Claus Hipp im Interview: Das treibt den Kult-Unternehmer an
Claus Hipp war Vorreiter beim Thema Babynahrung. Im Interview erzählt der 83-jährige Unternehmer, wie er die Landwirtschaft revolutionierte und was der Glaube für ihn bedeutet.
Auf dem Weg ins Büro kommt Claus Hipp immer an der Wiege des Unternehmens vorbei: Der Reibstein, in dem sein Großvater 1899 Zwieback für den Brei seiner Zwillinge mahlte, steht im Foyer der Unternehmenszentrale. Umrahmt ist er von einem Kruzifix und großflächigen abstrakten Ölbildern, die Claus Hipp am Feierabend in seinem Forsthaus-Atelier malt. Nach rund 50 Jahren in der Unternehmensleitung hat er den Staffelstab mittlerweile an seine beiden Söhne abgegeben. Seitdem schläft er an manchen Tagen auch mal ein bisschen länger als bis 4:30 Uhr. So richtig zurücklehnen mag er sich trotzdem nicht: „Der Schreibtisch ist voll und die Arbeit geht weiter. Ich komme rein, helfe, wo ich kann, und bin wie ein Austragsbauer“, sagt er und spielt damit auf Landwirte an, die ihren Hof an die nächste Generation überschrieben haben. Hipp lebt immer noch auf dem Bauernhof seiner Familie, um dessen landwirtschaftlichen Betrieb er sich schon als Schüler gekümmert hat.
Bio seit den 1950ern
Herr Prof. Hipp, Sie werden oft als Bio-Pionier bezeichnet. Gefällt Ihnen das?
Ja. Denn dafür habe ich mich sehr engagiert, schon seit den Fünfzigerjahren. Das tue ich auch weiterhin und halte es für sehr wichtig. Die Bio-Bewegung ist nicht von einer Partei ausgegangen, sondern von der Wirtschaft.
Nehmen Sie uns doch mal hinein in das Jahr 1956, in dem Sie den organisch-biologischen Landbau für Ihr Unternehmen vorangetrieben haben.
Es geht sogar noch weiter zurück. Meine Mutter war Schweizerin und hat nach dem Krieg meinen Vater gedrängt, auch in der Schweiz Babynahrung zu verkaufen. Die Schweizer wollten aber kein deutsches Produkt und schon gar keine Babynahrung. Dass die Idee nicht funktioniert hat, hat sich unser damaliger Geschäftsführer so zu Herzen genommen, dass er krank wurde. Sein Arzt, Dr. Bircher-Benner, riet ihm dazu, seine Ernährung umzustellen und morgens mit einem Müesli anzufangen. Da sagte mein Vater: „Wenn es für Sie gut ist, ist es für andere auch gut“. Daraufhin haben wir in Deutschland das erste Müesli entwickelt, das wir dann in der Schweiz verkauft haben.
Weg von den Pestiziden
Das ist ja schon ein bisschen frech.
Durch Zufall sind wir dabei auf Dr. Hans Müller in Großhöchstetten gekommen, den Pionier des ökologischen Landbaus in der Schweiz. Er hat uns mit Getreide und Obst beliefert. Er war viel bei uns, hat mich oft bis spät in die Nacht unterrichtet und mich für biologischen Landbau begeistert. Damals habe ich als Schüler unseren Hof geleitet. Auf seinen Rat hin haben wir unsere Landwirtschaft auf bio umgestellt. Er hat uns auch davon überzeugt, Babynahrung aus Bio-Rohstoffen herzustellen, denn wir wollten in unserer Babynahrung keine Pestizid-Rückstände haben. Unser Schluss war: Wenn sie in der Rohstofferzeugung nicht angewandt werden, ist das die größte Sicherheit dafür, dass sie im Endprodukt nicht drin sind.
Hat Ihnen dieser Weg gleich eingeleuchtet?
Ja. Aber es war natürlich schwierig, weil die Umgebung nicht reif dafür war. Als erste Tätigkeit nach der Schule habe ich Bauern beraten und konnte sie davon überzeugen, biologischen Landbau zu betreiben. Ausschlaggebend war, dass die Gesundheit des ganzen Hofes zunimmt, wenn nicht mit Gift gespritzt wird. „Gesunde Pflanzen, gesundes Tier, gesunde Menschen“ – das hatte Albrecht Thaer schon 1750 gepredigt. Die Bauern wollten natürlich wissen, wie es mit dem Ertrag aussieht. Wir haben ihnen versprochen, Ernteausfälle zu vergüten, wenn sie weniger ernten würden. Dadurch haben dann manche Landwirte damit angefangen. Später wurden es immer mehr.
Nie gezweifelt
Sie haben die Produktion schrittweise auf Bio umgestellt. Gab es auch Momente, in denen Sie dachten: Was ist, wenn es nicht funktioniert oder wenn wir doch falsch liegen?
Nein, denn ich war überzeugt davon, dass es der richtige Weg ist. Und mit der nötigen Konsequenz im Handeln hat es dann auch geklappt.
Woher haben Sie den Mut genommen, es anders zu machen? Noch als Schüler entließen Sie den Verwalter Ihres Hofs, weil er ihn nicht so biologisch führen wollte wie Ihre Familie. Ist dieser Mut angeboren?
Unternehmer müssen immer weiter schauen. Bereit sein, Dinge anders zu machen und bestrebt sein, besser zu sein als die Mitbewerber.
Das hat Sie angetrieben.
Ja. Aber ich war auch überzeugt davon, dass das der richtige Weg ist. Viele Jahre später hatten wir einen harten Wettbewerb mit Nestlé und deren Marke Alete. Mit unserer Umstellung auf Bio haben wir dem Handel gesagt: „Wir bringen etwas Neues, aber wir werden teurer.“ Der Handel hat das eingesehen, mit Ausnahme unseres Hauptkunden. Daraufhin haben wir 20 Prozent unseres Umsatzes von heute auf morgen verloren. Das war eine harte Zeit. Der übrige Handel hat unsere Haltung aber honoriert. Nach zwei Jahren hatten wir dieses Minus wieder aufgeholt.
Natur erholt sich schnell
Der Ehrensberger Hof, auf dem Sie mit Ihrer Familie leben, gilt als Musterbetrieb für Biodiversität. Welche Maßnahmen entwickeln Sie dort und wie profitieren Ihre 8.000 HiPP-Bio-Erzeuger davon?
Auf dem Ehrensberger Hof erforschen wir in Kooperation mit Wissenschaftlern und Naturschutzverbänden Methoden, die sich in der Landwirtschaft positiv auf Bodenfruchtbarkeit und die Artenvielfalt auswirken. Die Ergebnisse geben wir an unsere Bio-Bauern weiter und erhöhen damit die Anzahl besonders biodiversitätsfreundlicher Erzeuger. Gerade führen wir eine mehrjährige Studie durch, bei der wir die Insektenvielfalt auf ökologisch und konventionell bewirtschafteten Flächen untersuchen. Dabei konnten wir auf dem Ehrensberger Hof insgesamt 21 Prozent mehr Insektenarten sowie 60 Prozent mehr Schmetterlingsarten als auf der konventionellen Vergleichsfläche feststellen, darüber hinaus die doppelte Anzahl laut Roter Liste gefährdeter Arten.
Zudem konnten wir nachweisen, dass sich die Natur schnell erholt. Bereits ein Jahr nach der Umsetzung biodiversitätsfördernder Maßnahmen nimmt die Vielfalt auf den bislang konventionell betriebenen Flächen wieder zu. Mit ganz einfachen und pragmatischen Mitteln können wir das Artensterben verhindern. Wir müssen es nur wollen.
Was bedeutet es für Sie, im Einklang mit der Schöpfung zu leben?
Es heißt, ich erkenne an, dass es einen Schöpfer gibt, der über allem steht. Einen Schöpfer, dem wir auch Rechenschaft schuldig sind. Wir müssen alles unterlassen, bei dem wir seine Schöpfung schädigen oder ihr Dinge entnehmen, die unserer Generation gar nicht zustehen.
Fleisch „Die Menge macht’s“
Auf welche Dinge verzichten Sie selbst?
Beim Essen verzichte ich zum Beispiel auf einen zu hohen Fleischkonsum. Grundsätzlich soll jeder Fleisch essen dürfen, aber die Menge macht’s – und entscheidend ist auch die Qualität. Wenn wir sehen, dass die Stadt Wien täglich so viel Brot wegschmeißt wie die Stadt Linz verbraucht, dann stimmt etwas nicht. Seit vielen Jahren bin ich Schirmherr der Münchner Tafel: Dort vermitteln wir an unsere Gäste Lebensmittel, die verzehrfähig sind, aber vielleicht nicht mehr verkehrsfähig. Und da bewegen wir in der Woche Lebensmittel im Wert von über 100.000 Euro.
Wer war Ihnen ein Vorbild im Glauben?
Das waren meine Eltern. In der Familie haben wir gebetet und viel über Glaubensfragen erzählt bekommen. Wir sind in die Kirche gegangen und das war ganz normal.
Arbeit als Gebet
Sie schließen morgens in aller Frühe die Kapelle Herrnrast auf und beten dort. Gleichzeitig sagen Sie, Arbeit ist auch Gebet. Wie meinen Sie das?
Meine Arbeit kann ich als Aufgabe sehen, die mir von oben gestellt wurde. Dann ist es Gebet. Wenn ich aber in erster Linie möglichst viel Geld zusammenraffen möchte, ist es kein Gebet mehr. Ich kann schon schauen, Gewinne zu machen. Aber es kommt dann darauf an, was ich damit anfange und wie sozial ich die Mittel wieder einsetze.
Welche Rolle spielt der Glaube in Ihrem Alltag?
Glauben heißt, etwas für wahr halten, was man nicht sehen oder verstehen kann. Es ist ein Akt des Willens. Wenn ich alles diskutiere und hinterfrage und mir alles logisch erscheint, dann ist es Wissen. Dann bleibt für den Glauben nichts mehr übrig. Wenn ich mich in einem kindlichen Vertrauen fallen lasse, fühle ich mich im Glauben geborgen und aufgehoben. Damit kann ich mehr tun als jemand, der nicht glaubt: Ich kann beten und hoffen, dass es gut wird.
Ja, und trotzdem erleben wir aber auch, dass manches eben nicht so läuft, wie wir beten oder worauf wir hoffen.
Ja, sicher. Die Welt besteht aus Gutem und Bösen. Sie ist so geschaffen und damit müssen wir zurechtkommen. Auch bei Paulus [in der Bibel, Anm. d. Red.] lesen wir, wie er sich selbst als Schwachen und Sünder bezeichnet, der gegen das Böse zu kämpfen hat. Wenn es ein Apostel schon machen muss, dann steht es uns auch zu.
Talente nicht vergraben
Gibt es einen Bibelvers, zu dem Sie einen besonderen Bezug haben?
„Richtet euren Sinn auf das, was oben ist, nicht auf das Irdische!“ aus Kolosser 3,2. Das sagt eigentlich alles. Diesen Vers fand ich schon immer gut. Es hat in meinem Leben Situationen gegeben, in denen ich schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hatte. In denen ich nach Gewissen, nach meinem Wertebewusstsein und meinen Überzeugungen entschieden habe. Und das war richtig.
Was macht Ihrer Meinung nach ein erfülltes Leben aus?
Jeder bekommt Talente und die soll man nicht vergraben. In meinem Leben habe ich mich bemüht, es gut zu machen. Aber ich hätte es auch sicher besser machen können.
Inwiefern hätte man es besser machen können?
Alles lässt sich besser machen. Es ist nicht so, dass ich in irgendeiner Weise stolz bin. Sondern ich bin mir meiner Schwächen bewusst und weiß, dass ich manchmal hätte mehr machen können. Und dass die eigene Trägheit oft davor steht.
Claus Hipp, der Tausendsassa
Es hätte ja gereicht, das Unternehmen zu leiten. Sie sind darüber hinaus Künstler und Kunstprofessor, Georgischer Honorarkonsul für Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen, spielen im Behördenorchester Oboe. Warum diese Vielfalt?
Erstmal wird es mir schnell langweilig. Und vielleicht ist es schon ein Bedürfnis, Bestätigung auch woanders zu suchen. Aber es war richtig, die Firma zu leiten. Mein Vater war auch ein sehr musischer Mensch. Er hat wunderbare Bilder gemalt, aber er hat zu mir gesagt, als wir über Berufe diskutiert haben: „Da hast du ein Unternehmen, aus dem du noch etwas machen kannst. Ob die Welt auf dich als Künstler wartet, kannst du vorher nicht wissen.“ Und da hat er Recht gehabt.
Ihr Vater ist gestorben, als Sie 29 Jahre alt waren. Inwiefern hat Sie das geprägt und welche Rolle spielt die Perspektive auf die Ewigkeit für Sie?
Dass das Leben kurz sein kann, ist ein Gedanke, der uns immer bewegt. Ich bin dankbar dafür, dass mein Leben schon so lange währt, aber es kann schnell vorbei sein. Manchmal diskutiere ich darüber mit meiner Frau. Sie wüsste immer gern, wie alt sie wird. Und ich frage dann: Was würdest du dann anders machen? Dann hat sie irgendwelche Ideen. Ich sage, lebe jeden Tag so, als ob er der letzte ist. Und wenn sich meine Mitmenschen einmal mit Wohlwollen an mich erinnern, bin ich zufrieden.
Interview: Debora Kuder
Das Unternehmen
HiPP wird von mehr als 8.000 Bio-Landwirten beliefert und ist damit einer der weltweit größten Verarbeiter biologisch erzeugter Rohstoffe. An allen HiPP-Standorten in der EU wird klimaneutral produziert, am Stammsitz in Pfaffenhofen und in Österreich bereits seit 2011. Bis 2025 will das Unternehmen klimapositiv werden und über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg mehr Treibhausgase ausgleichen als verursachen.
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