Jetzt das Ende der Demokratie zu verkünden, ist absurd. Trotzdem dürfen wir gegen Entscheidungen aufbegehren, sagt Uwe Heimowski, politischer Beauftragter der Evangelischen Allianz im Bundestag.
Mein Berliner Büro als politischer Beauftragter der Evangelischen Allianz in Deutschland hat eine exponierte Lage. Unser direkter Nachbar ist die US-Botschaft, wir sind knapp drei Minuten vom Brandenburger Tor und fünf Minuten vom Reichstagsgebäude entfernt. Wir arbeiten direkt am Puls der Republik, könnte man sagen.
Wenn in der Bundeshauptstadt demonstriert wird, sitzen wir buchstäblich in der ersten Reihe. Und demonstriert wird fast immer. Seien es stille Mahnwachen, bei denen Lebenslichter an die Opfer der Staatsgewalt in Belarus erinnern. Oder seien es große Demonstrationszüge wie der von Fridays for Future im Herbst 2019, bei dem Zehntausende vor allem junge Menschen mehrere Stunden friedlich die Straße unter unserem Fenster entlangliefen.
Querdenker vor der Haustüre
Auch die Querdenker demonstrierten rund um das Regierungsviertel. Ich musste nur zur Tür hinaustreten, um mir ein eigenes Bild zu machen. Das tat ich bei einigen Gelegenheiten (als einer von wenigen, die einen Mundschutz trugen, was mir eine Reihe spitzer Bemerkungen eintrug). Über die Querdenker-Demos wurde viel berichtet. Die Bilder von Aktivisten, die mit Reichskriegsflaggen in den Händen die Treppenstufen zum Reichstagsgebäude hinaufstürmten, gingen um die Welt. Ein unvergleichlicher Vorgang in unserer jüngeren Geschichte.
Manche wiegeln ab: Es sei nur eine Handvoll Leute gewesen, und zu wirklicher Gewalt ist es nicht gekommen. Ich war vor Ort an diesem Wochenende. Mein Eindruck: Es gab Tausende friedliche Demonstranten. Einige schräge Vögel sicher, ein paar Sektierer, die meisten waren ziemlich ungefährlich. Aber: Die Reichstagsstürmer waren nur der Gipfel des Eisbergs. Viele fragwürdige Gestalten tummelten sich gemeinsam mit friedlichen Kritikern der Corona-Maßnahmen auf den Straßen. Ich sah Ehepaare in QAnon-Shirts und kahlrasierte Männer mit spärlich verborgenen Runentattoos. Ich hörte einen Mann in sein Megafon brüllen, dass es den Abgeordneten „jetzt endlich an den Kragen“ gehe. Plakate sprachen der Bundesrepublik ihr Existenzrecht ab. Mehrere Redner behaupteten, die Meinungsfreiheit sei in Deutschland faktisch abgeschafft. Andere sprachen von „Corona-Diktatur“.
Die Demonstration ist Beweis für die Demokratie
Ironischerweise geschah das alles auf einer durch das Demonstrationsrecht geschützten Veranstaltung. Das Verwaltungsgericht hatte noch am Vortag entschieden, dass der Berliner Senat die Demo nicht verbieten dürfe. Den offensichtlichen Widerspruch nahmen die Querdenker nicht wahr: In welcher Diktatur wäre es möglich gewesen, dass ein Gericht gegen die Regierung entscheidet? Damit singen gerade die Verächter der Demokratie, ohne es zu merken, unserem Rechtstaat ein (paradoxes) Loblied.
Tief eingeprägt hat sich mir ein Interview aus dem Jahr 2014. Eine griechische Boulevardzeitung hatte eine Karikatur veröffentlicht, in welcher die Kanzlerin eine Armbinde mit einem Hakenkreuz trug. Darauf angesprochen antwortete Merkel sinngemäß: „Wissen Sie, ich komme aus der ehemaligen DDR, Sie können sich gar nicht vorstellen, was es mir bedeutet, dass wir heute Meinungsfreiheit haben. Da gehören solche Karikaturen wohl mit dazu.“
Paradoxe Populisten
Populisten (von lateinisch populus, das Volk) betonen oft: Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Das ist in der Tat ein wesentlicher Aspekt! Nur: Sie, die Populisten, geben vor, im Namen dieses Volkes zu sprechen. Was für eine Hybris, für die eigene Position eine angebliche (schweigende) Mehrheit zu reklamieren! Und: Demokratie ist viel mehr als nur „Volksherrschaft“.
„Wir sind das Volk“ war 1989 der richtige Ruf auf den Straßen in Leipzig oder Plauen. Er erinnerte die Führung eines Unrechtsstaat an die (Freiheits-)Rechte der Bürger. Dass ich eine solche friedliche Revolution (wenn auch aus Westperspektive) miterleben durfte, wird mich mein Leben lang zum Staunen bringen. Umso mehr erschüttert mich, wenn Menschen heute beklagen, dass die Zustände schlimmer seien „als in der DDR oder in Kuba“.
Zum Glück ein Rechtsstaat
Das Wesensmerkmal einer modernen Demokratie ist eine starke Verfassung, eine Demokratie ist nicht nur ein Mehrheits-, sondern vor allem ein Rechtsstaat. Eine Volksherrschaft ohne die Basis des Rechts wäre Anarchie oder „Demokratur“ – die dann zu einer Diktatur führen kann. Das haben wir Deutschen in unserer Geschichte leidvoll erfahren müssen, als die Weimarer Verfassung von Adolf Hitler mit „demokratischen“ Mitteln ausgehebelt wurde. In jüngster Vergangenheit haben wir das beim „arabischen Frühling“ gesehen, der so hoffnungsvoll begann, und dann etwa in Ägypten die Muslimbruderschaft an die Macht gespült hat.
Rechtstaatlichkeit ist zentral für Demokratien. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland spiegelt sich die Erfahrung der Naziherrschaft. Gleich zu Beginn schließt es aus, dass es in Zukunft wieder eine überlegene „Rasse“ geben dürfe, Menschenrechte gelten allen. Danach wird die Verantwortung für den Frieden in der Welt betont: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Grundgesetz, Artikel 1). Ähnlich sind andere Europäische Verfassungen aufgebaut, etwa in Österreich und der Schweiz: Die Freiheitsrechte des Einzelnen werden gesichert, das schließt die Verantwortung für das Ganze der eigenen Gesellschaft und der übrigen Welt mit ein. Die Rechte des Einzelnen erreichen da ihre Grenze, wo sie die Rechte eines anderen einschränken.
Demokratie muss wehrhaft sein
Auf dieser Rechtsgrundlage fußt die Demokratie. Sie bindet den einzelnen Bürger ebenso wie die Regierungen. Wo eine Regierung gegen die eigene Verfassung verstößt, hat der Bürger das Recht, dagegen aufzubegehren. Um es mit einem alten Graffiti-Spruch zu sagen: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Wenn der Staat Menschenrechte verletzt, dann gilt es dem Gewissen zu folgen, und sich dem Staat zu widersetzen.
Aber ist das die heutige Situation? Die Querdenker dürfen ihre Inhalte verbreiten, sie dürfen für Veranstaltungen werben und Demonstrationen anmelden. Das ist ihr demokratisches Recht. Wenn auf der Demo aber Menschen gefährdet sind, weil Auflagen zum Gesundheitsschutz nicht eingehalten werden oder wenn zu Gewalt aufgerufen wird, dann muss die Versammlung aufgehoben werden. Das ist nicht etwa ein Angriff auf die Demokratie selbst, sondern ein Ausdruck davon, dass die Demokratie auch wehrhaft sein muss und sein kann. Es geht in diesen Zeiten um nicht weniger als um die Demokratie selbst. Wir müssen sie verteidigen gegen ihre Verächter.
Es braucht Vertrauen in die Demokratie
Dafür müssen wir der Demokratie vertrauen. Vertrauen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Vertrauen setzt Mut frei. Gerade in einer Krise. Als Vertreter der Evangelischen Allianz behaupte ich außerdem, dass gerade Christen angehalten sind, als verantwortliche Bürger alles zu tun, um das Vertrauen in unsere Verfassungs-Demokratie zu stärken. Gerade jetzt gilt es, unsere Institutionen zu stärken, die unabhängige Justiz und die Leitmedien zu unterstützen, statt sie abzuwerten.
Dazu gehört natürlich, dass wir uns kritisch zu Wort melden. Demokraten sind eben gerade keine Schlafschafe. Als politischer Beauftragter der Evangelischen Allianz habe ich in der Pandemie früh darauf hingewiesen, dass eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit (und damit der Religionsausübungsfreiheit) immer nur vorübergehend sein darf. Ich habe an die einsamen alten Menschen in Pflegeheimen erinnert, auf die Missstände in Schulen und Universitäten hingewiesen, die Korruptionsaffäre um Schutzmasken öffentlich angeprangert – gerade weil ich nicht bereit bin zu resignieren, sondern dieser Demokratie so sehr vertraue, dass ich mich an ihr beteilige.
Nicht beim allgemeinen Politiker-Bashing mitspielen
Genauso gilt es, denen entgegenzutreten, die mit einfachen Parolen versuchen, die Regierenden in ein falsches Licht zu stellen, den Staat und seine Organe zu schwächen und das Recht umzudeuten. Es gilt Fake-News zu entlarven und nicht beim allgemeinen Politiker-Bashing mitzuspielen. Wenn wir kritisieren, dann nicht pauschal, sondern konkret, konstruktiv und ohne persönliche Angriffe.
Ein Beispiel: Eine Politikerin hat ihren Lebenslauf ungenau veröffentlicht und den Bezug von Weihnachtsgeld zu spät dem Bundestag gemeldet. Das sind Fehler. Es ist richtig, sie als solche zu benennen. Man kann auch über einen Rücktritt diskutieren (den ich persönlich nicht für angemessen hielte). Populistisch ist, nun Halbwahrheiten in die Welt zu setzen und die Politikerin persönlich anzugreifen. Das hat mit einem politischen Diskurs nicht das Geringste zu tun. Es ist menschenverachtend und demokratiefeindlich. Als Christ möchte ich mich daran nicht beteiligen.
Etwas anders ist die Situation bei Parlamentariern, die über ihre Firmen mehrere Hunderttausend Euro an Provisionen für Corona-Schutzmasken eingestrichen haben. Angesichts der Schwere der Vorwürfe waren Rücktritte notwendig. Strafrechtliches Fehlverhalten und auch die Vorteilsnahme von Politikern dürfen nicht folgenlos bleiben. Doch auch in diesem Fall schießen persönliche Beleidigungen über das Ziel hinaus.
Demokratie heißt mitgestalten
Demokratie lebt vor allem davon, dass wir sie (mit-)gestalten. Dafür gibt es unzählige Möglichkeiten (um die uns übrigens viele Menschen rund um den Erdball beneiden). Wir können an Debatten teilnehmen, in den neuen Medien oder mit dem „altmodischen“ Leserbrief. Wir können im sogenannten „vorpolitischen Raum“ als Elternsprecher und in Vereinen aktiv werden. Wir können in Parteien eintreten und allein schon durch unsere Mitgliedschaft ein Zeichen setzen. Und wem es möglich ist, der kann dort Inhalte prägen und dafür arbeiten, dass uns Meinungsfreiheit, Recht und Gerechtigkeit erhalten bleiben.
In unserer Gesellschaft ist das möglich. In Freiheit. Wir alle sind am Puls der Demokratie. Ein Hoch auf uns. Nutzen wir die Chancen.
Uwe Heimowski ist Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz am Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung in Berlin.