Schlagwortarchiv für: Gerechtigkeit

Schokoladenweihnachtsmann. Symbolbild: Getty Images / AND-ONE / iStock / Getty Images Plus

Schokoweihnachtsmänner: Der harte Kampf um die Bohne

Der süße Vollmilch-Weihnachtsmann bekommt einen bitteren Beigeschmack, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen die Schokobohnen angebaut werden. Marie Gundlach berichtet, wie fairer Handel den Kakaobauern hilft.

Zartschmelzende Vollmilchschokolade – sie ist die Lieblingssorte der Deutschen. Bei einer Umfrage der Süßwarenindustrie zählte fast die Hälfte der Befragten sie zu ihren Favoriten. In der Hitliste folgen Nougat, Zartbitter und weiße Schokolade – und wir langen hierzulande gerne zu: Neunzig Tafeln verspeisen wir alle im Schnitt pro Jahr.

SCHON VOR 5000 JAHREN LECKER

Die wichtigste Zutat für eine gute Schokolade: der Kakao. Ursprünglich stammt die Pflanze aus Südamerika. In Ecuador fand man auf Keramikgefäßen aus Grabbeigaben 5300 Jahre alte Kakaorückstände. Die Bohnen wurden dort nicht nur zum Getränk verarbeitet, sondern auch wie Münzen verwendet. Heute wachsen Kakaopflanzen rund um den Äquator und die Bohnen für den weltweiten Schokoladenkonsum stammen überwiegend aus Westafrika.

Ihre Ernte ist nach wie vor Handarbeit: Die reifen Früchte müssen einzeln mit Messer oder Machete vom Baum geschlagen werden. Anschließend werden sie gespalten, die Bohnen mit ihrem weißen Fruchtfleisch herausgeschabt und ausgebreitet. Sie gären, werden braun und entwickeln dabei ihr Aroma.

Meist werden sie dann getrocknet und in Jutesäcken exportiert.

GENUSS MIT BITTERER NOTE

Obwohl in Ghana und an der Elfenbeinküste rund zwei Drittel des weltweiten Kakaos geerntet werden, leben die Kleinbauernfamilien überwiegend in Armut. Grund dafür ist vor allem die Struktur des Kakaoanbaus. Die Kleinbauern mit überschaubarem Landbesitz sind in einer schwachen Verhandlungsposition gegenüber den Großkonzernen aus Amerika und Europa. Die globalen Player diktieren den Kakaopreis – wer nicht mitzieht, bleibt auf seiner Ernte sitzen.

Auch sonst ist der Schokogenuss erheblich getrübt: Obwohl die Situation seit Langem bekannt ist, arbeiten noch immer rund 1,5 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen auf Kakaoplantagen in Westafrika, wie Zahlen der Universität Chicago belegen. Den Kindern wird dadurch nicht nur die Schulbildung und damit die Aussicht auf eine bessere Zukunft verwehrt, oftmals hantieren sie beispielsweise mit Macheten oder Pestiziden oder müssen schwere Lasten tragen. Das US-amerikanische Büro für internationale Arbeitsangelegenheiten stuft die Kakaoernte als eine der schlimmsten Arten von Kinderarbeit ein. Immer wieder werden Kinder hier auch Opfer von Menschenhändlern. Offiziell gehen die Regierungen in den Ländern zwar gegen diese Praktiken vor, in der Realität bleibt die Kinderarbeit aber oft ohne Folgen für die Verantwortlichen.

Neben den sozialen Aspekten leidet auch die Umwelt erheblich unter dem hohen Kakaokonsum der Weltbevölkerung. 1980 umfasste die jährliche Ernte noch 1,6 Millionen Tonnen, inzwischen hat sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Das bedeutet auch: Es braucht mehr Fläche für den Anbau. Dafür müssen vor allem Wälder weichen: In den Jahren 2001 bis 2014 hat Ghana etwa zehn Prozent seiner Waldfläche an die Landwirtschaft verloren – einen großen Teil davon für Kakao-Plantagen.

FAIRTRADE WÄCHST ERFREULICH

Andererseits geht es auf dem Schokoladenmarkt auch in eine erfreulich gute Richtung: Der Anteil von fair gehandeltem Kakao wächst jährlich und hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht. Gerade erst hat beispielsweise die belgische Marke Guylian den Kakao für ihre Pralinen in Form von Meeresfrüchten Fairtrade-zertifizieren lassen. Zwar ist bei 16 Prozent Marktanteil, den fair gehandelte Kakaobohnen auf dem Weltmarkt einnehmen, immer noch viel Luft nach oben, aber das Bewusstsein der Schokofans wächst und immer neue faire Sorten mit hippem Image und Design mischen den Markt auf.

Nelson Cruz ist Landwirt im westafrikanischen Inselstaat São Tomé, einem der ärmsten Länder weltweit. Auf seinem Feld baut er Kakaofrüchte an, die er als Mitglied einer Genossenschaft und zu Bedingungen des fairen Handels vermarktet. „Der Faire Handel hat das Leben der Menschen hier sehr verändert“, sagt Nelson Cruz. Früher war der Kakao-Anbau auf São Tomé verstaatlicht. Deshalb waren viele Menschen nur Feldarbeiter. Seit der Landreform vor rund dreißig Jahren sind sie nun Kleinbauern mit eigenem Landbesitz. Auf São Tomé haben sie sich 2009 zur CECAQ-11-Genossenschaft zusammengetan, um durch den Fairen Handel bessere Preise zu erzielen.

PERSPEKTIVE AUF BESSERUNG

„Wenn der faire Handel kommt, wandelt sich die Welt natürlich nicht gleich von schwarz in rosa. Die Lebensumstände sind noch sehr schwierig. Aber es gibt jetzt Perspektiven, dass es besser wird“, sagt Stephan Beck, Kakao-Experte der fairen Handelsorganisation GEPA. Seit 2010 arbeitet GEPA mit der Genossenschaft zusammen und hat sie auch bei Qualitätssteigerung und der Bio-Zertifizierung unterstützt: Auf Chemikalien wird verzichtet, die Wasser-Qualität wurde verbessert, Bäume wurden für eine bessere Ernte beschnitten und die Plantage durch neue Anpflanzungen verjüngt.

Für Nelson Cruz und seine über tausend Mitstreitenden in der Genossenschaft hat sich der Kakaopreis wesentlich verbessert, es wird mehr produziert und ohne Chemikalien fallen im Bio-Anbau gesundheitliche Probleme weg. Außerdem werden hier auf São Tomé die Bohnen gleich zu Bio-Trockenkakao weiterverarbeitet, was zu einem nochmals höheren Erlös führt. Der ermöglicht Bauern und Bäuerinnen all das, was für uns selbstverständlich ist: Sie können ihre Kinder zur Schule schicken, bekommen medizinische Versorgung und haben die Chance, Geld zurückzulegen.

SIEGEL: BEGLAUBIGTE FAIRNESS

Die positiven Beispiele des fairen Handels verdecken jedoch nicht das Unrecht, das weiterhin im Schokoladenhandel herrscht. Pro Euro, den eine Schokoladentafel bei uns kostet, erhalten die Erzeugerfamilien gerade einmal sechs Cent, wie das INKOTA-netzwerk vorrechnet. Der Verein setzt sich mit seiner Kampagne „Make chocolate fair!“ für ein menschenwürdiges Einkommen im Kakaohandel ein. Aus gutem Grund: Allein die fünf Konzerne Mars, Mondelēz, Nestlé, Ferrero und Hershey’s kontrollieren zusammen rund 60 Prozent des globalen Schokoladenmarktes. Auf der anderen Seite lebt die Mehrheit der 5,5 Millionen Kakaobäuerinnen und -bauern mit umgerechnet 191 US-Dollar durchschnittlichem Jahreseinkommen unterhalb der Armutsgrenze.

Selbst die Preise, die durch Fairhandels-Siegel zugesichert werden, reichten häufig nicht für ein menschenwürdiges Einkommen, kritisiert INKOTA. Dabei sollen sie eigentlich genau dafür stehen.

Damit ich als Verbraucherin besser beurteilen kann, wie die Tafel produziert wurde, verleihen unabhängige Organisationen Zertifikate für bestimmte Kriterien. Soziale Siegel zertifizieren bestimmte Arbeitsbedingungen, ökologische Siegel belegen einen umweltschonenden Anbau und Klima-Siegel stehen etwa für weniger Emissionen bei Transport und Verpackung. Kein Siegel kann alle Bereiche abdecken und so ist es nur logisch, dass viele Schokoladenproduzenten auf eine Kombination aus verschiedenen Siegeln setzen.

BREITERE VERFÜGBARKEIT

Zu den bekanntesten Zertifikaten zählt das Fairtrade-Siegel. Bei den stark schwankenden Weltmarktpreisen garantiert es einen Mindestpreis pro Tonne Kakao. Außerdem gibt es Prämien für Projekte in den Anbauländern und für die Produzenten direkt. Im Gegenzug müssen die Bauern und Bäuerinnen arbeitsrechtliche und ökologische Standards einhalten. Auch wenn die Höhe der Mindestpreise in der Kritik steht, spricht für dieses Siegel ein großes Plus: Mit vielen Produkten in Supermärkten und Discountern hat es ein breites Bewusstsein für das Anliegen des fairen Handels geschaffen und Produkte auf breiter Basis verfügbar gemacht.

Während es vor allem Erzeugnisse von Kleinbauernfamilien zertifiziert, können das Siegel der Rainforest Alliance (zu der nun auch UTZ gehört) auch große Plantagen erlangen. Es verspricht keinen Mindestpreis pro Tonne, sondern setzt vor allem auf Fortbildung in den Erzeugerländern, um Qualitätsverbesserung und dadurch ein höheres Einkommen zu erzielen. Ohne Mindestpreise garantiert dieses Siegel den Bauern und Bäuerinnen aber keinerlei Absicherung, wenn der Weltmarktpreis fällt. Aufgrund der laxeren Kriterien wird dem Siegel Greenwashing vorgeworfen. Es mag besser sein als gar nichts, ist aber schon dem Fairtrade-Siegel deutlich unterlegen

HÖHERE STANDARDS

Noch anspruchsvoller ist die GEPA, die aus dem Anliegen eines fairen Handels gegründet wurde und zu deren Unternehmensphilosophie weitaus höhere Standards als beim Fairtrade-Siegel gehören. Sie steht für enge Beziehungen zu ihren Partnern und Partnerinnen im Globalen Süden. Gerade erst hat sie ihren Mindestpreis erhöht und im vergangenen Jahr 52,5 Prozent über dem durchschnittlichen Weltmarktpreis bezahlt. Aber auch junge Marken wie Tony’s Chocolonely oder Nucao setzen bewusst auf die Nachhaltigkeit ihrer Produkte. Das Start-Up Fairafric hat einen ganz eigenen Ansatz gewählt: Während andere Firmen den Kakao importieren und in Europa weiterverarbeiten, produziert Fairafric seine Bio-Schokolade komplett in Ghana. Dadurch bleibt mehr Wertschöpfung im Land und Arbeitsplätze werden geschaffen.

Neben den Siegeln betreiben einige Schokoladenproduzenten auch eigene Initiativen. Ritter Sport etwa hat in Nicaragua eine eigene Plantage aufgebaut, um direkten Bezug zu den Angestellten und Einfluss auf Arbeitsbedingungen und Qualität zu haben. Laut Unternehmensangaben ist die Plantage als Mischkultur angelegt, um Biodiversität zu fördern und den Einsatz von Pestiziden zu verringern. Der Nachteil

Denen, die auf der Farm arbeiten, gehört kein eigenes Land, für das sie verantwortlich sind, sondern sie sind von Ritter Sport abhängig. Je nachdem wie das Unternehmen agiert, kann das ein Vor- oder Nachteil sein.

Auch andere Firmen haben ihre eigenen Projekte und Förderprogramme. Ohne Siegel werden diese allerdings nicht unabhängig überprüft. Als Kundin bin ich also auf die Angaben des Unternehmens angewiesen – und deren PR-Abteilung kann im Zweifel viel erzählen.

Der Wunsch nach ethisch und ökologisch produzierter Schokolade sei in den letzten 20 Jahren in Europa gewachsen, ist Gerrit Wiezoreck, Geschäftsführer des Bio-Schokoladenunternehmens EcoFinia überzeugt: “Der generelle Trend zur Nachhaltigkeit in Europa führt dazu, dass in den letzten fünf Jahren auch immer mehr konventionelle Hersteller und Discount-Marken mehr Fairtrade- und Bio-Schokolade rausbringen. Das ist erstmal eine sehr positive Entwicklung.”

PROTEST DER OSTERHASEN

Mit den individuellen Kaufentscheidungen für teurere, weil zu faireren Preisen produzierte Schokolade allein ist es jedoch nicht getan: Es müsse sich auch weltpolitisch einiges ändern, fordert INKOTA. Dass der Bundestag im Jahr 2021 ein Lieferkettengesetz beschlossen hat, ist ein guter Anfang. So sind die Unternehmen ab 2023 dafür verantwortlich, Menschenrechtsverletzungen in ihrer Lieferkette zu analysieren und zu bekämpfen. Allerdings greift das Gesetz vielen noch nicht weit genug. Wer von Menschenrechtsverletzungen betroffen ist, kann noch nicht vor deutschen Gerichten dagegen klagen, bemängelt INKOTA zum Beispiel. Das wäre aber wichtig, um das Gesetz auch wirklich konsequent durchzusetzen. Die marktbeherrschenden Konzerne müssen stärker in die Pflicht genommen werden.

In Ghana und an der Elfenbeinküste sorgt INKOTA schon dafür, dass sich Kakaobauern und -bäuerinnen vernetzen, Informationen weitergeben und dadurch ihre Verhandlungsbasis gegenüber den Konzernen stärken. Zu Ostern hat das Netzwerk eine Aktion organisiert, bei der Engagierte aus über 30 Gruppen als Osterhasen verkleidet mit Protest-Schildern durch Fußgängerzonen zogen. Passanten und Passantinnen sollten erfahren, wie viel Armut und Kinderarbeit in konventioneller Schokolade steckt. Zudem wurden Postkarten verteilt, die an die Unternehmen geschickt werden konnten. Die Vorlage für eine digitale Postkarte steht auf der INKOTA-Webseite zur Verfügung.

Ich finde, gerade bei einem Genussmittel wie Schokolade zählt Klasse statt Masse. Mir Billig-Schokolade auf der Zunge zergehen zu lassen, während ich weiß, dass womöglich Kinder dafür schuften mussten und die westafrikanischen Kleinbauernfamilien in Armut leben, klingt für mich einfach falsch. Existenzsichernde Löhne sind nicht alles, aber mit existenzsichernden Löhnen fängt alles an – damit in Zukunft das einzig Bittere am Kakao sein Geschmack ist.

Marie Gundlach studiert Datenjournalismus und hat während der Recherche eine neue Lieblingsschokolade entdeckt.

 

Eine belebte Einkaufsstraße. Symbolbild: Getty Images / William Barton / iStock / Getty Images Plus

Kirche und Konsum: Würde Jesus heute Markenjeans tragen?

Modernes Marketing ist darauf ausgelegt, Wünsche zu wecken, unabhängig davon, was wir wirklich brauchen. Konsum ist mittlerweile Selbstzweck. Doch das hat weitreichende Konsequenzen für uns  – und die gelebte Nächstenliebe. Eine Spurensuche von Pastor Matthias Voigt.

New York City, 1920er-Jahre. Edward Bernays war im Ersten Weltkrieg Propaganda-Offizier gewesen und hatte die US-amerikanische Bevölkerung darauf eingestimmt, in den Krieg einzutreten. Als der Krieg zu Ende war, überlegte er sich: Was in Kriegszeiten durch Propaganda funktioniert hatte, könnte man doch in Zeiten des Friedens für die Wirtschaft anwenden. Und er gründete in New York das erste PR-Büro.

Grüne Werbung

Eines Tages trat die Zigarettenfirma Lucky Strike an ihn heran. Lucky Strike hatte gerade ein neues Design entworfen und auf ihre Zigarettenschachteln drucken lassen. Es war grün. Das Problem war: Aufgrund der Farbe kauften vor allem Frauen diese Packungen nicht. Die Farbe war nicht angesagt, galt als unmodern und passte vor allem nicht zur Garderobe. Lucky Strike hatte eine Menge in das neue Design investiert, aber die Packungen wurden nicht gekauft.

Was tat Bernays? Er mietete das luxuriöse New Yorker Hotel Waldorf-Astoria und lud zu einem großen, opulenten Ball. Zum „grünen Ball“. Er beauftragte einflussreiche Designer, die an diesem Abend eine grüne Kollektion vorstellten. Alle Frauen trugen grüne Abendkleider und Bernays sorgte dafür, dass alle wichtigen Modejournalisten an diesem Abend anwesend waren.
Und was geschah? Alle Journalisten schrieben über diesen besonderen Ball. Grün wurde zur Modefarbe der nächsten Saison. Grün war in. Es war der Trend. Wer modisch vorne mit dabei sein wollte, trug Grün. Und wer hatte die passenden Zigaretten für diesen Trend? Lucky Strike. Und der Absatz ging durch die Decke.

Eier mit Speck

Edward Bernays war unglaublich erfolgreich und einflussreich mit seiner PR. Anderes Beispiel: Wir kennen Bacon and Eggs – Eier mit Speck – als das klassische amerikanische Frühstück. Als man sich immer mehr auf Toast mit Kaffee zum Frühstück beschränkte, engagierte ein Fleischproduzent Bernays. Und nachdem dieser eine Umfrage unter Ärzten veröffentlichen ließ, die ein reichhaltiges Frühstück empfahlen, stiegen die Verkaufszahlen des Fleischproduzenten rasant. Kaum jemand kennt seinen Namen, aber Bernays wurde vom Life Magazine zu einer der 100 einflussreichsten Personen des 20. Jahrhunderts gekürt.

Er war so erfolgreich, weil er eine Sache verstanden hatte und bewusst steuerte: Menschen kaufen nicht nur das, was sie brauchen oder ihnen nützt, sondern das, was ihnen ein gutes Gefühl gibt. Das, was eine Sehnsucht stillt. Unser Konsum ist von Sehnsüchten und Gefühlen stärker bestimmt als von unserem echten Bedarf.

Das ist auch hundert Jahre nach Bernays Erfindung von PR nicht anders. Herausforderungen mit Konsum und Besitz gibt es aber natürlich schon deutlich länger. Als Christ und Pastor interessiert mich, was wir von Jesus über den Umgang mit Konsum lernen können. Was hat Konsum mit unserem Inneren zu tun? Und wie sieht ein Lebensstil aus, der nicht von Konsum bestimmt ist?

Zwei Risiken des Konsums

Im Lukasevangelium wird uns von einer Begegnung mit Jesus berichtet. Als Jesus immer bekannter wurde, kamen immer wieder auch Menschen mit ihren Fragen und ihren Anliegen zu ihm. Es war damals üblich, dass man religiöse Lehrer auch zu solchen Angelegenheiten wie Finanzen befragte. Und so kommt jetzt ein Mann zu Jesus und will, dass er sich um seine Erbangelegenheit kümmert. Aber Jesus lehnt ab und benutzt stattdessen die Situation dafür, um allen Umstehenden eine Sache klarzumachen: „Lieber Mann, wer hat mich denn zum Richter über euch eingesetzt oder zum Vermittler in euren Erbangelegenheiten?“, fragt Jesus und wendet sich daraufhin an alle: „Nehmt euch in Acht! Hütet euch vor aller Habgier! Denn das Leben eines Menschen hängt nicht von seinem Wohlstand ab“ (Lukas 12,14-15).

Er spricht eine doppelte Warnung aus. Er sagt es gleich zweimal, um die Wichtigkeit klarzumachen: „Nehmt euch in Acht. Hütet euch.“ Hütet euch vor Habgier, also vor diesem Wunsch, dem Streben, immer mehr haben zu wollen.

Und dann folgt seine Begründung: „Denn das Leben eines Menschen hängt nicht von seinem Wohlstand ab.“ Das Leben ist nicht im Wohlstand zu finden. Echtes Leben findet sich nicht in Besitz, Geld oder Vermögen.

Und um den Punkt noch klarer zu machen, erzählt Jesus anschließend die Geschichte von einem Landwirt, dessen Land eine sehr gute Ernte gebracht hatte. Er überlegt: Was mache ich mit all meinem Reichtum? Er beschließt, all seine Scheunen abzureißen, um größere Scheunen zu bauen, und sagt sich: Wenn ich das alles fertig habe, wenn ich all diesen Reichtum gesammelt, gelagert, verstaut und angehäuft habe … dann werde ich Ruhe finden. Dann werde ich Freude haben am Leben.

Das gute Leben

Am Ende der Geschichte sagt Jesus, was Gott für ein Urteil über diesen Landwirt fällt: „Du Narr, noch in dieser Nacht wird dein Leben von dir zurückgefordert werden. Wem wird dann das gehören, was du angehäuft hast? … So geht es dem, der nur auf seinen Gewinn aus ist und nicht reich ist vor Gott“ (Lukas 22,20-22).

Was kritisiert Jesus hier? Nicht, dass der Mann viel hatte. Nicht, dass er reich war. Nicht, dass er überlegt, wie er es lagern soll. Sondern Jesus kritisiert zweierlei.

Erstens: Jesus nennt es dumm, töricht, kurzsichtig, wenn unser Fokus darauf liegt, mehr besitzen zu wollen. Wenn wir denken, dass wir darin Leben finden. Der Landwirt sagt: „Wenn ich das alles habe und gelagert habe, dann habe ich Ruhe, dann habe ich Freude. Dann kann ich leben.“ Er meint, dass er das gute Leben in seinem Besitz findet. In seinem Wohlstand. Seine Vorstellung ist: Wenn ich genug habe, dann habe ich das gute Leben. Aber Jesus sagt: Das Leben ist nicht in Besitz zu finden. Wahres und gutes Leben finden wir woanders.

Was hat das nun mit uns zu tun? Ich selbst bin nicht immun dagegen zu meinen, dass das gute Leben in Geld und Besitz zu finden ist. Ich bin jetzt 38 und bin gerne Pastor, aber ich habe in meinem Freundeskreis mehrere Leute, die gerade richtig in ihren Karrieren durchstarten. Projektmanager, Geschäftsführer, Firmengründer. Sie alle verdienen deutlich mehr als ich. Ich sehe die Häuser, die sie bauen, die Reisen, die sie unternehmen. Oder einfach, mit welchen Konsumgütern sie ihr Leben gestalten. Ich merke immer wieder, wie ich denke: Das wäre das wirklich gute Leben. Das ist das leichte Leben. Das bessere Leben.

Konsum als Lebensstil

Wir meinen oft, dass Leben eben doch in Besitz zu finden ist. Das ist kein Zufall. Denn diese Tendenz unseres Herzens wird ganz bewusst verstärkt vom – und hier kommt noch mal Edward Bernays ins Spiel – modernen Marketing. 1955, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Zeit des Wirtschaftsaufschwungs, hat der Ökonom und Analyst Victor Lebow Folgendes geschrieben: „Unsere so enorm produktive Wirtschaft verlangt es, dass wir Konsum zu unserem Lebensinhalt machen. Dass wir den Kauf und die Verwendung von Gütern zu Ritualen erheben, in denen wir unsere geistliche Zufriedenheit und die Befriedigung unseres Egos finden. Das führt dazu, dass Dinge immer schneller konsumiert und verbraucht werden, immer schneller veralten und ersetzt werden müssen.“

Damit unsere Wirtschaft funktioniert, muss Konsum ein Lebensstil werden, sagt Victor Lebow. Unser Lebensinhalt, von dem wir uns geistliche Zufriedenheit und Befriedigung unseres Egos erhoffen, also Status und innere Ruhe. Denn nur, wenn wir das in Konsum und Besitz finden wollen, kaufen wir immer Neues. Lebow zeigt auf, dass Konsum bewusst in die Mitte unseres Lebens gestellt wird. Dass wir bewusst unsere Hoffnungen auf den Konsum setzen sollen.

Konsumentengehirn

2017 hat ein interessanter Artikel aus dem ZEIT-Magazin beschrieben, welche Rolle Konsum in unserem Leben inzwischen eingenommen hat. Darin wird der Münchener Konsum- und Marketingforscher Hans-Georg Häusel zitiert: „Das Konsumentengehirn fragt weniger danach, ob wir etwas brauchen, als nach Belohnung. … Der Belohnungswert wird durch Marken nur noch gesteigert. Besonders Modeartikel haben immer diesen Belohnungscharakter, weil sie suggerieren, uns attraktiver zu machen. Mit anderen Worten: Wir kaufen, weil es sich gut anfühlt.“

Und weiter sagt Häusel: „Der Konsum ist an die Stelle traditionell sinnstiftender Institutionen wie Religion, Familie oder politische Ideologien getreten. Während Identität früher davon abhängig war, von wem man abstammte oder wie gottgefällig man lebte, bildet sie sich heute über die Dinge, die wir kaufen.“

In den Dingen, die wir kaufen, wollen wir Sinn finden, Wert, Identität. Anerkennung. Unser Konsum ist nicht von unserem Bedarf gesteuert, sondern richtet sich danach, was eine Sehnsucht in uns stillt: Ich fühle mich gut und wertvoll, weil ich mich mit meinem Style von der Masse abhebe. Ich weiß, ich bin okay, weil ich mir etwas Bestimmtes leisten kann. Ich hebe mich ab, weil ich weiß, wie man mit der richtigen Espresso-Maschine einen guten Flat White macht.

Was machen wir da? Wir suchen das gute Leben im Besitz. Durch unseren Konsum suchen wir Sinn und Leben. Wie der Landwirt. Wenn ich dieses oder jenes besitze, dann habe ich das gute Leben. Das ist das eine, was Materialismus mit uns macht.

Ich, Meiner, Mir, Mich

Die zweite Gefahr können wir ebenfalls bei dem Landwirt beobachten. Es ist extrem auffällig im griechischen Text, wie oft der Bauer die Personalpronomen ich, mein, mich verwendet. Meine Scheune, mein Getreide, meine Vorräte, meine Ernte.

Während damals sehr klar war, dass die Reichen eine Verantwortung für die Gesellschaft hatten und Teile ihrer Ernten verwenden sollten, um den Armen zu dienen, liegt sein Fokus komplett bei sich selbst. Und Gottes Urteil ist: „Du törichter Mensch. Wenn du heute Nacht stirbst, was hast du davon? Du bist nicht reich vor Gott.“ Du hast dich nur auf dich selbst fokussiert. Das ist der zweite Punkt, den der Materialismus bei uns bewirkt: Unser Blick ruht auf uns selbst und wir blenden die anderen zu einem Stück weit aus. „Ich, meiner, mich, mir – Gott segne uns vier.“

Weil unser Konsum uns bei dieser Sehnsucht nach dem guten Leben packt, laufen wir Gefahr, die Bedürfnisse von anderen auszublenden.

Ich will ein konkretes Beispiel dafür geben. Jeder, der sich schon mal ein bisschen mit der Modeindustrie beschäftigt hat, weiß, dass viele Kleidungsstücke unter äußerst schlechten Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Und viele von uns haben sich wahrscheinlich schon einmal vorgenommen, mehr teurere, nachhaltigere Marken zu kaufen. Warum scheitern wir mit diesem Vorsatz immer wieder?

Weil wir in dem Moment, in dem wir im Laden stehen und überlegen, ob wir jetzt wirklich 50 Euro mehr für die nachhaltig produzierte Jeans bezahlen, doch schnell unseren Geldbeutel und unseren Konsum mehr lieben als die Menschen, die unter der Produktion leiden. Weil die Verlockung, für das gleiche Geld mehr Kleidungsstücke zu bekommen, einfach zu groß ist. In dem Moment, in dem wir eingeschränkt werden, verlieren wir andere Menschen ziemlich schnell wieder aus dem Blick.

Wenn Materialismus uns dazu führt, das Leben im Besitz zu suchen und unseren Blick auf uns selbst verengt – was können wir dagegen tun?

Die Freiheit der Einfachheit

Jesus hat in seiner Geschichte mit dem Landwirt schon gezeigt, dass unsere Sterblichkeit uns eine neue Perspektive auf Besitz und Konsum geben kann. Passend dazu lesen wir im 1. Timotheusbrief: „Ein Leben in der Ehrfurcht vor Gott bringt tatsächlich großen Gewinn, vorausgesetzt, man kann sich – was den irdischen Besitz betrifft – mit Wenigem zufrieden geben. Oder haben wir etwas mitgebracht, als wir in diese Welt kamen? Nicht das Geringste! Und wir werden auch nichts mitnehmen können, wenn wir sie wieder verlassen. Wenn wir also Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen“ (1. Timotheus 6,5-8).

Paulus schreibt hier im Klartext: Wir haben nichts mit in diese Welt gebracht und werden auch nichts mitnehmen können. Ich las mal von einem Pastor, der eine sehr reiche Frau beerdigte. Er wurde von den Umstehenden gefragt: Wie viel hat sie hinterlassen? Woraufhin der Pastor antwortete: „Alles. Jeden einzelnen Cent.“

Mein Sohn hat während des Lockdowns Monopoly entdeckt und wir saßen zum Teil stundenlang auf dem Balkon und haben Monopoly gespielt. Wir haben eine Hamburg-Version und so haben wir um die Elbchaussee gekämpft, versucht, die große Freiheit zu vermeiden und uns darüber lustig gemacht, dass eine Übernachtung beim HSV so wenig kostet. Ich habe versucht, meinem Sohn das Geld aus der Tasche zu ziehen und er umgekehrt mir, und es galt: Wer am meisten hat, gewinnt. Aber am Ende des Spiels kommt alles wieder in die Schachtel. Und was bleibt, ist der Spaß und die Zeit, die er und ich zusammen hatten.

Mit leichtem Gepäck

Wir leben unser Leben immer wieder nach dem Grundsatz von Monopoly: Je mehr, desto besser. Wer am meisten hat, gewinnt. Aber „wenn das Spiel vorbei ist, kommt alles wieder in die Schachtel“, wie es der US-amerikanische Pastor John Ortberg einmal formuliert hat. Selbst wir landen da. Wir können nichts mitnehmen. Und Paulus ergänzt: Nehmt diese große, ewige Perspektive ein. Und lasst euren Umgang mit Besitz davon geprägt sein. Alles, was ihr habt, ist Reisegepäck. Und das bringt ihn dazu, uns zur Einfachheit zu ermutigen: „Wenn wir daher Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen.“

Er meint damit nicht, dass alle Christen arm sein sollten. Er meint, wenn wir nur das Mindeste haben, Kleidung und Nahrung, wollen wir es uns genügen lassen. Wir können selbst im Einfachen zufrieden sein. Als wichtigen Zusatz schreibt er in Vers 17: „Schärfe denen, die es in dieser Welt zu Reichtum gebracht haben, ein, nicht überheblich zu sein und ihre Hoffnung nicht auf etwas so Unbeständiges wie den Reichtum zu setzen, sondern auf Gott; denn Gott gibt uns alles, was wir brauchen, in reichem Maß und möchte, dass wir Freude daran haben.“

Bewusst etwas einfacher

Ich verstehe den Gott, von dem wir in der Bibel lesen, so: Er möchte, dass wir das, was wir haben, genießen. Dass wir Freude daran haben. Wie kommt das zusammen: Einfachheit und Genuss? Einfachheit heißt nicht Askese, sie bedeutet keinen negativen Blick auf Besitz. Oder dass man nichts haben darf, was Freude macht. Wir dürfen genießen, was Gott uns gibt. Aber auch mit einem einfachen Lebensstil zufrieden sein. Was heißt es dann, einen Lebensstil der Einfachheit zu leben?

Einfachheit sieht für jeden von uns anders aus. Gerade wenn wir unterschiedlich viel haben oder besitzen. Es gibt nicht den einen uniformierten Lebensentwurf, wie viel Besitz in Ordnung ist. Sondern: Einfachheit bedeutet, dass ich bewusst ein wenig einfacher lebe, als ich es mir eigentlich leisten könnte. Und das sieht für jeden von uns anders aus.

Ich lebe bewusst etwas einfacher, als ich es mir eigentlich leisten könnte. Aus zwei Gründen. Zum einen, um mir bewusst zu machen, dass mein Leben nicht im Besitz zu finden ist. Oder in mehr Gütern. Oder in mehr Luxus. Mein Leben liegt bei Gott, der mich versorgt. Einfachheit wirkt also dieser ersten Auswirkung des Materialismus entgegen.

Und ich lebe etwas einfacher, als ich könnte, um Geld zu haben, das ich großzügig weggeben kann. Das heißt, Einfachheit wirkt auch dem zweiten Symptom des Materialismus entgegen, diesem Blick nur auf uns selbst.

In der Bibel finden wir die Einladung, etwas einfacher zu leben, als wir es uns leisten könnten, um uns auf Gott auszurichten und andere zu lieben.

Lebensstil prüfen

Im Jahr 1980 kamen in London 85 Christen aus 27 Ländern im Rahmen der Lausanner Bewegung zusammen, einer weltweiten Bewegung von Christen aus unterschiedlichen Hintergründen und mit ganz unterschiedlichen finanziellen Mitteln. Die Hälfte dieser Leute kam aus dem globalen Süden. Vier Tage lang dachten sie intensiv darüber nach, wie ein Leben in Einfachheit aussehen kann. Und ich finde das Statement großartig, das sie am Ende verabschiedet haben. Hier ein Auszug daraus:

„Manche von uns sind dazu berufen, unter den Armen zu leben, andere dazu, ihre Häuser für Bedürftige zu öffnen. Aber wir alle sind entschlossen, einen einfacheren Lebensstil zu führen. Wir wollen unsere Einnahmen und Ausgaben nochmals prüfen, um mit weniger leben und mehr weggeben zu können. Wir stellen keine Regeln oder Gesetze auf, weder für uns noch für andere. Aber wir beschließen, auf Verschwendung und Extravaganz in unserem Lebensstil, unserer Kleidung, unseren Häusern, unseren Reisen und unseren Kirchengebäuden zu verzichten. Wir erkennen den Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Luxuriösen, zwischen kreativen Hobbys und leeren Statussymbolen, zwischen Bescheidenheit und Eitelkeit, zwischen großen Festen als Höhepunkte oder als normale Anlässe, zwischen dem Dienst für Gott und der Sklaverei durch Trends. Wo genau jeder diese Linie zieht, erfordert gewissenhaftes Nachdenken und Entscheidungen von uns selbst sowie die Unterstützung von anderen.“

Wie kann Einfachheit in unserem Leben aussehen? Wie können wir etwas einfacher leben, sodass wir uns dem Versprechen des Materialismus lösen, das besagt: Das gute Leben findet sich in Besitz? Was können wir diesem Versprechen entgegenstellen? Wie können wir einfacher leben, sodass wir mehr weggeben und anderen damit dienen können?

Ein Lebensstil der Einfachheit findet sein Vorbild sowie seine Motivation und Kraft in Jesus Christus. Jesus kam auf die Welt, wurde in einem Stall geboren und lebte so viel einfacher, als er es sich hätte leisten können. Um Gottes Liebe zu zeigen. Was wäre passiert, wenn Jesus nur sich selbst im Blick gehabt hätte? Was wäre passiert, wenn er das „gute Leben“ allein im Reichtum des Himmels gesehen hätte? Er ging in die Einfachheit – aus Liebe zu uns, aus Nächstenliebe. Könnten wir nicht seinem Beispiel folgen, den Blick von uns nehmen und in einen einfacheren Lebensstil investieren, um andere zu lieben?

Matthias Voigt ist Pastor Hamburg-Barmbek und arbeitet an seiner Doktorarbeit.