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Familie beim Waldspaziergang im Herbst - Symbolbild: Getty Images / monkeybusinessimages / iStock / Getty Images Plus

Auszeit am Sonntag – Zeit für Ruhe und bleibende Momente

In einer Zeit von Stress und Hektik kommt man kaum zum Durchatmen. Christina Schöffler entdeckt den Sonntag – oder den jüdischen Schabbat – als Möglichkeit, sich zu besinnen und schöne Erinnerungen als Familie zu schaffen.

An diesem Sonntag hatten wir nichts Großes geplant. Wir wollten uns einfach mit Freunden treffen, eine Runde auf einem Waldweg spazieren gehen und dann gemeinsam picknicken. Als wir am Wanderparkplatz ankamen, mussten wir feststellen, dass an diesem ersten richtig schönen Frühlingstag des Jahres scheinbar alle Leute in unserer Umgebung dieselbe Idee hatten wie wir. Spontan änderten wir unsere Pläne. Ganz in der Nähe besitzt meine Schwiegermutter ein kleines „Stückle“ Wiese, auf dem eine Reihe Apfelbäume steht. Einmal im Jahr kommen wir hier als Familie zusammen, um die Äpfel zu ernten. Dieses Stück Land, das ich bisher wegen den matschigen Äpfeln am Boden nur mit Gummistiefeln betreten hatte, bedeutete vor allem eins für mich: Arbeit! Nun fuhren wir also, mangels Alternative und mit gedämpften Erwartungen, den holprigen Weg zur Apfelwiese. Gemeinsam mit den Freunden trugen wir unsere Picknickkörbe zu der grob gezimmerten Bank, die mein Schwiegervater vor langer Zeit hier aufgestellt hatte. Die Kinder tobten wie die jungen Hunde über die weiten Felder vor uns, während wir auf einem behelfsmäßigen Tisch – einem alten Baumstumpf – unsere Schätze ausbreiteten.

ÜBERWÄLTIGT VON SCHÖNHEIT

Dann saßen wir unter den schattigen Bäumen, tranken unseren Kaffee, ließen den Blick über die weiten Wiesen vor uns schweifen, und ich war überwältigt von der Schönheit, die uns umgab. Die sanften Hügel am Horizont, die alten knorrigen Bäume und die verschlungenen Wege über die Felder. Außer dem Summen der Bienen und dem leisen gluckernden Bach war nichts zu hören. Wir atmeten Ruhe. Und Frieden. (Wir waren mit der Art von Freunden unterwegs, mit denen man wunderbar reden und ebenso wunderbar schweigen kann.) Irgendwann holte der Freund seine Gitarre und wir sangen ein paar Lieder zur Ehre Gottes, und es war, als würden wir einfach mit einstimmen in die Schöpfung, die Gott mit Psalmen lobte. So! Genau so fühlt sich ein perfekter Sonntag an, dachte ich bei mir. So kann es sein, wenn die Erde uns zum Ausruhen einlädt und nicht zur Arbeit. Dann nehmen wir ihre ganze Schönheit wahr.

Erst als sich die Sonne auf den Weg hinter die Hügel machte und dabei ihre warmen Strahlen über der Landschaft ausgoss, machten wir uns widerstrebend auf den Heimweg. Wir fuhren mit offenen Fenstern über die ruhige Straße und hielten unsere Gesichter dem erfrischenden Fahrtwind entgegen. Dem Kind fielen schon die Augen zu, aber ein glückliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Vielleicht träumt er schon. Von diesem besonderen Sonnen-Sonntag seiner Kindheit.

AUSZEIT – DAS LEBEN ENTSCHLEUNIGEN

Seit Jahren lese, höre und inhaliere ich alles, was ich zum Thema „Ruhe“ finden kann. Und dabei bin ich auch irgendwann beim Sonntag gelandet, inklusive der Beschäftigung mit dem jüdischen Schabbat. Das war ein wichtiger Richtungsweiser für mich! Am Anfang stand die pure Verzweiflung. Ein emotionaler Zusammenbruch auf unserem alten Sofa, neben meinem Mann sitzend, an einem Sonntagabend (Gott sei Dank habe ich einen sehr ruhigen und entspannten Mann!), bei dem ich ausrief: „So kann es nicht weitergehen! An unseren Sonntagen muss sich etwas ändern! Die Woche hat noch nicht mal angefangen, und ich bin schon völlig fertig!“ Das ist nun schon einige Jahre her. Und seither versuchen wir – in Babyschritten! –, den Sonntag zu heiligen und unser Leben zu entschleunigen.

Dabei habe ich auch gelernt: Viele Gesänge und Gebete drehen sich am Schabbat um die Schönheit der Schöpfung. Marva Dawn schreibt in ihrem Buch „Keeping the Sabbath Wholly“, dass unser Herz sich nach Schönheit sehnt und dass der Schabbat ein wunderbarer Tag dafür ist, sich an der Schöpfung zu freuen und dadurch in unserer Liebe für den großen Meister-Designer und Künstler zu wachsen. Ihre schönste Sonntagserinnerung ist, wie sie mit ihren Eltern und Geschwistern kleine Wanderungen durch den Herbstwald in Ohio unternommen hat: „Meine sonst so beschäftigten Eltern entspannten sich sichtbar in der schönen Natur. Sie bewunderten gemeinsam die Färbung der Blätter. In meiner Erinnerung wurde dieser Ausflug Jahr für Jahr noch schöner … Familienerinnerungen von glücklich verbrachter gemeinsamer Schabbat-Zeit sind wie ein Erbe, das wir unseren Kindern weitergeben. Sie werden ihnen nicht nur dabei helfen, ihren eigenen Schabbat auf gute Weise zu halten, wenn sie erwachsen sind, sondern sie werden an diesem Tag auch glückliche Kindheitserinnerungen haben.“

Das könnte immer mal wieder eine Frage für unseren Sonntag sein: Welche schöne Erinnerung will ich heute für meine Familie, für meine Freunde oder für mich ganz alleine schaffen?

SONNTAGSERINNERUNG

• Ausgebreitete Landkarten auf dem Wohnzimmertisch.
• Vesper-Rucksack von Papa.
• Mama, die über die Schranke zum Waldweg hüpft.
• Schilfgras flechten und Rindenschiffchen bauen.
• Im Waldsee baden. (Irgendwann hören, dass es dort
Wasserschlangen gibt und nie wieder im Waldsee baden!)
• Einkehren und Pommes mit Ketchup auf dem Teller.
• Blätter sammeln und abends im großen Fotoalbum
pressen.
• Heidelbeeren mit Zucker und Milch.
• Wilder Feldblumenstrauß auf dem Tisch.
• Gänseblümchen im Garten gießen.
• Warme Erde unter den Fingernägeln.
• Abendsonne, die hinter den Bergen verschwindet.
• Ins Bett tragen lassen.

Christina Schöffler ist Autorin und lebt mit ihrer Familie im Süden Deutschlands. Der Artikel ist ein Vorabdruck aus ihrem neuen Buch „Slow Living – Aus der Ruhe leben“, das im September bei Gerth Medien erschienen ist und 52 Impulse für Sonntags-Entdecker bietet.

Symbolbild: Getty Images / iStock / Getty Images Plus / JurgaR

Im Kloster lernte Sebastian Entschleunigung – So setzt er sie im Alltag um

Für Sebastian Steinbach flog der Alltag nur so dahin. Doch bei den Mönchen lernte er mit einem einfachen Ritual eine neue Achtsamkeit.

Mit der Zeit ist das eine seltsame Sache. Einer meiner geflüchteten Freunde hatte über zwei Jahre hinweg viel zu viel davon. Während er auf seinen Asylbescheid wartete, zogen sich die Tage schier endlos. Es gab keine Abwechslung, keine Aufgaben, keinen klaren Tag X, auf den er warten konnte. Nur Zeit. Beinahe unendlich viel Zeit. So viel, dass sie zu einem einheitlichen Brei verschmolz. Er hat an diese Zeit kaum mehr detaillierte Erinnerungen.

Ich selber leide eher unter dem entgegengesetzten Phänomen. Meine Zeit reicht nie aus. Meine Tage sind immer zu kurz. Zu viele Pflichten, Möglichkeiten und Interessen, dazu die eigene (wunderbare) Familie, Freundschaften und das Bedürfnis nach ein wenig Zeit für mich selbst. Jahr für Jahr, Woche für Woche, Tag für Tag rauschen nur so durch. Spätestens nach dem Frühstück saugt mich der Tag ein und spuckt mich erst am Abend wieder aus – oft mit dem nagenden Gefühl, wieder mal nicht genug geschafft zu haben. Meine Tage sind laut, voll und schnell. Und auf eine eigentümliche Weise verschmilzt die Zeit auch bei mir zu einer Art Einheitsbrei (wenn auch mit viel Abwechslung zwischendurch).

Leben in Klosterruinen

Jetzt habe ich das Glück, mitten in einem Kloster zu wohnen, denn das Pfarrhaus, in dem wir leben, steht innerhalb der Mauern des alten Klosters Hirsau. Das Kloster selbst besteht beinahe nur noch aus Ruinen, aber ein Dreischalenbrunnen plätschert vor meiner Haustür und wenn ich langsam über das Gelände spaziere, spüre ich eine heilsame Unterbrechung dieses Dahinfliegens. Etwas wird langsamer in mir. Ich erlebe Zeit in diesen Momenten für eine kleine Weile nicht als etwas, das mir fehlt oder wovon ich ständig zu wenig habe.

Seit meinen ersten Spaziergängen durch diese alten Klostermauern fasziniert mich deshalb das Mönchtum und ich war über die Jahre in verschiedenen Klöstern für Einkehrtage und Zeiten der Stille. Am stärksten berührt und geprägt haben mich dort die Tagzeitengebete, also die regelmäßigen Gebetszeiten, die sich über den Tag verteilen. Ich habe gestaunt: Selbst für Mönche und Nonnen verfliegt die Zeit, wenn sie nichts dagegen unternehmen. Auch im Kloster gibt es genug zu tun, genügend Aufgaben und Herausforderungen, die immer bis zum Abend reichen. Aus diesem Grund haben Mönche gelernt, sich zu unterbrechen: regelmäßig und mehrfach am Tag. Sobald die Glocken zum Gebet rufen, legen sie Stift oder Küchenmesser oder Gartenschaufel aus der Hand, eilen zum gemeinsamen Gebet … und werden dort still. Langsam. Kommen zur Ruhe. Lassen sich umhüllen und tragen von den alten, starken Worten der Psalmen. Empfangen neu Stille, Kraft, Fokus und Ermutigung. Und kehren dann anders in ihren Tag zurück.

Mir gefällt, was Anselm Grün in seinem Buch „Vom Burnout zum Flow“ schreibt: „Rituale schaffen eine heilige Zeit. Heilig ist das, was der Welt entzogen ist, worüber die Welt keine Macht hat. Heilig ist das, was Gott gehört: In der heiligen Zeit kann niemand über mich verfügen.“

Die Kraft der Rituale

Rituale wie die Tagzeitengebete haben die Kraft, mich aus dem Hamsterrad der Arbeit immer wieder herauszureißen. Sie bilden einen Ruhepunkt mitten in der Hektik des Alltags und befreien mich von dem Druck, dem ich mich ausgesetzt fühle. In den Tagzeitengebeten habe ich den Eindruck, dass ich selber lebe, anstatt von außen gelebt zu werden. Sie schenken mir kleine, aber kostbare und wirksame Räume der Freiheit. Sie geben meinem Tag Rhythmus, Tiefe und Qualität.

Bleiben zwei Herausforderungen. Zum einen haben es die Mönche und Nonnen mit solch heiligen Unterbrechungen leichter, weil sie in einer Gemeinschaft leben. Sie geben ihrem Tag gemeinsam einen Rhythmus. Die Zeiten sind vorgegeben, alle tun zur selben Zeit das gleiche. Ich als Nicht-Mönch muss mir diese Zeiten selbst geben und selbst einhalten. Und zum anderen muss ich diese Zeiten auch selbst gestalten. Klösterliche Tagzeitengebete sind komplex und alt und lang und auf gemeinsames Singen und Beten angelegt. Sie passen einfach nicht in meinen Alltag.

Meditation to Go

Aus diesem Bedürfnis heraus haben wir hier bei uns im alten Kloster Hirsau in den letzten Jahren einige moderne Tagzeitengebete für den Alltag entwickelt – zum Lesen und zum Hören. Sie wollen helfen, dem Tag einen Rhythmus zu geben und uns regelmäßig zu unterbrechen: am Morgen, am Mittag und am Abend. Es sind einige „Basic-Tagzeitengebete“ entstanden und der Tagzeitengebet-Podcast „Lebens-Liturgien für den Alltag“. Über unsere Website (amen-atmen.de) kann sich jeder und jede Einzelne das Kloster mit seinen Tagzeitengebeten und mit der Möglichkeit, eine Kerze zu entzünden, nach Hause holen.

Eine ganze Weile habe ich regelmäßig meine Tagzeitengebete gehalten und dabei viel für meinen Lebensrhythmus gelernt. Aktuell bin ich wieder freier unterwegs. Beibehalten habe ich jedoch die heilsamen Unterbrechungen am Morgen, am Mittag und am Abend. Während ich morgens viel mit den Tagzeitengebeten bete, lege ich mich nun mittags ein paar Minuten hin und praktiziere das alte orthodoxe Jesus-Gebet: Beim Einatmen spreche ich still in Gedanken „Jesus“, beim Ausatmen „Christus“. Abends lege ich mich oft für einige Minuten zu meinen Kindern, wenn ich sie ins Bett bringe und reflektiere dabei den Tag auf eine Weise, wie ich es in den Tagzeitengebeten gelernt habe. Ich spüre: Ich brauche diese Unterbrechungen. Sie verwandeln, wie ich Zeit erlebe, und schenken mir eine innere Ruhe und einen Frieden, die mir und anderen wohltun.

Sebastian Steinbach ist Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Hirsau.