, so muss ihr eine Liebeserklärung vorausgehen.“ Und auch für das Handeln der Christen auf Erden nimmt er die Liebe als Leitmodell: „Es gibt kein Rezept. Keine Methode. Keine Richtlinie. Die ordnende und tragende Kraft ist der Glaube. Die sichtbare Gestalt für das richtige Handeln ist die Liebe.“ Neben der Liebe ist sein zweites tragendes Wort für die Umweltbewegung der „Wandel“: „Was heute noch Macht ist, Status, Besitz oder Geltung, wird sich vielleicht doch auch in mir wandeln können in Wissen, Verstehen, Einfühlung, Empathie, Offenheit und Bereitschaft zum Verzicht.“

Und was zum Schluss bleibt, ist für ihn die Hoffnung: „Wer etwas weiß vom Geist Gottes, der geht wacher durch die politische Landschaft, der erwartet noch freie Wege, wo alles in Sackgassen zu enden scheint. Der gibt die Hoffnung nicht auf und auch nicht die Arbeit an der Zukunft. Der geht auch durch sein eigenes Leben aufmerksamer, dankbarer, sensibler. Zum Staunen fähiger. Zum Verzicht bereiter. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“

Am 9. September 2016 stirbt Jörg Zink im Alter von 93 Jahren in seinem Haus in Stuttgart.

Catharina Bihr ist Bildungsreferentin und wohnt in Stuttgart. Die Zitate von Jörg Zink stammen aus folgenden Büchern: „Sieh nach den Sternen – gib acht auf die Gassen“, „Kostbare Erde: Biblische Reden über unseren Umgang mit der Schöpfung“ (beide Kreuz), Matthias Morgenroth: „Jörg Zink – eine Biographie“ (Gütersloher Verlagshaus), Eine Webseite erinnert an ihn: joerg-zink.de

Familie sortiert Müll zum recyclen. Symbolbild: Getty Images / ArtMarie / Getty Images / E+

Bio-Siegel im Plastikbecher? Wie eine Familie versucht, nachhaltig zu leben

Alles fing mit dem Müll an: Annika berichtet, wie sie mit ihrer fünfköpfigen Familie begann, nachhaltig zu leben und dass ihre Kinder auswärts trotzdem eine Bratwurst essen dürfen.

Jeden Monat, wenn ich unsere vollen gelben Säcke an die Straße stelle, muss ich an eine gute Freundin denken, die mir eigentlich sehr ähnlich ist. Was uns unterscheidet: die Menge des Verpackungsmülls, den unsere Familien im Laufe von vier Wochen produzieren. Während ich drei pralle Säcke – geschickt geschichtet – über den Hof trage, ist es bei ihr ein einziger. Bewundernswert! Würden wir den Inhalt unserer Säcke vergleichen, könnten wir lange über Kaufentscheidungen und Kompromisse, Überzeugungen und Ausnahmen philosophieren.

Woran misst sich ein erfolgreich nachhaltiges Leben? Sicher nicht allein an der Menge des Plastikmülls. Aber mit der Müllfrage begann unser eigener Weg als fünfköpfige Familie. Mein Mann erzählte eines Tages von einer Frau, die doch tatsächlich nur ein Schraubglas Restmüll pro Jahr produziere. Das konnte doch wohl nicht mit rechten Dingen zugehen? Doch tatsächlich: Es gab schon eine weltweite Zero-Waste-Bewegung. Davon angefixt begannen wir, unsere Küche mit kritischen Augen zu betrachten: so viel unschönes Plastik, das aus Erdöl besteht, Giftstoffe enthält und erst in Hunderten Jahren verrottet! Unser Ehrgeiz war geweckt.

Was kann man eigentlich in Großpackungen kaufen oder gleich unverpackt? Die Realität brachte ernüchternde Erkenntnisse mit sich: Krass, wie teuer Unverpacktläden sind! Wir probierten ein paar der Tausenden Rezepte und DIY-Ideen für selbstgemachtes Waschmittel aus – und hatten immer noch dreckige Kleidung. Doch wir verzeichneten auch Erfolge: Feste Seife gibt’s nun nicht mehr nur bei Oma auf dem Klo, die funktioniert auch bei uns. Brötchen bekommt man im eigenen Stoffbeutel ausgehändigt, wenn man lieb fragt. Den kaputten Fön kann man sogar reparieren, der muss gar nicht weg.

IMMER MEHR FRAGEN

Einmal angefangen, ließen sich die Fragen gar nicht abstellen: Gibt es auch Leuchtstoffröhren mit LED? (Ja!) Wollen wir, dass für unser Schnitzel der Regenwald abgeholzt wird? (Nein!) Brauche ich wirklich dieses neue Oberteil? (Dieses nicht, ich suche lieber eins bei Ebay-Kleinanzeigen.)

Wo investiert meine Bank eigentlich ihr Geld? (Das muss ich mal recherchieren.) Nützt es, Petitionen zu unterschreiben, Dinge gebraucht zu kaufen – und wie minimalistisch kann man mit Kindern leben? (Wenn wir es nicht ausprobieren, werden wir es wohl nie erfahren …).

Mit einem Reigen solcher Fragen begann unser Weg, den wir bis heute gemeinsam überzeugt und neugierig gehen. Zugegeben: Zwischendurch verlieren wir immer mal wieder den Glauben daran, irgendwas ausrichten zu können. Aber inzwischen wissen wir: Das geht vielen anderen genauso und gehört wohl zu diesem Weg dazu.

MEIST GEBRAUCHT, SELTEN NEU

Mittlerweile kaufen wir eigentlich (fast) alles gebraucht. Aus ökologischen wie finanziellen Gründen. Wenn unsere Jungs Wünsche haben, schlagen sie schon von sich aus vor, wir könnten doch mal nach einer Ebay-Anzeige gucken. Unsere Kinder sind in einem Alter, in dem sie noch dankbar anziehen, was der Postbote ihnen von unseren Gebraucht-Käufen so bringt. Die Auswahl an passenden, bezahlbaren und gleichzeitig modischen Stücken ist schier riesig. Bei uns selbst sieht das schon anders aus. Die größte Herausforderung sind da gut sitzende Hosen. Ich kenne inzwischen die Markenjeans in der richtigen Größe, die mir passen und die ich gebraucht finde. Für meinen Mann sind gebrauchte Hosen eher ein Glücksspiel, sodass er gern mit dem Argument um die Ecke kam, man müsse doch auch die hippen nachhaltigen Modelabel unterstützen. Aber als wir feststellten, dass man für deren Jeans dreistellige Beträge ausgeben muss, winkten wir ab.

Manchmal entscheiden wir uns auch für neue Stücke. Fürs dritte Kind gabs doch nochmal einen neuen Autositz – der kann schließlich in der Familie noch weitergegeben werden. Einen Buggy haben wir gleich mitgenommen – toll, wie klein man ihn zusammenklappen kann. Nochmal die Stoffwindeln rausholen? War uns inzwischen viel zu stressig. Als wir dringend mal wieder tiefe Teller brauchten, schien sich der Kleinanzeigenmarkt auf entrümpelte Waren aus Seniorenwohnungen konzentriert zu haben. Und mein Mann – Herr unserer Küche – möchte sich bei Küchenmaschine, Pfanne und Co. gerne auf die Herstellergarantie verlassen.

Und damit sind wir schon beim Einkaufsdilemma. Hier kann jeder ein Wörtchen mitreden, der schonmal mit einer Einkaufsliste einen Supermarkt betreten hat. Deutsche Äpfel aus dem Kühlhaus oder die aus Neuseeland? Bio-Gurke eingeschweißt oder konventionell unverpackt? Joghurt im Pfandglas oder Bio-Qualität im Becher? Konsumfragen für Fortgeschrittene: Ist beim Pflanzendrink die Verpackung egal, weil für ihn weniger CO2 produziert wird als für Kuhmilch? Wie regional muss meine Glaspfandflasche wiederbefüllt werden, um klimaneutral zu sein? Welches Bio-Siegel unterstützt zugleich kleinbäuerliche Strukturen?

Ich glaube, es gibt kein Richtig oder Falsch, sondern allenfalls ein Besser oder Für-heute-gut-genug. Wichtig ist uns in all dem zu fragen: Welche Ziele verfolgen wir? Was passt zu uns als Familie, zu unseren Möglichkeiten, zu unserer Zeit, zu unserem Geldbeutel? Wo machen wir (noch) Abstriche und was könnte ein nächster Schritt sein?

KINDER MIT INS BOOT HOLEN

Regelmäßig packt mein Mann dann also nach dem Einkaufen alle gut durchdachten Kaufentscheidungen in unseren alten Verbrenner und fährt den einen Kilometer nach Hause. Ja, den Fahrradanhänger hätte er auch nehmen können. Dann hätten wir aber die Babyschale ausbauen müssen und es war außerdem schon spät und … da sind sie dann, die Anmerkungen unseres ökologischen Gewissens. So sehr wir uns bemühen, der perfekte Lebensstil liegt in weiter Ferne. Neulich haben wir mit unserer Großfamilie ein Wochenende im Allgäu verbracht, weniger als drei Stunden entfernt. Wir hatten eine wunderschöne Zeit und fragten die Jungs auf der Heimfahrt, wie sie den Urlaub fanden. „Nicht so gut“, antwortete der Fünfjährige, „weil so viel Autofahren die Erde kaputt macht.“ Ups.

Wir bemühen uns, so wenig Auto zu fahren wie möglich, aber nach wie vor besitzen wir eins. Die täglichen Fahrten zur Arbeit, in die Schule und zum Kindergarten erledigen wir mit dem Rad. Die drei Kilometer Schulweg legt unser Großer ebenfalls mit seinem neuen Rad zurück. Ein gebrauchtes wäre billiger gewesen. Die Entscheidung fiel dann aber nicht nur wegen des geringen Angebots auf ein Neues, sondern vor allem, weil es möglichst leicht und genau passend für ihn sein sollte. Wir finden: Wenn die Kinder unsere Mobilitätsentscheidungen gerne mittragen sollen, müssen wir es ihnen auch leicht machen. So fördern wir nicht nur das Verständnis für ökologische Zusammenhänge und die Folgen unserer Entscheidungen, sondern erhoffen uns auch langfristige Nachahmer. Für alle Bereiche unseres Familienalltags gilt: Wir müssen unsere Kinder mit ins Boot holen.

WAS AUF DEM TELLER LANDET

Das gilt im Besonderen auch für unsere Ernährungsform. Wir bezeichnen uns als „Heimveganer“. Wo wir die Möglichkeiten haben, selbst zu bestimmen, essen wir aus Klimaschutz- und Tierwohlgründen vegan. Das hat sich zunächst sehr revolutionär angefühlt und wir haben viel Zeit damit verbracht, über Nährstoffe und Rezeptideen zu sprechen. Ein Jahr später muss ich wirklich nachdenken, was ich überhaupt noch mit Fleisch zubereiten würde. Skeptischen Lesern und Leserinnen kann ich versichern, dass alle unsere Blutwerte passen und unsere Kinderärztin Bescheid weiß. Unsere Kinder verstehen, warum wir daheim vegan essen und können gute Gründe dafür aufzählen. Oft sind sie auch stolz darauf. Aber bei Oma wünschen sie sich immer die Pfannkuchen mit ganz viel Ei und wenn wir zum Grillen eingeladen sind, ziehen die Würstchen sie magisch an. Die Nachbarinnen versorgen sie regelmäßig mit Vollmilchschokolade und wenn sie unbedingt Scheibenkäse essen wollen, kaufen wir ihnen ein veganes Ersatzprodukt, das wir sonst nicht im Haus hätten. Wir müssen nicht vollkommen leben und lieber besuchen wir Freunde, die für uns vegetarisch kochen, als dass wir nicht eingeladen werden. Wir werden mit unserem klimabewussten Familienleben nicht die Welt retten und es gibt Entscheidungen, die treffen wir bewusst nicht nachhaltig, denn Nachhaltigkeit soll nicht unsere Religion sein.

CRISTLICHER GLAUBE ALS ANTRIEB

Würde Jesus heute vegan leben? Bei Klimakrise und Artensterben? Das ist eine spannende Frage, die wir uns nicht zu beantworten trauen. Vielleicht würde er auch heute die Fische essen, die er selbst gefangen hat – so wie damals? Wer weiß? Unsere Entscheidungen auf dem Weg in möglichst große Nachhaltigkeit sind zumindest immer auch von unserem Glauben motiviert. Als Christen möchten wir unser Handeln nach biblischen Grundsätzen ausrichten. Die Bibel berichtet davon, dass Gott, direkt nachdem er Adam und Eva in den Garten Eden gesetzt hat, sie segnet und ihnen den Auftrag gibt, die Schöpfung zu bewahren. Leider sehe ich nur in wenigen christlichen Gemeinden, dass das Thema wirklich auf der Agenda steht. Sollten Christen hier nicht eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen? Warum stehen Christen nicht in der ersten Reihe, wenn es um aktiven Klimaschutz geht? Wir als Familie fühlen uns durch all unsere Erfahrungen und hinzugewonnenen Erkenntnisse der letzten Jahre dazu berufen, unsere Verantwortung wahrzunehmen und Gottes wunderbare Schöpfung zu bewahren. Wir glauben, dass sich Gott auf vielerlei Weise bemerkbar macht. Die Art und Weise, wie wir auch unsere alltäglichen Entscheidungen treffen, soll unsere Wertschätzung gegenüber Gottes Fürsorge widerspiegeln.

Wo der Weg hingeht und welche Aufgaben uns – auch in unseren Berufen als Erzieher und Lehrerin – noch mitgegeben werden, wissen wir nicht. Wir sind zumindest schonmal einer Partei beigetreten und versuchen, unsere Kommune in dieser Hinsicht mitzugestalten. Und wenn wir wegen der Auswirkungen der Klimakrise mal wieder sehr niedergeschlagen sind, sehnen wir uns nach der perfekten Erde, die in der Bibel versprochen wird. Das schenkt uns Hoffnung und immer wieder die Zuversicht, dass die kleinen Schritte, die wir tun, nicht vergeblich sind.

Annika S. ist Grundschullehrerin. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.

Familie beim Waldspaziergang im Herbst - Symbolbild: Getty Images / monkeybusinessimages / iStock / Getty Images Plus

Auszeit am Sonntag – Zeit für Ruhe und bleibende Momente

In einer Zeit von Stress und Hektik kommt man kaum zum Durchatmen. Christina Schöffler entdeckt den Sonntag – oder den jüdischen Schabbat – als Möglichkeit, sich zu besinnen und schöne Erinnerungen als Familie zu schaffen.

An diesem Sonntag hatten wir nichts Großes geplant. Wir wollten uns einfach mit Freunden treffen, eine Runde auf einem Waldweg spazieren gehen und dann gemeinsam picknicken. Als wir am Wanderparkplatz ankamen, mussten wir feststellen, dass an diesem ersten richtig schönen Frühlingstag des Jahres scheinbar alle Leute in unserer Umgebung dieselbe Idee hatten wie wir. Spontan änderten wir unsere Pläne. Ganz in der Nähe besitzt meine Schwiegermutter ein kleines „Stückle“ Wiese, auf dem eine Reihe Apfelbäume steht. Einmal im Jahr kommen wir hier als Familie zusammen, um die Äpfel zu ernten. Dieses Stück Land, das ich bisher wegen den matschigen Äpfeln am Boden nur mit Gummistiefeln betreten hatte, bedeutete vor allem eins für mich: Arbeit! Nun fuhren wir also, mangels Alternative und mit gedämpften Erwartungen, den holprigen Weg zur Apfelwiese. Gemeinsam mit den Freunden trugen wir unsere Picknickkörbe zu der grob gezimmerten Bank, die mein Schwiegervater vor langer Zeit hier aufgestellt hatte. Die Kinder tobten wie die jungen Hunde über die weiten Felder vor uns, während wir auf einem behelfsmäßigen Tisch – einem alten Baumstumpf – unsere Schätze ausbreiteten.

ÜBERWÄLTIGT VON SCHÖNHEIT

Dann saßen wir unter den schattigen Bäumen, tranken unseren Kaffee, ließen den Blick über die weiten Wiesen vor uns schweifen, und ich war überwältigt von der Schönheit, die uns umgab. Die sanften Hügel am Horizont, die alten knorrigen Bäume und die verschlungenen Wege über die Felder. Außer dem Summen der Bienen und dem leisen gluckernden Bach war nichts zu hören. Wir atmeten Ruhe. Und Frieden. (Wir waren mit der Art von Freunden unterwegs, mit denen man wunderbar reden und ebenso wunderbar schweigen kann.) Irgendwann holte der Freund seine Gitarre und wir sangen ein paar Lieder zur Ehre Gottes, und es war, als würden wir einfach mit einstimmen in die Schöpfung, die Gott mit Psalmen lobte. So! Genau so fühlt sich ein perfekter Sonntag an, dachte ich bei mir. So kann es sein, wenn die Erde uns zum Ausruhen einlädt und nicht zur Arbeit. Dann nehmen wir ihre ganze Schönheit wahr.

Erst als sich die Sonne auf den Weg hinter die Hügel machte und dabei ihre warmen Strahlen über der Landschaft ausgoss, machten wir uns widerstrebend auf den Heimweg. Wir fuhren mit offenen Fenstern über die ruhige Straße und hielten unsere Gesichter dem erfrischenden Fahrtwind entgegen. Dem Kind fielen schon die Augen zu, aber ein glückliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Vielleicht träumt er schon. Von diesem besonderen Sonnen-Sonntag seiner Kindheit.

AUSZEIT – DAS LEBEN ENTSCHLEUNIGEN

Seit Jahren lese, höre und inhaliere ich alles, was ich zum Thema „Ruhe“ finden kann. Und dabei bin ich auch irgendwann beim Sonntag gelandet, inklusive der Beschäftigung mit dem jüdischen Schabbat. Das war ein wichtiger Richtungsweiser für mich! Am Anfang stand die pure Verzweiflung. Ein emotionaler Zusammenbruch auf unserem alten Sofa, neben meinem Mann sitzend, an einem Sonntagabend (Gott sei Dank habe ich einen sehr ruhigen und entspannten Mann!), bei dem ich ausrief: „So kann es nicht weitergehen! An unseren Sonntagen muss sich etwas ändern! Die Woche hat noch nicht mal angefangen, und ich bin schon völlig fertig!“ Das ist nun schon einige Jahre her. Und seither versuchen wir – in Babyschritten! –, den Sonntag zu heiligen und unser Leben zu entschleunigen.

Dabei habe ich auch gelernt: Viele Gesänge und Gebete drehen sich am Schabbat um die Schönheit der Schöpfung. Marva Dawn schreibt in ihrem Buch „Keeping the Sabbath Wholly“, dass unser Herz sich nach Schönheit sehnt und dass der Schabbat ein wunderbarer Tag dafür ist, sich an der Schöpfung zu freuen und dadurch in unserer Liebe für den großen Meister-Designer und Künstler zu wachsen. Ihre schönste Sonntagserinnerung ist, wie sie mit ihren Eltern und Geschwistern kleine Wanderungen durch den Herbstwald in Ohio unternommen hat: „Meine sonst so beschäftigten Eltern entspannten sich sichtbar in der schönen Natur. Sie bewunderten gemeinsam die Färbung der Blätter. In meiner Erinnerung wurde dieser Ausflug Jahr für Jahr noch schöner … Familienerinnerungen von glücklich verbrachter gemeinsamer Schabbat-Zeit sind wie ein Erbe, das wir unseren Kindern weitergeben. Sie werden ihnen nicht nur dabei helfen, ihren eigenen Schabbat auf gute Weise zu halten, wenn sie erwachsen sind, sondern sie werden an diesem Tag auch glückliche Kindheitserinnerungen haben.“

Das könnte immer mal wieder eine Frage für unseren Sonntag sein: Welche schöne Erinnerung will ich heute für meine Familie, für meine Freunde oder für mich ganz alleine schaffen?

SONNTAGSERINNERUNG

• Ausgebreitete Landkarten auf dem Wohnzimmertisch.
• Vesper-Rucksack von Papa.
• Mama, die über die Schranke zum Waldweg hüpft.
• Schilfgras flechten und Rindenschiffchen bauen.
• Im Waldsee baden. (Irgendwann hören, dass es dort
Wasserschlangen gibt und nie wieder im Waldsee baden!)
• Einkehren und Pommes mit Ketchup auf dem Teller.
• Blätter sammeln und abends im großen Fotoalbum
pressen.
• Heidelbeeren mit Zucker und Milch.
• Wilder Feldblumenstrauß auf dem Tisch.
• Gänseblümchen im Garten gießen.
• Warme Erde unter den Fingernägeln.
• Abendsonne, die hinter den Bergen verschwindet.
• Ins Bett tragen lassen.

Christina Schöffler ist Autorin und lebt mit ihrer Familie im Süden Deutschlands. Der Artikel ist ein Vorabdruck aus ihrem neuen Buch „Slow Living – Aus der Ruhe leben“, das im September bei Gerth Medien erschienen ist und 52 Impulse für Sonntags-Entdecker bietet.

Klima-Aktivistin Vanessa Nakate: So tickt die „Greta Afrikas“

In Afrika schlägt die Klimakrise massiv zu, aber niemand spricht darüber. Vanessa Nakate streikt für mehr Klimagerechtigkeit, tritt für Afrika ein und kämpft dafür, dass das Leid der Menschen gesehen wird. Ein Porträt von Anja Schäfer.

Manche nennen sie die „Greta Afrikas“, weil sie für Klimagerechtigkeit streikt und ihre Stimme erhebt. Doch den Vergleich mit der schwedischen Klima-Aktivistin hat Vanessa Nakate längst nicht mehr nötig.

„Als ich klein war, war ich ein sehr schüchternes und ängstliches Mädchen. Aber ich hörte, wie mein Vater und andere über den Regen sprachen.“ So begann Vanessa Nakate ihre Rede Ende Juni in Hamburg, als sie den Helmut-Schmidt-Zukunftspreis überreicht bekam. Seit Januar 2019 demonstriert die 25-jährige Absolventin eines BWL-Studiums für mehr Klimabewusstsein in ihrer Heimat Uganda, wo das Wissen über die Klimakrise häufig dürftig ist. Und für Klimagerechtigkeit. Unter dem Slogan „Show us the money“ erinnert sie an zugesagte Hilfen der Industriestaaten, die mit ihren Emissionen für die Klimakrise verantwortlich sind.

Dürre und Flut – der Regen in Uganda

Sie spricht und schreibt über den Regen, denn er verändert Uganda. Entweder weil er ausbleibt oder weil er zu Überschwemmungen führt. „Die Menschen in Afrika leiden schon jetzt unter einigen der brutalsten Auswirkungen der Klimakrise – dabei ist der gesamte afrikanische Kontinent für weniger als vier Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich“, erklärte sie in ihrer Rede.

Das Jahr 2018 war in Ostafrika von heftigen Wetterereignissen gezeichnet. Eine halbe Million Menschen waren betroffen: von massiven Überflutungen, zerstörten Ernten, ertrunkenen Ziegen und Kühen. 12.000 Menschen verloren ihre Häuser in Erdrutschen. In anderen Regionen hingegen blieb der Regen aus, nun schon das zweite Jahr in Folge.

„Wir müssen etwas unternehmen!“

Als Vanessa sich nach Abschluss ihres Studiums mit den Themen näher beschäftigt, ist sie entsetzt, wie wenig in ihrem Land über die Zusammenhänge bekannt ist. Ihr Onkel Charles spricht es schließlich aus: „Wir müssen etwas unternehmen – der Umwelt wegen und der jungen Menschen wegen.“ Und Vanessa unternimmt etwas. Bei ihren Online-Recherchen ist sie auch auf Greta Thunberg gestoßen, ist fasziniert von diesem Mädchen, das jünger ist als sie selbst und sich dennoch traut, auf die Straße zu gehen. In Uganda ist dafür noch mehr Mut nötig. Denn nicht nur sind die gesellschaftlichen Normen, was junge Frauen tun und lassen können, viel enger. Auch sind öffentliche Demonstrationen kaum geduldet.

Mitunter werden sie willkürlich durch die Polizei und mithilfe von Schlagstöcken und Tränengas aufgelöst.

Doch Vanessa weiß inzwischen zu viel und spürt den Willen, etwas für ihr Land zu unternehmen. An einem Samstag beschließt sie, auf die Straße zu gehen. Sie spürt eine Verbundenheit zur globalen Bewegung Fridays for Future – aber bis Freitag will sie jetzt nicht mehr warten. Sie motiviert ihre beiden jüngeren Brüder und drei Cousins und Cousinen, sie malen Schilder und gehen am Tag darauf frühmorgens los. An vier strategisch ausgewählten Orten ihrer Heimatstadt Kampala – Märkten und vielbefahrenen Kreuzungen – stellen sie sich auf und posten Fotos davon in ihren Social-Media-Kanälen. Als Greta Thunberg überraschend ihre Fotos teilt, schnellen die Likes in die Höhe.

Einladung nach New York

Am Freitag darauf will sie einen echten Fridays-Streik starten – und da niemand sonst Zeit hat, zieht sie allein los, bis sie erleichtert einen alten Freund trifft, der sich ihr anschließt. Doch nach einigen Wochen Solo-Streiks nimmt der Frust überhand, dass sie nur selten jemand begleitet und nur wenige Menschen mit den Botschaften auf ihren Schildern etwas anfangen können. „Je stärker ich mich persönlich engagierte, desto größer wurde der Schmerz darüber, dass öffentlich so gut wie niemand in meinem Land auf den übergeordneten Notstand zu reagieren schien“, blickt sie zurück. Zwei Wochen hadert sie, weint, bleibt in ihrem Zimmer – aber dann macht sie trotzdem einfach weiter. Vanessa protestiert, allein, zu zweit, spricht mal mit interessierten Passanten, mal mit Studierenden auf dem Campus, postet ihre Aktivitäten. Ein mutiger Anfang, nichts Großes. Bis eine E-Mail aus New York in ihrer Inbox landet. Eine E-Mail aus dem Büro des UN-Generalsekretärs: Sie ist eingeladen zum Jugendklimagipfel nach New York. Sie ist noch nie allein gereist, geschweige denn geflogen. Die Reise mit wenig Geld in der Tasche ist ein Abenteuer und sie selbst dort nur eine der wenigen Teilnehmenden vom afrikanischen Kontinent. Sie weiß nun: Menschen haben Notiz von ihrem Engagement genommen und sie sammelt – wenn auch nicht nur positive – Erfahrungen und hilfreiche Kontakte.

Das Foto und seine Folgen

Im Januar 2020 folgt die nächste Einladung, diesmal nach Davos zum „Arctic Basecamp“ während des Weltwirtschaftsforums. Als Aktivsten und Aktivistinnen machen sie mit diesem Camp darauf aufmerksam, dass die Arktis sich in den vergangenen dreißig Jahren doppelt so schnell erwärmt hat wie der Rest der Erde.

Und dann kommt jener unheilvolle Tag, der sie kränkt und verärgert, aber auch berühmt macht. Zusammen mit vier anderen – weißen – Aktivistinnen spricht sie in einer Pressekonferenz und Fotografen schießen Bilder von den Fünfen vor einem Bergpanorama. Doch als das Bild bei der Agentur Associated Press erscheint, fehlt Vanessa. Das Bild ist beschnitten. „Aus kompositorischen Gründen“, wie die Agentur später mitteilt. Hinter Vanessa war ein Gebäude zu sehen gewesen, das angeblich die Optik gestört hat. Vanessa reagiert darauf prompt mit einem Video, in dem sie erklärt: „Ihr habt nicht einfach nur einen Menschen aus einem Foto getilgt. Ihr habt einen ganzen Kontinent getilgt.“

Alle Welt schaut auf den Norden – niemand auf Afrika

Nach Protest aus vielen Teilen der Erde entschuldigt sich die Agentur und veröffentlicht nun auch das unbeschnittene Bild. Doch das Gefühl bleibt, dass ihr als Aktivistin aus dem Globalen Süden die Chance verwehrt worden ist, ihrer Botschaft und der Situation in ihrem Land weltweit Gehör zu verschaffen, weil selbst der Kampf gegen die Klimakrise um den Westen kreist.

Wie sehr das der Fall ist, fällt ihr auf, als sie von der Zerstörung des Kongo-Regenwaldes hört. Dass der Amazonas-Regenwald abgeholzt wird und welche verheerenden Folgen das hat, ist weltweit ein Thema. Dass im Kongobecken der zweitgrößte Regenwald liegt und ebenso wertvoll wie bedroht ist, war nicht einmal ihr selbst klar. Ihr fällt auf: Auch in Uganda war man 2019 und 2020 über die verheerende Buschbrände in Australien und den USA bestens informiert – was hingegen im eigenen Land passiert, ist den wenigsten ihrer Landsleute bekannt. Auch medial konzentriert sich alles auf den globalen Norden. Und wieder zeigt sich Vanessas Tatkraft und sie organisiert kurzentschlossen einen Streik für den viel zu unbekannten Kongo-Regenwald, der Kreise zieht.

Übersehene Krisen

Die Hilfsorganisation CARE hat aufgelistet: Neun von zehn der Krisen, die 2019 in der Berichterstattung am stärksten vernachlässigt wurden, ereigneten sich in Afrika. Dem will Vanessa entgegentreten. Sie gründet das Rise-up-Climate-Movement, um die afrikanischen Stimmen zu vereinen und zu verstärken. Gleichzeitig engagiert sie sich im Vash-Green-Schools-Project, das sich zum Ziel setzt, die Schulen in Uganda mit Solaranlagen auszustatten.

Ihre Motivation für ihr unermüdliches Eintreten für Klimagerechtigkeit schöpft Vanessa Nakate aus dem Erleben, dass gemeinsames Engagement unzähliger junger Menschen in einer globalen Bewegung, etwas bewirkt. Und aus ihrem christlichen Glauben, über den sie auf ihrem Instagram-Kanal immer wieder schreibt.

Anja Schäfer ist Redakteurin von anders LEBEN.