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Gründerinnen Constanze Klotz und Charlotte Erhorn. Foto: Bridge and Tunnel

Nachhaltige Mode: Neue Jeans aus alten Stoffen

Bei „Bridge and Tunnel“ stellen talentierte Frauen aus verschiedenen Ländern aus zerschlissenen Jeans neue Schätze her. Die Entwürfe des Hamburger Labels wurden schon mit dem German Design Award ausgezeichnet.

In einem Gewerbegebiet im Hamburger Süden, hinter Reifenhandel und Autolackiererei, kommt links die Einfahrt. Die Gebäude hier ähneln denen anderer Gewerbekomplexe, aber dieses Areal wirkt nicht anonym und menschenleer. Topfpflanzen und Lastenräder stehen vor den Türen, Menschen werkeln herum, eine Gruppe Schüler hält Raucherpause auf dem Hof. Etliche Vereine und Sozialträger haben sich hier angesiedelt: Kleiderkammer, Sprachkurse, ein alternativer Kaffeehandel. Mittendrin, irgendwo im zweiten Stock: ein 280 Quadratmeter großes Atelier. In Regalen hoch bis zur Decke sind ausrangierte Jeans gestapelt.

ZUKUNFTSPROZESS

Das Modelabel Bridge&Tunnel ist hier seit 2016 zu Hause – anfangs unter dem Dach eines Sozialträgers, mittlerweile als eigenständige GmbH. Von Schmucketuis über Hipbags und Jacken bis hin zu großen Plaids sind mittlerweile viele Produkte im Online-Shop erhältlich. Daneben werden Upcycling- und Reparaturaufträge verschiedener Firmen und Vereine übernommen.

Im Atelier herrscht gelöste Konzentration. Am Fenster arbeiten Näherinnen aufmerksam über ihre Maschinen gebeugt. Am großen Schneidertisch in der Mitte fachsimpeln Mitarbeiterinnen über neue Entwürfe für Weihnachten.

Seine Wurzeln kann das kleine Unternehmen bis zu einem Projekt eines engagierten Bürgerkreises zurückverfolgen, der um das Jahr 2000 einen Zukunftsprozess für den verwahrlosten Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg anstieß. Behörden wurden ins Boot geholt und gemeinsam erarbeitete man Perspektiven: neue Wohnungen, verbesserte Verkehrsanbindung und Bildung. Schließlich nahm man die anstehende Internationale Bauausstellung 2013 zum Anlass, den Stadtteil auf der Elbinsel unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten weiterzuentwickeln. Auch Kultur- und Kreativprojekte sollten begleitend im international geprägten Stadtteil entstehen.

Das war der Punkt, an dem Constanze Klotz dazustieß. Ich treffe sie im Atelier. Sie führt mich von der großen offenen Halle über eine Stahltreppe hinauf zur Balustrade mit Blick über das Geschehen. An einem Holztisch nehmen wir Platz und sie erzählt von den Kreativprojekten der IBA, deren Projektleitung sie als Kulturwissenschaftlerin übernahm. „Wir wussten, hier auf der Elbinsel beherrschen viele Leute das Handwerk noch ganz anders, weil es in ihrem Herkunftsland eine andere Rolle spielt“, erzählt Conny. „Deshalb hat die IBA damals gesagt: Ein Ort, wo textile Skills gefördert werden, wäre doch total cool.“

Geplant wurde ein Coworking-Space für Mode- und Textildesign, mit viel Freiraum für Kreativität. Nähmaschinen und Geräte für Siebdruck standen bereit. Allein übernehmen wollte Conny das Projekt auf Dauer aber nicht: „Ich kann ganz vieles, aber nicht nähen, und so haben wir jemanden gesucht, der den operativen Bereich stemmt und Workshops konzipiert.“ Das Jobangebot teilte Conny über Facebook, wo sie seit ein paar Jahren auch schon mit Charlotte Erhorn lose verbunden war. „Zwei Minuten später hat Lotte mir eine E-Mail geschrieben: ‚Conny, du suchst mich!‘“ Lotte war gerade in den Stadtteil gezogen und wünschte sich eine Teilzeitstelle im Kreativbereich. „Wir waren also erst Kolleginnen und sind dann richtig gute Freundinnen geworden. Und ich glaube, es ist total gut, dass wir ohne Gepäck erst mal in die berufliche Beziehung gestartet sind, und dann konnte sich über die gegenseitige berufliche Wertschätzung auch die private etablieren.“

NÄHKURS IN DER MOSCHEE

Nach dem Anschub durch die Bauausstellung ging der Co-Working-Space an einen sozialen Träger über. Kreative mieteten sich ein, Menschen aus der Nachbarschaft kamen zu Workshops. Jemand erzählte von einem Nähkurs in der Moschee, für den jedes Mal alle Maschinen hin- und hergeräumt werden mussten. Conny und Lotte luden die Frauen kurzerhand in ihre Räume ein. Zu sehen, welche großen Nähfertigkeiten sie aus ihren Herkunftsländern mitgebracht hatten, führte zu weiteren Überlegungen. „Bei uns in Deutschland braucht man ja für alles Zertifikate und Diplome“, sagt Conny, „aber man kann großartige Talente und Fähigkeiten nicht nur damit messen.“ Viele der Frauen waren schon seit 15 oder 20 Jahren in Deutschland, hatten aber noch nie eine sozialversicherungspflichtige Stelle gehabt. „Wir haben gesagt: ‚Näh doch mal vor, zeig doch mal, ob du dieses Produkt nähen kannst‘“, erzählt Conny. „‚Wie lange brauchst du dafür? Wie ist die Qualität?‘ Wenn man sich die Zeit nimmt, kann man ziemlich gut erfassen, ob es passt.“

Und bei vielen Frauen passte es. Conny und Lotte trafen die Entscheidung: Sie gründeten ein Label, das Menschen in Arbeit bringt, die sehr gut nähen können, unabhängig davon, ob sie ein Zeugnis haben. Es geht ihnen um die Frauen, aber auch darum, das lokale Handwerk wieder stark zu machen. „Wir versuchen, textiler Arbeit ein Gesicht zu geben, dass die Leute sichtbar werden, die die Produkte nähen“, sagt Conny. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass auf den Waschlabels in den Produkten immer reihum eine Näherin unterschreibt. Und öfter reagieren Kundinnen darauf und mailen zurück: ‚In meinem Blouson steht drin, er wurde von Mandeep genäht. Vielen lieben Dank noch mal an Mandeep!‘ Das stärkt die Wertschätzung für die Menschen, aber auch für die Mode. Gut vorstellbar, dass Kleidungsstücke, deren Geschichte man ein bisschen kennt, länger und sorgsamer getragen werden.

EXPERIMENTE MIT JEANS

Der Labelname Bridge&Tunnel spielt auf die Lage des Stadtteils an: Gelegen auf einer Flussinsel, ist er nur über Brücken und Tunnel zu erreichen. Vielleicht nicht zufällig erinnert er auch an Gürtelschlaufen und Hosenbeine – und ganz sicher daran, dass Frauen hier eine Brücke in den Arbeitsmarkt finden.

Das Signature Piece, das wiedererkennbare Stück in ihrem Online-Shop, ist das Oberteil aus schräg zusammengenähten Jeansteilen, den es als Sweater und Blouson gibt. Schon zu Zeiten vom Coworking-Space hatten sie die LKWs beobachtet, die regelmäßig die Kleiderkammer auf demselben Gewerbehof belieferten – randvoll beladen mit Altkleidern. Darunter viele Jeans. Damit begannen sie zu experimentieren. „Wenn Jeans kaputtgehen, sind die ja maximal am Knie, am Popo kaputt. Aber die komplette Beinvorder- und Rückseite kann man noch supergut benutzen, wenn man sie in Filetstreifen schneidet.“ So nahmen sie die Hosen, die zu zerschlissen waren, um sie noch an Bedürftige weiterzugeben, mit in die Werkstatt und experimentierten. „Wir haben einen Teppich geflochten, ein paar Taschen ausprobiert und haben gemerkt: Das ist ein richtig gutes Material.“

Micht alle ihre Stücke sind aus Jeans, aber alle wurden schon einmal benutzt oder stammen aus Produktionsresten. Und das ganz bewusst.

SCHON EINMAL GELIEBT

„Mode ist ein krasser Klimakiller“, erklärt Conny. „Viele Leute wissen das nicht oder blenden es aus. Aber die Textilindustrie mit allen Stoffen und Vorhängen, Berufsbekleidung und so weiter ist laut Schätzungen für mehr Treibhausgase verantwortlich als Flugindustrie und Kreuzfahrt.“ Berechnungen gehen davon aus, dass weltweit bald 200 Milliarden Kleidungsstücke produziert werden – jedes Jahr. Mitsamt allen Konsequenzen wie Ressourcenverbrauch und CO2-Output. Die Frage ist: Wie lässt sich die Modeindustrie umkrempeln?

Ein zukunftsfähiger Ansatz ist, Materialien zu nutzen, die bereits da sind. „Deshalb verarbeiten wir nur Jeans, die schon mal an zwei Beinen durchs Leben gelaufen sind“, sagt Conny schmunzelnd. Zusätzlich wird der Lagerbestand für den Shop bewusst überschaubar gehalten. Produziert wird, wenn Kundinnen und Kunden bestellen. Verpackt und verschickt wird gleich vor Ort.

Neben dem Shop für Privatkunden setzen Conny und Lotte auf die Zusammenarbeit mit Unternehmen und Vereinen. Auch hier sind immer gebrauchte Stoffe im Spiel. Mal werden alte Banner auf Wunsch zu Weekendern oder ausrangierte Arbeitskleidung zu Hipbags, mal werden Waren repariert, die mit kleinen Fehlern angeliefert wurden. Ein allgemeiner Reparaturservice ist das neuste Standbein.

IMMER KREATIVE LÖSUNGEN

Die Daseinsform von Bridge&Tunnel sei für manche schwer zu greifen, erzählt Conny. „Wir empfinden uns da als Weltenwandlerinnen. Manchen sind wir für eine Zusammenarbeit zu sozial, für manche Fördergelder sind wir zu wirtschaftlich.“ Schwarze Zahlen schreibt Bridge&Tunnel auch nach sieben Jahren noch nicht ganz. „Als kleines Unternehmen zwei Jahre Pandemie abzufedern, war schon crazy genug“, sagt Conny. „Dann startet der schreckliche Krieg in der Ukraine. Inflation und Konjunkturschwäche erschweren natürlich gerade kleinen Firmen mit wenig Rücklagen das Leben.“ Leute gucken stärker, wofür sie Geld ausgeben – und landen oft wieder bei Fashion und Waren, die billig zu haben sind. Verständlich, findet Conny, ihr gehe es nicht anders, aber es gefährde aktuell viele Firmen und Initiativen, die fair und nachhaltig arbeiten – Modelabel genauso wie Unverpacktläden und Biobetriebe. „Und dann gehen die Konzepte nicht auf, obwohl die eigentlich genau das transportieren, was wir uns doch für die Zukunft wünschen.“

Das Gehalt einiger Mitarbeiterinnen wird durch ein Programm des Jobcenters gefördert, was sehr hilft. Und sonst bleiben sie hartnäckig, um immer wieder kreative Lösungen zu finden: „Wir machen viel Fundraising, haben seit sieben Jahren eine tolle Partnerschaft mit einer großen Firma, seit letztem Jahr haben wir einen Investor an Bord.“

ZEIT FÜR NACHHALTIGKEIT

Wenn man mit Conny spricht, kann man sich ihren Spaß am Netzwerken gut vorstellen – und ihr Geschick, auch mit Wirtschaftsleuten über Kooperationen ins Gespräch zu kommen. Eine ansteckende Leidenschaft für die Themen hilft sicher zusätzlich – und Lotte mit ihrer Begabung für Design, Technik und Finanzfragen klingt nach der perfekten Business-Partnerin.

Ihre Mitarbeiterinnen arbeiten bewusst nur 20 Stunden, damit genug Zeit für Familie und anderes bleibt. Für die Gründerinnen gilt das nicht: „Wir arbeiten rund um die Uhr“, lacht Conny, „aber mit voller Begeisterung.“ Drei Tage sind beide im Atelier, zwei Tage im Homeoffice. Beide haben zwei Kinder und ihren Alltag gut organisiert. „Wenn keiner krank ist, läuft das super“, sagt Conny. Ihre erste Tochter kam im zweiten Jahr nach der Gründung zur Welt und stand oft in der Babywippe im Atelier – zur Freude der Mitarbeiterinnen. Und auch heute kommen die Kinder öfter mal mit, wenn Betreuung ausfällt und auch die Väter Termine haben. Ohnehin ist es ihnen wichtig, ihren Kindern die Werte von Nachhaltigkeit und Wertschätzung zu vermitteln. Und nicht nur ihnen. „Wir wollen auch in die Gesellschaft hineinwirken und sagen: Mode ist kein Bubble-Thema. Sie geht uns alle an. Niemand ist nackt.“

Wir alle treffen dauernd Kaufentscheidungen. Und ob wir Gebrauchtes kaufen, auf Siegel achten oder billige Schnäppchen jagen, hat Auswirkungen. Für nachhaltige und oftmals hochpreisige Modelabels hat allerdings nicht jeder das passende Budget. „Und das sind auch nicht diejenigen, an die wir uns wenden. Wir richten uns an diejenigen, die die Möglichkeit hätten, sich die Zeit zu nehmen, um nachhaltiger zu kaufen, es aber – auch aus Gewohnheit an Fast Fashion – nicht tun.“

VIELFALT VON WEGEN

Eine faire Produktion aus gebrauchten Materialien in Deutschland ist zweifellos nachhaltig, aber auch für Conny nicht der einzige Ansatz. Denn ob es sinnvoll wäre, unsere sämtliche Kleidung komplett in Europa fertigen zu lassen, ist fraglich. Zum Beispiel, weil dann Näherinnen in Bangladesch oder Vietnam arbeitslos würden. „Ich glaube, es braucht ganz viele verschiedene Ansätze, die auf unterschiedliche Art nachhaltig sind“, sagt Conny. Secondhand gehört genauso dazu wie faire Fabriken im Globalen Süden oder auch das Recycling von Fasern aus abgetragener, geschreddeter Kleidung.

„Unsere Textilien, die wir upcyceln, sind ja schon hier – die zurück nach Bangladesch zu transportieren, macht keinen Sinn.“ Gleichzeitig müssen konsequente Lieferkettengesetze für menschenwürdige Arbeitsbedingungen im Globalen Süden sorgen. Wenn Arbeiterinnen Windeln tragen müssen, weil in ihren 14-Stunden-Schichten keine Zeit ist, aufs Klo zu gehen, dann liegen die notwendigen Verbesserungen auf der Hand. „Und das klappt vor allem dann, wenn wir uns bewusst werden, wie wir konsumieren“, sagt Conny. „Denn natürlich gibt es eine Wechselwirkung: Wenn wir weiter günstige Kleidung nachfragen, wird immer weiter viel günstige Kleidung produziert.“

Wie man es dreht und wendet – am Ende ist und bleibt aber der entscheidende Schlüssel für den Modekonsum die Menge: Wenn wir meinen, viel Neues zu brauchen, werden viele Ressourcen verbraucht, Müll und Emissionen fallen an – und die Preise müssen niedrig sein. Wenn wir uns auf wenige Teile beschränken, kann das einzelne Kleidungsstück mehr kosten und eine faire Produktion wird möglich.

Sich selbst nehmen die beiden Unternehmerinnen aus dieser Denke nicht heraus. In diesem Jahr haben sie sich beide eine Challenge gestellt: Lotte hat sich eine „Capsule Wardrobe“, eine feste Garderobe aus 30 Kleidungsstücken zusammengestellt – ausschließlich aus Second-Hand-Stücken. Conny hat eine „Outfit Repetition“ gemacht: Vier Wochen lang hat sie jeweils ein Kleidungsstück eine Woche lang getragen und immer anders kombiniert. „Ich kenne jetzt viel mehr Kombinationsmöglichkeiten für meine Kleidungsstücke. Es ist eben alles Übung.“

Übung hilft zweifellos beim nachhaltigen Modekonsum – und Wertschätzung gehört unbedingt dazu: Wertschätzung für Kleidung, Menschen, Talente, Stoffe, Handwerk, letztlich für unsere Schöpfung. Als ich die Stahltreppe wieder heruntersteige, arbeitet gerade eine Mitarbeiterin am Schneidertisch. Auf ihrem T-Shirt steht: „Liebe. Immer.“ Wie passend hier, denke ich.

Anja Schäfer ist Redaktionsleiterin von andersLEBEN. Online-Shop von Bridge and Tunnel: bridgeandtunnel.de

Das Unperfekthaus in Essen. Foto: Nathanael Ullmann

Pulsierend, kreativ, vielfältig: Das Unperfekthaus in Essen

Das Unperfekthaus in Essen bietet vielen Kreativen eine Spielwiese. Ob Business, Kunst oder Hobby – hier ist Platz für alle, die Räume suchen, um sich auszuprobieren. Ein Rundgang mit dem Gründer Reinhard Wiesemann.

Vor Gründer Reinhard Wiesemann steht eine Kaffeemühle. Das Schmuckstück ist eine echte Antiquität, aus Holz gebaut, mit kunstvollem Rad verziert. Doch statt Kaffeemehl produziert diese Mühle Licht. Obenauf steckt eine Glühbirne. In der Schublade findet sich der Schalter. „Die ist toll, was soll die kosten?“ „Ich wollte dafür 150 haben“, sagt Christoph Gropp. Er hat das Unikat gebaut. „Das ist viel zu wenig“, entgegnet Wiesemann. Und dann: „Ich kauf sie. Für 249,99 Euro.“ Der Bastler kann sein Glück kaum fassen. Erst, als er das Geld in den Händen hält, dämmert ihm, dass das Angebot kein Scherz war. Es sind solche Momente, in denen das Unperfekthaus sein volles Potenzial entfaltet.

Dass das Unperfekthaus in Essen, kurz UPH, ein außergewöhnlicher Ort ist, wird auf den ersten Blick deutlich. Umgeben von Prunkbauten wie der riesigen Mall und dem Firmensitz der Funke Mediengruppe wirkt es wie ein architektonischer Punk. Die fünfstöckige Fassade zieren Bilder von Abraham Lincoln, Joseph Beuys und anderen Persönlichkeiten. Vom Dach bis zum Boden biegt sich eine Murmelbahn. Das Konzept im Innern ist provozierend einfach: Das Haus ist voll mit Musikinstrumenten, Werkzeugen und Spielen. Die Gäste dürfen alles frei nutzen. Was sie in dem Haus anstellen, ist ihnen überlassen. Ob Kunst oder Business, Beruf oder Hobby, populär oder Nische – das ist egal.

Corona hat alles verändert

Reinhard Wiesemann ist der Vater dieser Idee. Gerade ist er auf Stippvisite in seinem eigenen Haus. Abends wird er hier einen Themenabend moderieren. Er steht in der Küche im Erdgeschoss und hält einen Plausch mit einem Mitarbeiter. Sein grüner Pulli und seine randlose Brille erinnern ein wenig an den unaufgeregt charmanten Stil eines Bill Gates. Der wahre Blickfang sind seine Augen: Stets spiegeln sie ein uneingeschränktes Interesse am Gegenüber und eine kindliche Freude am Austausch.

Nach ein paar Minuten in der Küche startet Wiesemann seinen Rundgang. Er hat noch nicht ganz die neonleuchtende Treppe zur ersten Etage erklommen, da macht er schon klar: Es ist viel passiert in den letzten Jahren des Unperfekthauses. „Ich habe gelernt, dass unperfekt heute etwas anderes bedeutet als 2004.“ Früher seien die Besucherinnen und Besucher vor allem handwerklich begabt gewesen, heute laufe vieles virtuell. Den Leuten komme es auch viel mehr auf eine schöne Atmosphäre an. Entsprechend hat sich das Haus über die Coronazeit angepasst. Die Veränderungen werden schon auf der ersten Etage mehr als deutlich.

Dort findet sich seit neuestem der UPH-Kunstladen. Aus der Fensterfront strahlt das Licht auf das Holz der Inneneinrichtung. An Haken und in Kisten warten ausgewählte Stücke auf Käuferinnen und Käufer: Kissen und Mützen, stets mit Kunstdrucken versehen, Gemälde, Postkarten. Inmitten dessen steht Sebastian Kentzler, der den Laden zusammen mit Susanne Kampling nebenberuflich führt, und sortiert ein paar T-Shirts. Wiesemann und er grüßen sich und wechseln ein paar warme Worte.

Angesprochen auf seinen Laden gerät er ins Schwärmen: Werke von 40 Kunstschaffenden biete der Kunstladen an, die meisten aus dem UPH selbst. Vor allem liebe er dabei den Gedanken, die weniger technikaffinen Künstlerinnen und Künstler zu unterstützen: „Sie hätten das alleine nie geschafft, ihre Kunst auf die Produkte zu bringen.“ Die im UPH ausgestellten Werke seien dabei nur ein Bruchteil dessen, was der Laden zu bieten habe. Der Fokus des Ladens liege im Online-Geschäft. Corona hat auch hier ein Zeichen gesetzt.

Hobbykeller de luxe

Wiesemann zieht weiter, in das Herzstück des Unperfekthauses. Konferenzräume finden sich hier, weitläufige Lounge-Flächen und Kunststände an den Seiten. Der Weg hinein führt an einer Schranke vorbei. Neun Euro kostet das „Basis-Clubticket“. Mit ihm können die Besuchenden alle Bereiche des Hauses erkunden, Kaffee und Softdrinks sind inklusive. Ob Menschen den Kreativen über die Schulter schauen wollen oder selbst aktiv werden, können sie selbst entscheiden. Möchte jemand hier dauerhaft eine Bleibe finden, stehen verschiedene Modelle zur Auswahl. Wer das UPH beispielsweise lediglich als Coworking-Space nutzt und sich nicht ins Haus einbringt, zahlt glatte 200 Euro im Monat. Wer selbst mit anpackt, für den ist die Miete deutlich günstiger.

„Die Innenstadt ist voller Orte, an denen man etwas kaufen kann. Das hier ist der einzige Ort, an dem man selbst etwas tun kann“, sagt Wiesemann. Die Idee zu dem Haus ist tief in seiner Kindheit verwurzelt. Der junge Reinhard hatte bei seinen Eltern einen Hobbykeller zur Verfügung. Hier bastelte er nach Herzenslust an Elektronik. Diese Experimentierfreude zahlte sich aus: Bei einem europaweitem Wettbewerb im Stile des heutigen „Jugend forscht“-Wettbewerbs gewann er in Deutschland den ersten, in Europa den zweiten Platz. Noch im Studium gründete er ein eigenes Technikunternehmen. Und das lief so gut, dass der Erfinder sein Studium nach sechs Semestern abbrach.

Mit dem UPH wollte er anderen Menschen das Gefühl seiner Kindheit zugänglich machen. Das Haus in Essen ist sein überdimensionierter Hobbykeller. Ehemals war das Gebäude ein Franziskanerkloster. Die verwinkelten Räume waren für das Vorhaben perfekt. 2004 kaufte Wiesemann das Haus. „Damals dachte ich noch: ‚Ich kaufe das jetzt, dann muss ich das renovieren, dann kommen die Kreativen ins Haus. Aber der Schlüssel war gerade übergeben, da waren die ersten Kreativen schon da. Es hat noch reingeregnet, da hatten wir hier schon unsere ersten Treffen.“ Seitdem ist das UPH ein fester Bestandteil des Ruhrgebiets.

Lounge statt Klosterzelle

Auf der zweiten Etage zeigt sich in voller Stärke, wie sich das Kreativhaus in den letzten Monaten verändert hat. Noch vor wenigen Jahren prägten vor allem die ehemaligen Klosterzellen das Gesamtbild. Von einem kleinen Raum ging es da zum nächsten. Mal standen die Besuchenden in einem kleinen Atelier, mal in einem Musikzimmer. Ruhrpottcharme, so nennt man hier diese urige Mischung: Alles wirkte ein wenig heruntergekommen, aber voller Liebe. Nach einem Umbau strahlt das Haus heute Weite aus. Nur wenige Räume zweigen im zweiten Obergeschoss noch von der Hauptfläche ab. Mitten im Loftbereich findet sich eine Leinwand. Im hinteren Teil stehen Stühle um einen Konferenztisch. Der Boden in Holzoptik strahlt Wärme aus. Die Möbel in kräftigen Farben könnten genauso gut in einem Szene-Café oder einem IKEA-Ausstellungsraum stehen.

Reinhard Wiesemann biegt vom Hauptraum der zweiten Etage ab, öffnet eine Tür – und plötzlich stehen wir in einem voll eingerichteten Bühnenraum. Auch der ist ein Novum. Rund eine halbe Million Euro hat der Umbau insgesamt gekostet, erzählt er. Die fast zweijährige Zwangspause durch Corona war dafür die optimale Zeit. Das Gesicht des Hauses hat sich gewandelt. Nur: Es fehlen die Menschen. Vor allem ist da Stille. 1.000 Künstlerinnen und Künstler beherbergte das UPH vor Corona. Jetzt sind es nach Angaben des Gründers gerade einmal 100 bis 150 Kunstschaffende.

Er vermutet, dass die neuen Räume den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern Angst machen, sich ohne Scheu auszuprobieren. „Aber wir sind nach wie vor das Unperfekthaus!“ Während er da in seinem neuen, leeren Bühnenraum steht, zieht Wiesemann einen Vergleich: Er frage sich, wie das wohl im Mittelalter gewesen sei. Heute empfänden wir eine natürliche Anziehung zu historischen Stadtzentren. Aber wie hätten die Menschen damals darauf reagiert, als all das neu war? „Vielleicht sagten die Menschen des Mittelalters auch: ‚Ih, ein Fachwerkhaus, ich sitze lieber weiter auf dem Lehmboden!‘“ Aus seinen Worten strahlt die Zuversicht, dass es nur Zeit braucht. Zeit, bis das Unperfekthaus zu einer neuen Blüte kommt.

Lampenkunst

Ein Vorgeschmack darauf findet sich in der dritten Etage. Hier ist das Reich der Nerds. Reihenweise 3D-Drucker surren nebeneinander her. In einer Ecke steht eine Miniatur des UPHs. Auf den Tischen stapeln sich Basteluntensilien. Die Decke zieren Planeten. Und inmitten dieses kreativen Chaos steht Christoph Gropp. Er ist der Tüftler, dem Reinhard Wiedemann wenige Minuten später seine Kaffeemühlen-Lampe abkaufen wird. Über eine persönliche Empfehlung sei er hier gelandet, als er auf der Suche nach Verkaufsmöglichkeiten für seine Lampen war, erzählt er. „Unperfekthaus hört sich gut an“, dachte er sich. Nun absolviert er hier einen Probemonat. Das gefällt ihm: „Hier kann ich machen, was ich will: sägen, schneiden …“ Und wie sich zeigt: auch seine Lampenkunst an Mann und Frau bringen. Wiesemann hört gespannt zu. Für ihn ist die Tour durchs Haus selbst eine Entdeckungsreise. „Hier passiert so viel, ich weiß selbst nicht über alles Bescheid“, gesteht er während seines Rundgangs.

Von der Technik-Etage wandert Reinhard Wiesemann ins Dachgeschoss. Dieser Bereich samt Bar und riesiger Dachterrasse wird gerne für Firmenfeiern und Hochzeiten gemietet. Willkommen ist hier jeder. „Nur, wer intolerant ist, den wollen wir hier nicht.“ Im Klartext: Einen Diskussionsabend mit der AfD würde man im UPH finden können, einen Propagandaabend nicht. Im Flur und Keller des Gebäudes, der letzten Station auf dem Rundgang, zeigt sich der alte Charme des UPH noch am stärksten. Große Graffiti-Malereien säumen das Treppenhaus. Im Keller hängen Rohre von der Decke, die Räume sind verwinkelt. Es riecht muffig. Und doch: In jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken. Hier eine Skulptur aus Schädeln, dort ein Spieletisch und in einem Hinterzimmer ein ganzes Fotostudio. Rund 70 Räume hat das UPH, schätzt Wiesemann. Die genaue Zahl, und das macht irgendwie den Zauber des UPH aus, weiß selbst der Erfinder nicht.

Am Abend hat der Gründer zu einer Diskussionsrunde geladen. „Hat Religion eine Zukunft?“ ist das Thema. Plötzlich ist das Obergeschoss voller Menschen. Das macht Hoffnung: Dass das Unperfekthaus bald wieder mit Leben gefüllt ist – und dem Coronavirus ein Schnippchen schlägt.

Nathanael Ullmann ist  Referent für Medien und Öffentlichkeitsarbeit eines Freikirchenbundes.