Craftivist – Die etwas andere Form von Protest
Aktivismus muss nicht immer laut und aufdringlich sein oder den Straßenverkehr lahmlegen. Wie sanft kreative Kampangnen für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit sein können, erzählt die Engländerin Sarah Corbett im Interview.
Wer als Tochter eines Pfarrers und einer Kommunalpolitikerin aufwächst, kennt ein öffentliches Leben von Kindesbeinen an. Auch mit sozialen Fragen kam Sarah Corbett früh in ihrer heimischen Küche in Liverpool in Berührung. Da war der berufliche Weg nicht weit zu sozialen Organisationen wie Oxfam und Christian Aid, wo sie Öffentlichkeits-Kampagnen organisierte. Doch ihrer introvertierten und hochsensiblen Persönlichkeit entsprach die Arbeit oft nicht. Sie entdeckte für sich den „Craftivism“, ein Kofferwort aus „Craft“ (Handarbeit) und „Activism“ (Aktivismus). Aus kleinen Anfängen in einer Bibliothek ist inzwischen eine weltweite Bewegung des „sanften Protests“ geworden, die mit handgestalteten Projekten schon Firmenetagen und Abgeordnete zum Umdenken gebracht hat.
Über Ungleichheit reden
Wie kam es dazu, dass du das Craftivist-Kollektiv gegründet hast?
Im Jahr 2008 brannte ich beruflich wie privat immer wieder aus, weil ich ein introvertierter und hochsensibler Mensch bin. Ich war erschöpft, obwohl mir die Themen, für die ich mich einsetzte, wirklich am Herzen lagen. Dann kam für mich ein Wendepunkt. Ich saß in einem Zug nach Glasgow und hatte keine Kraft, meine Berichte zu schreiben. In einem kleinen Laden kaufte ich spontan ein Teddy-Nähset, weil ich etwas mit meinen Händen machen wollte. Sofort merkte ich, wie die Arbeit mit Nadel und Faden mir half, runterzukommen. Ein älteres Ehepaar, das mir gegenübersaß, fragte plötzlich: „Oh, was machen Sie denn da?“ Da dachte ich: Wenn ich ein Zitat von Ghandi hineinsticken würde, dann könnten wir über Ungleichheit reden – und nicht über einen Teddy …
Das war die Geburt einer ganzen Bewegung?
In dem Moment überkam mich die Ahnung: Vielleicht kann Aktivismus nicht nur heißen, Menschen mit einem Megafon anzubrüllen, sondern vielleicht kann es auch heißen, etwas zu tun, das Menschen Fragen stellen lässt. Und vielleicht kann Handarbeit dabei nützlich sein. Ich habe dann gegoogelt und fand heraus, dass es den Begriff „Craftivism“ schon gibt. Die Amerikanerin Betsy Greer benutzt ihn seit 2003. Ich habe dann Kontakt zu ihr aufgenommen und sie hat mir erlaubt, den Begriff zu verwenden.
Startpunkt Bibliothek
Wie hast du dann ganz praktisch losgelegt?
Ich startete einen Blog und ging mit ein paar Leuten in die Bibliothek, um kleine Protestbanner zu basteln. Die Gruppe hat sich ganz organisch zusammengefunden, aber sehr bald schon wollten Leute aus der ganzen Welt mitmachen und Bastelkits haben. Immer mehr Medien wurden darauf aufmerksam. Und dann baten mich Museen, Veranstaltungen durchzuführen und soziale Organisationen wollten, dass ich sie bei Kampagnen unterstützte. Es war eine verrückte Reise, die ich so niemals geplant hatte.
Aktivismus klingt nicht danach, als könnte man viel Geld verdienen. Wovon lebst du?
Zunächst war es nur ein Hobby, aber dann bekam ich immer mehr Anfragen, sodass ich seit 2012 hauptberuflich Craftivistin bin. Den Großteil meiner Arbeit für Organisationen leiste ich ohne Bezahlung oder für wenig Geld. Deshalb habe ich mir einen Kreis von über hundert Unterstützern aufgebaut, die meine Arbeit mit 10 Pfund pro Monat fördern.
Wie kommt es, dass dir Einsatz für soziale und nachhaltige Themen so am Herzen liegt?
Ich bin in einem aktivistischen Umfeld als Tochter eines Pastors und einer Kommunalpolitikerin aufgewachsen. Ob es Kampagnen zur Rettung von Sozialwohnungen oder gegen die Apartheid in Südafrika waren – die meisten Planungstreffen fanden in unserer Küche statt. Direkt vor unserer Haustür in Everton, einer sozialschwachen Gegend in Liverpool, wurde ich mit Drogenproblemen und Arbeitslosigkeit konfrontiert. Es gab eine Menge Ungleichheit, die ich einfach nicht ignorieren konnte. Aktivismus war schon immer Teil meines Glaubens. Wenn wir wollen, dass unsere Welt ein glücklicher, harmonischer Ort ist, müssen wir uns sowohl um die Gesundheit des Planeten als auch um die der Menschen auf ihm kümmern. Für mich ist jeder Mensch ein Kind Gottes – und ich habe das Gefühl, dass Gott mir Gaben und Talente gegeben hat, die ich einsetzen soll, um die Welt ein Stück weit zu einem besseren Ort zu machen.
Emotionale Intelligenz
Wie unterscheidet sich Craftivismus von anderen Arten des Aktivismus?
Es geht darum, gegen etwas zu protestieren, aber sich dabei proaktiv auf eine Lösung zu fokussieren. Das Wort „Sanftmut“ tauchte immer wieder in meinem Kopf auf. Es geht um emotionale Intelligenz: Menschen zu lieben, mit denen man vielleicht nicht einer Meinung ist. Nachhaltig zu sein, damit man als Aktivist nicht ausbrennt – also auch sanftmütig zu sich selbst zu sein. Das eigene Verhalten genauso infrage zu stellen wie das der anderen.
Sind die anderen Formen damit überflüssig?
Craftivismus sollte als ein Werkzeug im Aktivismus-Werkzeugkasten gesehen werden. Wir brauchen immer noch Demos, Petitionen und Megafone. Wir brauchen alle Formen des Aktivismus, um unterschiedliche Menschen zu erreichen. Aber Craftivismus ist besonders gut geeignet, um das Tempo zu drosseln und strategischer zu denken – indem man zum Beispiel Beziehungen zu Machthabern aufbaut oder durch kleine handgemachte Geschenke die Aufmerksamkeit von Medien auf sich zieht, die normalerweise nicht über ein bestimmtes Thema berichten würden.
Kritische Freunde statt aggressive Feinde
Was macht ihr als Craftivist– Kollektiv konkret?
Ich habe einige Projekte, die sich mit dem Klimawandel oder der Modeindustrie befassen. Zum Beispiel eine Klimakampagne mit handgefertigten Kanarienvögeln mit der Aufschrift: „Helfen Sie uns, auf einem gesunden Planeten zu leben.“ Die Craftivisten haben sie ihren lokalen Parlamentsabgeordneten geschickt, um sie für den Klimawandel zu sensibilisieren.
Welche Reaktionen erlebt ihr darauf?
Wer etwas bekommt, das so liebevoll und handgemacht gestaltet ist, dem fällt es schwer, unsere Arbeit abzulehnen. So werden wir eher als kritische Freunde gesehen statt als aggressiver Feind. Wir haben auch kleine Papierrollen gebastelt und sie mitgenommen in Modeläden, die nicht nach ethischen Maßstäben arbeiten. Dort haben wir sie in die Taschen von Kleidungstücken gesteckt, damit sie später zu Hause von den Kunden gefunden werden. Wenn die Leute sie öffnen, erfahren sie, welche Geschichte hinter diesem Kleidungsstück steckt mit einem Hinweis, wo sie mehr über die Kampagne erfahren können.
Geschäftsführung denkt um
Gab es Erfolge in eurer bisherigen Arbeit, die ihr sehen konntet?
Unsere Geschichte mit der britischen Kaufhauskette Marks & Spencer war sehr besonders. Einige Craftivisten haben Aktien gekauft, um als Aktionäre an der Jahreshauptversammlung teilnehmen zu können. Jedem der 14 Vorstandsmitglieder haben wir ein handbesticktes Taschentuch geschenkt, auf dem stand: „Don’t blow it“ – ein Wortspiel aus „hineinschnäuzen“ und „vermasseln“. Es ging um eine Lohnerhöhung für die 40.000 Beschäftigten, damit sie den „Voluntary Real Living Wage“ bekommen – also nicht nur den gesetzlichen Mindestlohn, sondern einen freiwillig höheren, existenzsichernden Lohn.
Was sollten die Taschentücher bewirken?
Uns ging es um die Botschaft: „Wir sind nicht hier, um Sie zu beschimpfen und zu sagen, dass Sie ein schrecklicher Mensch sind. Nutzen Sie Ihre Macht für das Gute. Wir wissen, dass Sie einen schwierigen Job haben, aber in unserer Rolle als Kunden und Aktionäre ermutigen wir Sie, Menschen zu helfen, ein gutes Leben zu führen, indem Sie den existenzsichernden Lohn zahlen.“ Schon zu Weihnachten hatten wir der Geschäftsführung selbstgemachte Weihnachtskarten geschickt mit der Aufschrift: „Alles, was wir uns zu Weihnachten wünschen, ist der existenzsichernde Lohn für Ihre wundervollen Kollegen.“
Und wie hat das Unternehmen darauf reagiert?
Es hat sich zu einem Treffen mit uns bereiterklärt. Und vor der nächsten Jahreshauptversammlung verkündete Marks & Spencer, dass sie das Gehalt der Angestellten anheben und in Zukunft den existenzsichernden Lohn zahlen würden. Uns persönlich sagten sie, dass wir mit der Art und Weise, wie wir auf sie zugegangen sind, wirklich etwas bewirkt haben.
Ein scharfer Verstand und ein weiches Herz
Kommt es oft vor, dass Auswirkungen eurer Kampagnen so sichtbar werden?
Aktivismus ist kein Erfolgsrezept. Ich muss Craftivisten immer wieder daran erinnern, dass wir die Herzen der Menschen, die Politik und die Gesetze nicht ändern können. Wir können nur versuchen, sie positiv zu beeinflussen. Selten sieht man eine unmittelbare Reaktion wie bei Marks & Spencer. Aber ich bekomme viele Rückmeldungen von Craftivisten selbst. Eine Frau schrieb mir zum Beispiel: „Seit dem Projekt mit den Fashion Statements habe ich immer eine der kleinen Papierrollen in meiner Handtasche und wenn ich einkaufen gehe, erinnert sie mich an die Frage: ‚Brauche ich das wirklich und ist das ethisch vertretbar?‘“ Ich versuche also realistisch zu bleiben, freue mich über Feedback, aber lasse auch los, wenn wir unser Bestes gegeben haben.
Welche Rolle spielt dein Glaube in deinem Engagement?
Das Craftivist-Kollektiv ist säkular und multireligiös. Aber ich selbst bin praktizierende Christin und meine Arbeit ist stark vom christlichen Blickwinkel motiviert: Alle Menschen sind nach Gottes Ebenbild geschaffen, also behandle sie so, wie du selbst behandelt werden möchtest. Ich fand es nie hilfreich, wenn Aktivisten sagen: „Alle Politiker sind korrupt, alle Banker sind habgierig!“ – Aktionen, die sich auf die Personen und nicht auf die Politik richten. Ich glaube nicht, dass Jesus so handeln würde. Es geht darum, so klug wie eine Schlange und so sanft wie eine Taube zu sein – also einen scharfen Verstand und ein weiches Herz zu haben. Ich erwähne meinen Glauben nicht immer auf der Bühne – das kommt auf die Situation an. Aber er beeinflusst viel von meiner täglichen Arbeit.
Interview: Maya Knodel