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Im Kloster lernte Sebastian Entschleunigung – So setzt er sie im Alltag um

Für Sebastian Steinbach flog der Alltag nur so dahin. Doch bei den Mönchen lernte er mit einem einfachen Ritual eine neue Achtsamkeit.

Mit der Zeit ist das eine seltsame Sache. Einer meiner geflüchteten Freunde hatte über zwei Jahre hinweg viel zu viel davon. Während er auf seinen Asylbescheid wartete, zogen sich die Tage schier endlos. Es gab keine Abwechslung, keine Aufgaben, keinen klaren Tag X, auf den er warten konnte. Nur Zeit. Beinahe unendlich viel Zeit. So viel, dass sie zu einem einheitlichen Brei verschmolz. Er hat an diese Zeit kaum mehr detaillierte Erinnerungen.

Ich selber leide eher unter dem entgegengesetzten Phänomen. Meine Zeit reicht nie aus. Meine Tage sind immer zu kurz. Zu viele Pflichten, Möglichkeiten und Interessen, dazu die eigene (wunderbare) Familie, Freundschaften und das Bedürfnis nach ein wenig Zeit für mich selbst. Jahr für Jahr, Woche für Woche, Tag für Tag rauschen nur so durch. Spätestens nach dem Frühstück saugt mich der Tag ein und spuckt mich erst am Abend wieder aus – oft mit dem nagenden Gefühl, wieder mal nicht genug geschafft zu haben. Meine Tage sind laut, voll und schnell. Und auf eine eigentümliche Weise verschmilzt die Zeit auch bei mir zu einer Art Einheitsbrei (wenn auch mit viel Abwechslung zwischendurch).

Leben in Klosterruinen

Jetzt habe ich das Glück, mitten in einem Kloster zu wohnen, denn das Pfarrhaus, in dem wir leben, steht innerhalb der Mauern des alten Klosters Hirsau. Das Kloster selbst besteht beinahe nur noch aus Ruinen, aber ein Dreischalenbrunnen plätschert vor meiner Haustür und wenn ich langsam über das Gelände spaziere, spüre ich eine heilsame Unterbrechung dieses Dahinfliegens. Etwas wird langsamer in mir. Ich erlebe Zeit in diesen Momenten für eine kleine Weile nicht als etwas, das mir fehlt oder wovon ich ständig zu wenig habe.

Seit meinen ersten Spaziergängen durch diese alten Klostermauern fasziniert mich deshalb das Mönchtum und ich war über die Jahre in verschiedenen Klöstern für Einkehrtage und Zeiten der Stille. Am stärksten berührt und geprägt haben mich dort die Tagzeitengebete, also die regelmäßigen Gebetszeiten, die sich über den Tag verteilen. Ich habe gestaunt: Selbst für Mönche und Nonnen verfliegt die Zeit, wenn sie nichts dagegen unternehmen. Auch im Kloster gibt es genug zu tun, genügend Aufgaben und Herausforderungen, die immer bis zum Abend reichen. Aus diesem Grund haben Mönche gelernt, sich zu unterbrechen: regelmäßig und mehrfach am Tag. Sobald die Glocken zum Gebet rufen, legen sie Stift oder Küchenmesser oder Gartenschaufel aus der Hand, eilen zum gemeinsamen Gebet … und werden dort still. Langsam. Kommen zur Ruhe. Lassen sich umhüllen und tragen von den alten, starken Worten der Psalmen. Empfangen neu Stille, Kraft, Fokus und Ermutigung. Und kehren dann anders in ihren Tag zurück.

Mir gefällt, was Anselm Grün in seinem Buch „Vom Burnout zum Flow“ schreibt: „Rituale schaffen eine heilige Zeit. Heilig ist das, was der Welt entzogen ist, worüber die Welt keine Macht hat. Heilig ist das, was Gott gehört: In der heiligen Zeit kann niemand über mich verfügen.“

Die Kraft der Rituale

Rituale wie die Tagzeitengebete haben die Kraft, mich aus dem Hamsterrad der Arbeit immer wieder herauszureißen. Sie bilden einen Ruhepunkt mitten in der Hektik des Alltags und befreien mich von dem Druck, dem ich mich ausgesetzt fühle. In den Tagzeitengebeten habe ich den Eindruck, dass ich selber lebe, anstatt von außen gelebt zu werden. Sie schenken mir kleine, aber kostbare und wirksame Räume der Freiheit. Sie geben meinem Tag Rhythmus, Tiefe und Qualität.

Bleiben zwei Herausforderungen. Zum einen haben es die Mönche und Nonnen mit solch heiligen Unterbrechungen leichter, weil sie in einer Gemeinschaft leben. Sie geben ihrem Tag gemeinsam einen Rhythmus. Die Zeiten sind vorgegeben, alle tun zur selben Zeit das gleiche. Ich als Nicht-Mönch muss mir diese Zeiten selbst geben und selbst einhalten. Und zum anderen muss ich diese Zeiten auch selbst gestalten. Klösterliche Tagzeitengebete sind komplex und alt und lang und auf gemeinsames Singen und Beten angelegt. Sie passen einfach nicht in meinen Alltag.

Meditation to Go

Aus diesem Bedürfnis heraus haben wir hier bei uns im alten Kloster Hirsau in den letzten Jahren einige moderne Tagzeitengebete für den Alltag entwickelt – zum Lesen und zum Hören. Sie wollen helfen, dem Tag einen Rhythmus zu geben und uns regelmäßig zu unterbrechen: am Morgen, am Mittag und am Abend. Es sind einige „Basic-Tagzeitengebete“ entstanden und der Tagzeitengebet-Podcast „Lebens-Liturgien für den Alltag“. Über unsere Website (amen-atmen.de) kann sich jeder und jede Einzelne das Kloster mit seinen Tagzeitengebeten und mit der Möglichkeit, eine Kerze zu entzünden, nach Hause holen.

Eine ganze Weile habe ich regelmäßig meine Tagzeitengebete gehalten und dabei viel für meinen Lebensrhythmus gelernt. Aktuell bin ich wieder freier unterwegs. Beibehalten habe ich jedoch die heilsamen Unterbrechungen am Morgen, am Mittag und am Abend. Während ich morgens viel mit den Tagzeitengebeten bete, lege ich mich nun mittags ein paar Minuten hin und praktiziere das alte orthodoxe Jesus-Gebet: Beim Einatmen spreche ich still in Gedanken „Jesus“, beim Ausatmen „Christus“. Abends lege ich mich oft für einige Minuten zu meinen Kindern, wenn ich sie ins Bett bringe und reflektiere dabei den Tag auf eine Weise, wie ich es in den Tagzeitengebeten gelernt habe. Ich spüre: Ich brauche diese Unterbrechungen. Sie verwandeln, wie ich Zeit erlebe, und schenken mir eine innere Ruhe und einen Frieden, die mir und anderen wohltun.

Sebastian Steinbach ist Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Hirsau.