Polarforscher Arved Fuchs: Die Arktis ist ein Frühwahrnsystem der Natur
Er war Extremsportler, jetzt leitet er Expeditionen in die Polarregionen, erforscht die Meere und klärt über den Klimanwandel auf. Im Interview erklärt Arved Fuchs, warum ihm die Natur so wichtig ist und was ihn am meisten erschüttert hat.
Wir treffen uns passenderweise auf dem Extremwetterkongress in Hamburg, kurz nach den heftigen Überschwemmungen in Österreich und Osteuropa. Da ist Arved Fuchs erst wenige Tage von seiner Forschungsreise in die Barentsee zurück. Drei Monate lang ist der 71-Jährige mit einer internationalen Crew und seinem über 90 Jahre alten Segelschiff Dagmar Aaen von Flensburg zur Bäreninsel gesegelt, hat Forschungsdaten gesammelt und über die drastischen Veränderungen der Ozeane die Öffentlichkeit informiert.
Expeditionen auf See
Ein paar Tage ist Ihre Reise erst her. Finden Sie es schön, mal wieder an Land zu sein, oder wären Sie am liebsten sofort wieder auf dem Ozean?
Arved Fuchs: Nein, wir sind jetzt 90 Tage unterwegs gewesen, mit zehn Personen auf einem relativ kleinen Schiff ohne Privatsphäre. Wir haben eine ganz tolle Crew, das bringt auch viel Spaß, aber irgendwann braucht man mal wieder Freiräume für sich selbst. Ich bin kein Aussteiger. Ich freue mich auch auf das Leben hier zu Hause. Man ist wie eine Batterie, die auf einer solchen Expedition mit Eindrücken geladen wird. Und jetzt speist man sich wieder aus dieser Batterie, und diese ganzen Eindrücke kommen zurück.
Was sagt Ihre Frau zu Ihren Reisen – kommt sie mit?
Meine Frau ist auch Ozean-Fan – und ja, sie war jetzt auch diese ganze letzte Expedition mit dabei. Sie ist auch schon Hundeschlitten mitgefahren. Ich glaube, wenn sie nicht auch begeistert wäre, dann würde so eine Beziehung nicht seit 40 Jahren halten.
Sie sind auch seit über 30 Jahren mit Ihrem historischen Fischereisegler unterwegs, den Sie 1988 restauriert haben. Warum hängen Sie daran und haben nicht längst ein modernes Forschungsschiff aus Hightech-Materialien?
Diese traditionellen Schiffe haben natürlich einen ganz besonderen Charme. Wenn Sie mit einer High-Tech-Yacht bei einer kleinen grönländischen Siedlung vor Anker gehen, ist da immer eine Barriere, eine Diskrepanz, da traut sich keiner hin. Aber so ein altes Holzschiff, das lädt quasi ein zum Dialog. Und auch hier wirkt es natürlich abenteuerlich romantisch und spricht damit Menschen an. Das andere ist, dass es ausgezeichnete Seeschiffe sind. Man wird damit nie eine Regatta gewinnen können. Aber in der Langsamkeit des Reisens liegt ja auch eine besondere Erlebnisdichte.
Polarforscher – Hightech auf dem Segelschiff
Gleichzeitig haben Sie viele High-End-Messgeräte und eine Wetterstation dabei …
Ja, wir arbeiten zusammen mit dem Institut für Ostseeforschung und anderen Organisationen. Wir können CO2, Salzgehalt, Temperatur, Chlorophyll und verschiedene andere Daten im Oberflächenwasser messen und haben eine automatische Wetterstation für den Deutschen Wetterdienst mit an Bord. Über Satelliten werden die Daten in Echtzeit ans Geomar nach Kiel geschickt und dort sitzen die Fachleute, die damit arbeiten und sie analysieren. Ich bin selbst kein Wissenschaftler und früher wurde man auch mal belächelt, aber heute bezeichnen die Wissenschaftler unser Schiff als „Ship of Opportunity“ – also ein Schiff, das die Gelegenheit bietet, Messdaten zu erfassen, wo sonst kein Schiff unterwegs ist. Denn so viele Forschungsschiffe gibt es nun auch wieder nicht. Und mit so einem kleinen Schiff haben wir wiederum ganz andere Möglichkeiten. Wir sind langsamer unterwegs, der Zeitfaktor spielt bei uns keine große Rolle. Also man kann ergänzend tätig sein und gleichzeitig Wissenschaftskommunikation betreiben über die sozialen Medien.
Während der Reise haben Sie einen Blog geführt und die Farbe des Wassers gemessen. Was steckt dahinter?
„Eye on Water“ nennt sich das und wird vom Institut für Ostseeforschung aus Warnemünde organisiert. Das Prinzip gibt es aber schon seit rund 100 Jahren. Das Wasser hat unterschiedliche Färbungen, beeinflusst durch Plankton, durch Verunreinigung, durch ganz viele verschiedene Dinge. Und aus der Farbe des Wassers können Wissenschaftler Rückschlüsse ziehen. Früher hat man draufgeguckt und mit einer Farbtafel verglichen. Heute geht das etwas eleganter. Diesmal haben wir das weiter intensiviert und ganz vorne am Klüverbaum eine programmierbare, wasserdichte Kamera installiert und die hat jede Viertelstunde eine Aufnahme vom Wasser gemacht und die Daten haben wir ausgelesen. In Verbindung mit der Position, mit der Wolkendecke und anderen Faktoren ist das eine enorme Datendichte, die neu ist für die Wissenschaft.
Aufklärung über den Klimawandel
Dieses Jahr ging die Expedition zur Bäreninsel, von der ich noch nie gehört hatte. Warum?
Die Bäreninsel liegt mitten in der Barentssee, die an das Nordpolarmeer angrenzt. Die Bäreninsel liegt etwa auf halbem Weg von Norwegen nach Spitzbergen und ist unbewohnt, bis auf eine kleine norwegische meteorologische Station. Sie ist auch historisch interessant. Es gibt eine alte Walfangstation, alte Kohlenminen und das ist ein weiteres Vehikel, um Menschen dafür zu interessieren. Dies merken wir über den Zuspruch in den sozialen Medien, und dann können wir weitere Informationen weitergeben. Die Barentsee ist im langjährigen Mittel im Durchschnitt 3 bis 5 Grad Celsius zu warm, in den Spitzen sogar um 7,5 Grad Celsius. Da bleibt einem der Atem stocken – 7,5 Grad zu warm! Wenn die Lufttemperatur im Sommer 7,5 Grad zu warm wäre, dann wäre das dramatisch. Es ist eben ein Abenteuer, dorthin zu segeln, anzulanden, mit dem Schlauchboot verankert zu liegen, mit den Menschen zu sprechen, zu zeigen, wie schön diese Insel ist, auch wenn sie eine karge arktische Insel ist. Auf der anderen Seite eben auch auf die Probleme hinzuweisen, nicht belehrend, sondern einfach informativ – das ist meine Intention.
Wie kam es, dass Sie auch zum Aufklärer wurden?
Als ich anfing, war es für mich das große Abenteuer und die sportliche Herausforderung im Extrembereich. Das war alles, was ich leisten konnte und wollte. Aber man wird ein sehr guter Beobachter und die schleichenden Veränderungen in der Natur machen einen nachdenklich. Die Arktis, wo ich überwiegend gewesen bin, erwärmt sich gut dreimal so schnell wie der Rest der Welt. Sie ist also eine Art Frühwarnsystem der Natur und das hat mich, um im Bild zu bleiben, nicht kalt gelassen. Ich glaube, als Zeitzeuge steht man auch in einer gewissen Pflicht, über die unangenehmen Dinge zu berichten und nicht einfach nur spannende Geschichten und schöne Bilder nach Hause zu bringen. Ich versuche, objektiv zu informieren. Aber man ist natürlich immer irgendwie auch subjektiv geprägt. Ich habe viele Freunde unter der indigenen Bevölkerung, die mit dem Klimawandel umgehen müssen und die Auswirkungen zuallererst zu spüren bekommen. Das wühlt mich auf. Außerdem habe ich eine ausgeprägte Liebe zur Natur. Ich bin gerne auf dem Wasser. Ich bin gerne in der Arktis, in der Antarktis. Ich bin gerne in der Natur unterwegs. Und deshalb tut es einem weh, wenn man merkt, dass mit großer Ignoranz all das verändert und zerstört wird.
Gab es ein Erlebnis auf Ihren Reisen, das Sie besonders getroffen hat, was die Erderwärmung angeht?
Ein einschneidendes Erlebnis war 2002, als wir nördlich von Sibirien mit dem Schiff lang gesegelt sind, die sogenannte Nordostpassage, die immer mit Eis blockiert gewesen war. Dreimal sind wir in den 90er-Jahren dran gescheitert, weil kein Durchkommen war. 2002 war sie plötzlich weit offen und man kam ohne Probleme, ohne Eiskontakt durch. Das war für mich so absurd. Entweder war es ein ganz ungewöhnlicher Sommer, was viele damals gesagt haben, oder es war eine Tendenz. Und es hat sich gezeigt, dass es eine Tendenz ist. Das hat mir, ehrlich gesagt, die Unbefangenheit dieser Reisen, wie ich sie früher hatte, genommen. Ich werde bisweilen zornig, wenn ich sehe, wie Populisten den Klimawandel leugnen, obwohl die ganzen Daten, die Erkenntnisse auf dem Tisch liegen. Wenn ich sehe, dass gerade viele junge Menschen AfD wählen, auch weil die in den sozialen Medien so präsent sind, dann muss man dem entgegensteuern, Fakten aufzeigen. in unserem Fall mit so einem Abenteuerambiente, einem Segelschiff in rauer See. Wir versuchen, sie über die sozialen Medien mitzunehmen und sie für die Umwelt zu begeistern.
Müll in der Arktis
2015 haben Sie das Ocean-Change- Projekt gegründet, eine jährliche Expedition. Was ist das Ziel?
Die Ozeane machen über siebzig Prozent der Erdoberfläche aus. Es sind die größten Naturlandschaften, die wir haben. Alles Leben stammt aus den Ozeanen. Sie sind die größten CO2-Speicher und damit entscheidend für das Klima. Aber was da passiert, findet oftmals unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Wir möchten diese Ozeane ins Wohnzimmer der Menschen bringen, sie damit konfrontieren. Viele kennen Ozeane nur als touristische Destination mit Strand und Badeurlaub. Wir sagen: Wir benutzen die Ozeane als Müllkippe. Warum findet man auf einer völlig unbewohnten, einsamen Insel in der Arktis Flipflops und Cremedosen? Weil das alles dorthin transportiert wird. Wir dokumentieren Fischereinetze mit verendeten Tieren, sogenannte Geisternetze, die weltweit herumtreiben, immer weiter fangen und verheerende Auswirkungen haben bei Delfinen, Fischen, Robben. Das ist etwas, was wir im Rahmen dieses Ocean-Change-Projektes transportieren möchten.
Was wünschen Sie sich für die Ozeane?
Ich wünsche mir eine Wertschätzung. Ozeane sind der größte Lebensraum, den wir auf der Erde haben. Wir brauchen Schutzgebiete in den Ozeanen, Überfischung ist ein Riesenproblem. Wir brauchen diesen berühmten Schulterschluss aller gesellschaftlichen Kräfte. Wir brauchen die Industrie, wir brauchen die Politik. Wir brauchen alle gesellschaftlichen Akteure und wir müssen aufhören, so zu tun, als gäbe es die Probleme nicht. Wir müssen ins Handeln kommen, das ist der entscheidende Faktor. Und es ist auch ganz wichtig zu kommunizieren, dass wir schon eine Menge geschafft haben. Wenn ein Industrieland wie Deutschland mittlerweile seinen Strommix zu über fünfzig Prozent aus erneuerbaren Energien bezieht, dann ist das schon ein Pfund, mit dem wir wuchern können. In den 80er-Jahren hätte man Sie ausgelacht, wenn Sie mit dieser Vision gekommen wären. Insofern haben wir ja etwas geschafft. Bloß ist es viel zu wenig und wir dürfen trotz aller Krisen und Probleme – auch wirtschaftlicher Natur – nicht nachlassen, dieses Problem als eines der Kernprobleme unserer Zeit zu erkennen. Viele Kriege, Konflikte, die es weltweit gibt, resultieren aus dem Klimawandel. Und diese Extremwettergeschehnisse, die wir haben, kosten die Volkswirtschaften nicht nur unendlich viel Geld, sondern generieren unendlich viel Leid.
Brauchen bessere Berichterstattung
Ich nehme beim Thema Klima insgesamt eine gewisse Müdigkeit wahr und auch Frust: Jetzt verzichte ich schon zehn Jahre auf Fleisch und fliege nicht und das Klima ist immer noch nicht gerettet …
Ja, das Thema Klimawandel ist irgendwie präsent, aber hat nicht mehr die Bedeutung wie noch vor dem Ukraine-Krieg. Aber gerade deshalb müssen wir doch weitermachen. Ich komme, wie gesagt, aus dem Extremsportbereich. Und wenn ich in einen Schneesturm gerate und mein Schlitten kaputt ist und ich mich hinsetze und sage: „Nun weiß ich auch nicht weiter, das ist aber ungerecht, dass das Wetter nun plötzlich so schlecht ist“ – dann sterbe ich auf einer solchen Expedition. Man muss doch jetzt erst recht weitermachen, auch wenn das bisher nicht gereicht hat. Und Veränderungen müssen ja nicht schlechter sein – ich muss auf alles verzichten, darf jetzt gar nichts mehr und keine Freude mehr haben –, sondern Veränderungen können ja auch positiver Natur sein. Es ist eben der Schritt nach vorne in eine etwas andere Lebensphilosophie und andere Rahmenbedingungen. Was bedeutet für mich Glück? Was bedeutet für mich Zufriedenheit? Ich glaube, diese Definition für sich zu finden, würde uns weiterhelfen.
Wie sollten Medien aus Ihrer Sicht heute Klimathemen kommunizieren?
Ich wünsche mir vom Journalismus, dass positive Ansätze gezeigt werden. Ich habe mit den Medien beim Thema Wärmepumpen so meine Probleme gehabt. Der Wärmepumpenmarkt ist eingebrochen, die Leute fangen wieder an, Ölheizungen einzubauen. Momentan sind die Spritpreise so billig, wie seit langem nicht mehr, aber das muss doch mal durchleuchtet werden, dass das nicht so bleiben wird und dass man damit dieser fossilen Lobby in die Hände spielt. Ich wünsche mir, dass man auch mal sagt, eine Wärmepumpe kann im Sommer auch kühlen und Hitze wird ein zunehmendes Problem für uns sein. In Skandinavien ist das mittlerweile Standard. Wir Deutschen tun immer so, als wären wir die Speerspitze der Ökobewegung und des Klimaschutzes, aber das ist völlig daneben. Wir sind nicht mal im Mittelfeld angesiedelt. Andere Länder sind da viel, viel weiter, ohne in Depression zu verfallen und ohne Maßnahmen und Mittel immer zu hinterfragen. Sie machen es einfach. Und von den Medien würde ich mir auch wünschen, dass sie ein bisschen Mut machen und sagen: Go for it – lasst uns das machen!
Sie sind schon immer ganz viel in der Natur unterwegs gewesen. Erleben Sie das als besondere Kraft?
Ganz klar: ja. Ich habe die Natur immer als eine große Ressource empfunden, mich selbst buchstäblich zu erden, zu resetten. Raus aus dieser Hightech-Welt, aus Termindruck und allem, womit man sich sonst umgibt. Und dazu muss man nicht zum Nordpol oder zur Bäreninsel fahren, das kann auch einfach mal ein Spaziergang in der Lüneburger Heide oder im Stadtpark sein, wo man die Natur auf sich wirken lässt. Das hat für mich eine Spiritualität. Ich bin kein religiöser Mensch. Ich glaube nicht an eine übergeordnete Macht – oder wenn es die gibt, dann ist es für mich die Natur. Ich glaube, wir müssen aufhören, die Natur und uns auseinanderzudividieren, sondern wir müssen uns als integraler Bestandteil dieser Natur verstehen und unseren Standort dort auch drin finden und nicht erwarten, dass die Natur funktioniert, wie wir sie gerne hätten. Wir sägen den Ast ab, auf dem wir sitzen, das ist wirklich die große Tragik der Menschheit. Deshalb ist, glaube ich, dieses Naturempfinden etwas ganz, ganz Wichtiges.
Interview: Anja Schäfer
Arved Fuchs ist ein deutscher Polarforscher, Abenteurer und Buchautor, der durch seine Expeditionen in die Arktis und Antarktis internationale Bekanntheit erlangt hat. Er war 1989 der erste Mensch, der sowohl den Nord- als auch den Südpol innerhalb eines Jahres zu Fuß erreichte. Fuchs ist für seine extremen Unternehmungen bekannt – oft in traditioneller Ausrüstung – und engagiert sich intensiv für den Umwelt- und Klimaschutz. Mit seinem Segelschiff Dagmar Aaen führt er regelmäßig Forschungsreisen durch, um auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam zu machen.