„Sieh nach den Sternen – Gib acht auf die Gassen“: Zum 100. Geburtstag von Jörg Zink
Er war eine öffentliche Person mit einem breiten Verständnis für Schöpfung, christliche Spiritualität, politisches Handeln und zeitgemäße Sprache. Der große Theologe und Publizist Jörg Zink wäre am 22. November 100 Jahre alt geworden.
Geboren wird Jörg Zink auf einem „Bruderhof“, einer christlichen Gemeinschaft, deren Mitglieder ohne eigenen Besitz weitgehend nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden leben wollen. Seine Eltern haben sich einen Traum erfüllt, als sie den Habertshof im hessischen Bergland bei Schlüchtern gründeten. Der Erste Weltkrieg ist gerade vorbei und die kleine Gemeinschaft strebt nach „Frieden zwischen den Völkern“ und einem „behutsameren Umgang mit der Erde“, wie er selbst im Rückblick in seinen Memoiren „Sieh nach den Sternen – gib acht auf die Gassen“ schreibt.
Frieden in der Natur
Als Jörg Zink zwei Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Kurz nach ihrem Tod heiratet sein Vater erneut, stirbt aber kurz darauf ebenfalls, und der Junge wächst fortan mit seinen beiden älteren Brüdern, einem Stiefbruder und seiner Stiefmutter in Ulm auf. Obwohl er sich später nicht mehr an seine Eltern erinnern kann, finden sich zahllose Spuren des Traums seiner Eltern in seinem eigenen Leben wieder: Er gründet 1972 die „Haldenwiese“, einen Pferde- und Spielhof, auf dem Kinder mit und ohne Behinderung zusammen mit Pferden und anderen Tieren leben – und Zeit seines Lebens setzt auch er sich für Umweltschutz und Frieden ein.
Als Kind und Jugendlicher sei er, so beschreibt er sich später, eigensinnig, trotzig, „unhandlich“ gewesen. Inneren Frieden findet der Hitzkopf vor allem in der Natur. Regelmäßig flüchtet er allein oder mit seinem Stiefbruder auf die Schwäbische Alb, lebt von dem, was die Natur ihm schenkt und übernachtet unter freiem Himmel. Dort erlebt er auch innige Gottesbegegnungen. Ein Bibelvers aus Jeremia 17 wird ihm zum wichtigen Leitvers: „Gesegnet ist der Mann, der sich auf den Herrn verlässt und dessen Zuversicht der Herr ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt. Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte.“
Politisch aktiv
Jörg Zink nimmt diese Verse als Anleitung zur Bewältigung der „Aufgaben der Zukunft“. Er fordert seine Mitmenschen in seinen Büchern auf: „Es soll etwas von Frieden von euch ausgehen. Etwas von Hoffnung, etwas von neuen Anfängen, wo keiner mehr an neue Anfänge glaubt. Etwas von Zukunft, wo ganze Völker sich nur noch an ihrer Gegenwart festhalten können, weil sie sonst die Angst verschlingt. Es soll etwas von dem Gleichnis ‚Wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen‘ an euch sichtbar werden.“
Wie das konkret aussehen kann, macht Jörg Zink mit seinem eigenen Leben vor: Als Pfarrer und Medienschaffender setzt er sich für das ein, was seine Eltern ihm in die Wiege gelegt haben. Er wird bekannt: Über 100-mal spricht er das „Wort zum Sonntag“ und verfasst rund 200 Bücher. Als er feststellt, dass Jugendliche mit der Luthersprache nichts anfangen können, beginnt er in den 60er-Jahren, die Bibel neu zu übersetzen. Er veröffentlicht zudem geistliche Gedanken mit eigenen Fotos in kleinen Büchern, die zu seiner Bekanntheit beitragen. Bei ihm gehört vieles zusammen: das tiefe Fundament der Bibel, eine erfahrbare Spiritualität, ein Sinn für die Schönheit der Schöpfung und die politische Aktion, die bei ihm dazu führt, dass er sich bei der Gründung der Grünen mitengagiert.
Herrschaft der Reichen?
Beim Thema Gerechtigkeit geht Jörg Zink mit seinen Mitchristen hart ins Gericht: „Globale Gerechtigkeit? Es waren doch wohl nicht die Chinesen oder Inder, die seit fünfhundert Jahren mit ihren Kriegsflotten von Ufer zu Ufer gefahren sind, um die Reichtümer anderer Völker in ihrer Heimat anzuhäufen, bis am Ende die ärmsten der armen Völker sämtlich von ihnen abhängig waren? Ist das System der heutigen Wirtschaft nicht das vor allem von den Christen erfundene Mittel zu einer weltweiten Herrschaft der Reichen?“ Sein Ansatz zur Wiedergutmachung, zum Bessermachen, ist gleichzeitig simpel und unfassbar schwer: „Die Bergpredigt gibt die Richtung vor. […] Mit jedermann reden, auch mit dem, der an Gewalt glaubt, und zwar ohne Hass. Mit jedermann leben, auch mit denen, die Macht haben und an ihre Macht glauben, und zwar ohne Überheblichkeit. Aber sich von jedermann unterscheiden, der noch seine Hoffnung auf Macht und Gewalt setzt.“
Zum Ende des Kalten Krieges formiert sich in Deutschland eine Friedensbewegung unter dem Motto „Nie wieder Krieg“, die sich gegen die Wehrmacht, die Wiederbewaffnung Deutschlands und in letzter Konsequenz – und am Ende erfolglos – vor allem gegen die Stationierung atomarer Waffen in Mitteleuropa richtet. Ihren Höhepunkt erlebt sie im Oktober 1983, als sich zwischen Stuttgart und Ulm eine Menschenkette aus 1,3 Millionen Menschen bildet – darunter auch Jörg Zink. Er berichtet später: „In der Menschenkette stehend sahen wir uns Ordnungskräften des Landes gegenüber, die beauftragt waren, uns in Schranken zu halten und Gewalttaten zu verhindern. Als sie den Geist spürten, der bei uns herrschte, sagten viele unter den Polizisten: ‚Wenn ihr eure Kette nicht voll bekommt, stellen wir uns mit euch in eure Reihe.‘“ Worüber er sich wundert: In der Politik wird Gewalt stets mit Gewalt bekämpft. Doch was ist mit dem Bibelwort Jesu, in dem er sagt, dass das alte „Zahn um Zahn“ durch ihn überwunden wurde und stattdessen gilt: „Halte ihm auch noch die andere Wange hin“? Er sucht immer gemeinsam mit anderen nach neuen Wegen, um gewaltfrei auf Gewalt zu reagieren. Um auch bei Demonstrationen der Staatsgewalt gewaltfrei gegenübertreten zu können, gilt für ihn: „Wir lassen es nicht zu, dass in unseren Gedanken ein anderer Mensch zu unserem Feind wird.“
Hoffnung auf Wandel
Auch für Umweltschutz steht Jörg Zink mit Wort und Tat ein. Bereits Anfang der 80er-Jahre sagt er: „Wer auch nur mit halber Aufmerksamkeit verfolgt, was um ihn her geschieht, kann wissen, wie unerhört gefährdet die Lebensräume von Mensch, Tier und Pflanze auf diesem Planeten sind. Man kann wissen, dass es so nicht weitergehen darf, und handelt doch unverändert wie bisher. Man kann wissen, dass sich um des Lebens auf dieser Erde willen etwas ändern muss. Aber es ändert sich so gut wie nichts.“ Jahrzehntelang sieht sich Jörg Zink mit dieser Beobachtung allein in der christlichen Welt. Sieht denn niemand, was so offensichtlich um ihn herum geschieht?
Doch auch angesichts dieses frustrierenden Resümees stützt er sich auf den Dreiklang von Liebe, Glaube an den Wandel und Hoffnung. Die Bewahrung der Schöpfung muss für ihn mit Dankbarkeit begonnen werden, mit einer Liebeserklärung an die Schönheit der Erde: „Soll praktische Verantwortung etwas wirken und etwas wert sein, so muss ihr eine Liebeserklärung vorausgehen.“ Und auch für das Handeln der Christen auf Erden nimmt er die Liebe als Leitmodell: „Es gibt kein Rezept. Keine Methode. Keine Richtlinie. Die ordnende und tragende Kraft ist der Glaube. Die sichtbare Gestalt für das richtige Handeln ist die Liebe.“ Neben der Liebe ist sein zweites tragendes Wort für die Umweltbewegung der „Wandel“: „Was heute noch Macht ist, Status, Besitz oder Geltung, wird sich vielleicht doch auch in mir wandeln können in Wissen, Verstehen, Einfühlung, Empathie, Offenheit und Bereitschaft zum Verzicht.“
Und was zum Schluss bleibt, ist für ihn die Hoffnung: „Wer etwas weiß vom Geist Gottes, der geht wacher durch die politische Landschaft, der erwartet noch freie Wege, wo alles in Sackgassen zu enden scheint. Der gibt die Hoffnung nicht auf und auch nicht die Arbeit an der Zukunft. Der geht auch durch sein eigenes Leben aufmerksamer, dankbarer, sensibler. Zum Staunen fähiger. Zum Verzicht bereiter. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“
Am 9. September 2016 stirbt Jörg Zink im Alter von 93 Jahren in seinem Haus in Stuttgart.
Catharina Bihr ist Bildungsreferentin und wohnt in Stuttgart. Die Zitate von Jörg Zink stammen aus folgenden Büchern: „Sieh nach den Sternen – gib acht auf die Gassen“, „Kostbare Erde: Biblische Reden über unseren Umgang mit der Schöpfung“ (beide Kreuz), Matthias Morgenroth: „Jörg Zink – eine Biographie“ (Gütersloher Verlagshaus), Eine Webseite erinnert an ihn: joerg-zink.de