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Johnny Cash auf dem Walk of Fame. Symbolbild: Getty Images R Scapinello / iStock Editorial / Getty Images Plus

Johnny Cash: Rebell, Sänger, Christ

Vor 20 Jahren starb Johnny Cash, der mit seinem Bariton, seiner rebellischen Präsenz und seinem tiefgründigen Songwriting Musikgeschichte schrieb. Matthias Huff erinnert an den Künstler, dessen Höhen und Tiefen im Leben immer auch von Gottvertrauen begleitet waren.

Es ist Abend geworden in einer Baumwollpflückerhütte in dem kleinen Flecken Dyess in Arkansas. Johnny Cash presst sein Ohr an das Radio, sein Bruder Jack liest die Bibel. Jack ist der ältere, der gute Bruder, der Prediger werden will. Mit 14 Jahren stirbt er 1944 durch einen Unfall.

Der zwei Jahre jüngere, eher renitente Johnny verliert sein Vorbild. Er wird es immer auch als Nachfolge seines Bruders verstehen, wenn er von Jesus singt. Und seine Stimme als Gabe Gottes betrachten.

Immer Grenzgänger

Johnny Cash flieht wie viele arme Südstaatenjungs aus dem Dorf gen Großstadt. Jobs scheitern, er geht zur Armee, dient drei Jahre als Funker in Deutschland. Nach seiner Rückkehr ist er 1954 zur richtigen Zeit am richtigen Platz. Von Memphis aus startet die Siegeswelle des Rock‘n‘Roll, der Produzent Sam Philipps sucht den nächsten Elvis. Gutaussehend und mit markanter Stimme wird Johnny Cash der nächste Teeniestar. Dabei spielt er keinen reinen Rock‘n‘Roll. Sein Boom-Chicka-Boom-Sound läuft unter Rockabilly, seine Musik wird ein Grenzgang zwischen Country, Rock und Folk bleiben. Und seine Songs sind kein harmloses Teeniezeug: Der eine große Hit, die Mörderballade „Folsom Prison Blues“ ist eine Exploration des Bösen voller Reue, Verzweiflung, Wut. Und der andere, „I walk the line“ von 1956, ist ein Song über eheliche Treue. Euphorisch überhastet hat er sich vor der Abreise zur Armee verlobt, entgegen aller Prognosen hält er das Versprechen, heiratet Vivian unmittelbar nach seiner Rückkehr und bekommt mit ihr vier Töchter. Da beschwört einer die gerade Bahn, der die schiefe Bahn sehr gut kennt – und als rasant durchstartender Rockstar die Ehe an die Wand fahren wird.

Flirt mit dem Bösewicht-Image

Im Tourleben sind Aufputschmittel nicht ungewöhnlich, aber Johnny Cash wird schnell und heftig abhängig und unkontrollierbar. Sein Markenzeichen auf Tour ist das Hotelzimmerzertrümmern und immer öfter müssen wegen seines Zustands Konzerte kurzfristig abgesagt werden. 1967 der Tiefpunkt: Er wird an der mexikanischen Grenze mit Drogen verhaftet. Das Foto des Stars mit großer Sonnenbrille, in Handschellen abgeführt, geht um die Welt. Wie hartnäckig er auf das dunkle Verbrecherimage reduziert wird, erzählt mehr über die Medien als über Johnny Cash – sein Leben im Gefängnis beschränkt sich auf sieben Nächte, meist in Ausnüchterungszellen.

Ja, er flirtet mit seinem Image des Badass, des knallharten Typen, aber er bleibt Christ. Ausgemergelt, von den Drogen zerrüttet singt Johnny Cash in den Konzerten weiter Gospel und veröffentlicht Gospelalben. In Interviews wirft er sich dafür später selbst Scheinheiligkeit vor. Ende der 60er ist er am Ende, zieht sich in die riesige Nickajack-Höhle am Tennessee River zum Sterben zurück. Ergreifend beschreibt er später immer wieder, wie Gott zwar nicht mit ihm redete, aber ihn mit seiner Präsenz überwältigte. Im Gebet wird ihm klar: Er hat sich weit von Gott entfernt – Gott hat ihn nicht verlassen. Und er wird sterben, wenn Gott es für richtig hält.

Nach einem kalten Entzug wird er clean und gibt 1968 sein berühmtestes Konzert, „Johnny Cash at Folsom Prison“. Für Gefangene zu spielen, vereint perfekt sein dunkles Image und die Nächstenliebe des Christen, lebenslang kämpft er für die Benachteiligten und Ausgestoßenen. Locker kombiniert er Mörderballaden und Gospel. Und streut komische Songs ein. Der „Man in Black“ ist auch einer der wenigen lustigen Rockstars, als Huhn verkleidet veralbert er sich später als „Chicken in Black.“

Er heiratet nach der Scheidung von Vivian die Sängerin June Carter, die er schon 1956 backstage kennenlernte, und bekommt 1970 mit ihr den ersehnten Sohn, John Carter. Er stürzt sich in das christliche Leben, 1977 wird er zum Pfarrer geweiht. Billy Graham wird ein enger Freund, Johnny Cash und June Carter spielen stetig auf seinen Massenevangelisationen, den „Crusades“. In Israel produziert er „Gospel Road“, einen Kinofilm über Jesus. Das Produktionsteam und reisende Hippies werden vor Ort als Darsteller verpflichtet, June Carter spielt die Maria Magdalena, Johnny Cash den Erzähler.

Jesus, der Country Boy

Unabhängig, auf eigene Kosten zeichnet er im Film sein Jesus-Bild: Jesus ist Erlöser und ganz Mensch. Und als Mensch ist er ein „Country Boy“ wie Johnny Cash, fordert beim Letzten Abendmahl alle auf, ordentlich zuzulangen, bevor es ernst wird. Mit „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ beginnt Jesus im Film die Bergpredigt. Das ist für mich der auffälligste Zug in Johnny Cashs Glauben: Er richtet nicht. Radikal konzentriert er sich auf den Balken in seinem Auge. Bibeltreu und evangelikal erliegt er nicht der Versuchung, anderen Hölle, Teufel und Jüngstes Gericht um die Ohren zu schlagen. Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft strikt in ihm. Erwünschter Nebeneffekt: Er verschreckt sein vielfältiges Publikum von Rednecks bis Hippies mit seinem Glauben kaum.

Meinen schwankenden Glauben erdet und belebt Johnny Cash. Sein nichtrichtender Geist ist mitreißend, sein unglaublich tiefes Gottvertrauen entschieden tröstlich für jemanden, dessen Vertrauen in Gott viel brüchiger ist. Und ich finde mich wieder in jemandem, der feststellen muss, dass er es nie schaffen wird, vollkommen gut zu sein – aber immerhin auch nie ganz böse war. Der keine schroffe Umkehr kennt, sondern eine Glaubensreise voller Irrfahrten und Schiffbrüche. Und Johnny Cash hat eine Menge damit zu tun, dass ich endlich den Weg in eine Gemeinde fand. Mit seiner besten Musik feiert er gerade in den 70er-Jahren neben Jesus das christliche Leben in Gemeinschaft – weil aus seiner Sicht niemand allein und theoretisch Christ sein kann. Die Songs voller Freude und Andacht und mit viel lässigem Humor sind seit 2012 in der Compilation „The Soul of Truth“ leicht zugänglich. Besonders viel Spaß hat es Johnny Cash offensichtlich gemacht, in „The Greatest Cowboy of Them All“ neue Bilder für Jesus zu finden. Aus dem Guten Hirten wird Jesus, der größte aller Cowboys, der freilaufende Rinder, die „Mavericks“, in die Herde zurückbringt.

Spektakuläres Comeback

Das Leben in der Herde gelingt Johnny Cash nicht dauerhaft. Ende der 70er verliert Johnny Cash wieder den Kontakt zur Gemeinde, ein schlechtes Vorzeichen. Er wird wieder heftig drogensüchtig, die Familie bewegt ihn zu einem Drogenentzug in einer Klinik, ganz wird er die Sucht bis zum Lebensende nicht besiegen. Er ist in den 80ern hauptsächlich Legende, die Konzerte sind noch gut besucht, aber seine Platten verkaufen sich nicht mehr. Die Plattenfirma Columbia trennt sich von ihm. Auf verlorenem Posten macht er für seine neue Firma „Mercury Records“ sehr entspannte Platten – die sich noch weniger verkaufen.

Es folgt das spektakulärste Comeback der Rockgeschichte. Mit 61 Jahren nimmt ihn der junge trendige Hip-Hop- und Metal-Produzent Rick Rubin unter Vertrag. Für sein unabhängiges Label „American Recordings“ verwandelt Rick Rubin den Country-Patriarchen zurück in die dunkel-gefährliche Gestalt des Anfangs. Johnny Cash wird wieder hip. Im Video zur Mörderballade „Delia‘s Gone“ mit Kate Moss als Leiche ist schwer zu entscheiden, was noch zerfurchter ist, sein Gesicht oder seine Stimme. 2002 wird „Hurt“, der Song der damals angesagten Band Nine Inch Nails über einen jungen Drogensüchtigen, zum Song des alten Cash, seit den 90ern gezeichnet von vielen teils lebensbedrohlichen Krankheiten. Das Christliche ist etwas zurückgetreten, aber mit dem Titelsong des letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Albums setzt Johnny Cash wieder ein starkes Zeichen. Sieben Jahre hat er an „The Man Comes Around“ gearbeitet. Ein beunruhigendes Meisterwerk über das Jüngste Gericht, mit offenem Ausgang fokussiert auf einen Angeklagten: Johnny Cash.

Mit 71 Jahren stirbt er am 12. September 2003, ein halbes Jahr nach seiner Frau. Ganz am Lebensende hat er wohl das ihn prägende Vertrauen in die Gnade Gottes trotz allem wiedergefunden. Alles, was ihn sterbend erfüllte, schreibt sein Sohn, war die Freude, Junes Gesicht wiederzusehen. So endet eine vier Jahrzehnte dauernde große Liebesgeschichte zwischen zwei gleich starken und gleich zerrissenen Künstlern, deren gemeinsame Basis alle Kämpfe überstand: Humor, Musik und Jesus.

Der Südstaatenjunge hat seinen Job erfüllt, er hat von Gott und für Gott gesungen und sein Grabstein zeugt von der Hoffnung, dass es gefiel: „Lass dir wohlgefallen die Rede meines Mundes und das Gespräch meines Herzens vor dir, Herr, mein Fels und mein Erlöser“ (Psalm 19,15).

Matthias Huff ist Journalist und Autor.

 

Buchempfehlung zum Thema: Matthias Huff: „Johnny Cash – Meine Arme sind zu kurz, um mit Gott zu boxen“ (adeo). In dieser Biografie über Johnny Cash erzählt der langjährige Fan und Kenner Matthias Huff die von Drogen und Gottvertrauen durchzogene Lebensgeschichte der rebellischen Musikikone.

Willi Weitzel unterwegs mit dem Esel. Foto: Privat

„Manchmal fällt es mir schwer, optimistisch in die Zukunft zu schauen“

Der Moderator Willi Weitzel stellt nicht nur kluge Kinderfragen, sondern ist auch neugierig. Im Interview verrät er, was ihn bewegt und was ihm Hoffnung gibt.

Manchmal hat Willi Weitzel ein schlechtes Gewissen. So wie jetzt, als ein Cappuccino mit Kuhmilch vor ihm steht: Der Kaffee ist zwar bio, aber leider war die Hafermilch alle. Dabei ist ihm Nachhaltigkeit wichtig. Für viele ist Willi Weitzel, 49, immer noch der Moderator der Fernsehsendung „Willi wills wissen“, der von 2002 bis 2009 Familien die Welt erklärte. Neugierig, fröhlich, mit großen Augen. Auf der Höhe seines Erfolgs stieg er aus der Sendung aus und begab sich auf die Suche danach, wer er jenseits seiner Sendung eigentlich ist und sein möchte. Fragen stellen, reisen, die Welt erforschen und verrückte Ideen ausprobieren – das tut Willi Weitzel immer noch, als Reporter, Moderator, in seinen Vorträgen und Filmen. Aber sein Ton ist nachdenklicher geworden.

Nachhaltigkeit ist für dich ein wichtiges Thema. Du hast drei Töchter – wie lebt ihr das Thema als Familie?

Im Vergleich zu vor zehn Jahren hat sich schon viel getan. Bei uns gibt es zu Hause zum Beispiel keinen Fisch mehr aus dem Meer. Wenn, dann aus dem Ammersee, wo wir wohnen, oder aus geschützten Beständen. Ich lebe zu 90 Prozent vegetarisch, manchmal sind es auch hundert. Ich kann allerdings nicht immer auf Fleisch verzichten. Und ich weiß auch, woran das liegt: Weil wir viel von unserem Geschmack mit der Kindheit verbinden. Deswegen ist es auch mein Ziel, meinen Kindern Dinge auf den Tisch zu bringen, über die sie vielleicht in dreißig Jahren sagen: „Ach toll, heute gibt es wieder Falafelbällchen, wie früher beim Papa!“

Das klingt gut! Wie sieht es mit Wohnen und Mobilität aus?

Wir wohnen als Familie auf dem Land und beziehen hier Naturstrom. Leider haben wir es bisher als Mieter noch nicht geschafft, eine Solaranlage aufs Dach zu bekommen. Aber wir haben seit zwei Jahren ein Elektroauto. Das nutzen wir eigentlich nur, um von Dorf zu Dorf zu kommen und für den Kindertransport. Aber inzwischen sind 25.000 Kilometer drauf und ich bin dankbar, dass diese nicht in die Luft verpufft sind. Es ist nicht die Lösung aller Lösungen, aber etwas, das ich tun kann. Insgesamt ist es nicht so leicht, in den Medien das gute Vorbild zu erklären und das dann auch im Alltag zu leben. Manchmal denke ich auch: „Hoffentlich guckt jetzt keiner rein“, wenn ich mir noch eine Scheibe Wurst abschneide.

In deinen Filmen und Reportagen geht es neben Klimawandel oft auch um schwierige Themen wie Krieg, Flucht, Ausbeutung. Wie gelingt es dir, trotzdem eine gewisse Leichtigkeit zu behalten?

Ehrlich gesagt: Persönlich gelingt mir dieser Spannungsbogen nicht immer so gut. Manchmal fällt es mir schon schwer, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Zum Beispiel war ich für meinen Kinofilm „Willi und die Wunderkröte“ mit dem Wissenschaftler Martin Jansen vom Senckenberg-Forschungsinstitut im Süden Boliviens unterwegs. Dort habe ich wirklich ein Natur-Paradies entdeckt. Die vielen Bäume dort wurden inzwischen abgeholzt. Ein Rinderbaron wollte einfach noch mehr haben – schreckliche Realität. In solchen Momenten hilft mir
nur noch mein Optimismus. Ich wohne nicht weit vom Kloster Andechs. Der dortige Abt, Johannes Eckert, hat sein neuestes Buch über die Apokalypse geschrieben und die Quintessenz hat mich getröstet. Seiner Meinung nach ist es, wenn du Christ bist, nicht fünf nach zwölf. Es bleibt fünf vor zwölf. Daran orientiere ich mich. Weil ich ein Vorbild – auch für meine eigenen  Kinder – bin, versuche ich, einfach zu machen und mich nicht zu Tode zu grübeln.

Vor 13 Jahren, mit 36, hast du dir eine Auszeit bei „Willi wills wissen“ erbeten, weil du eine Pause brauchtest. Du bist damals einfach allein über die Alpen gewandert, vier Wochen lang. Wie war das?

Es war damals unglaublich befreiend, selbstbestimmt den Takt vorzugeben und aus der Maschinerie der Sendung herauszukommen. Es war ein Weggehen und Ankommen. Mit meinem Erfolg bei „Willi wills wissen“ hatte ich auch eine gewisse Eitelkeit entwickelt. Aber allein mit dem Rucksack, im Zelt, auf Hütten – das hat mich total geerdet und mich unglaublich glücklich gemacht. Die Welt unten im Tal und die Probleme waren oben auf dem Berg so klein. Und ich war dem Himmel näher als der Realität. In dieser Situation habe ich die Entscheidung getroffen, mit „Willi wills wissen“ aufzuhören. Für diesen Entschluss bin ich bis heute dankbar – und bereue ihn zugleich.

Du bist anschließend für einige Tage in ein Benediktiner-Kloster gegangen. Was hast du dir davon erhofft?

Ich glaube, ich wollte mir nochmal diesen Himmel, den ich in den Bergen erfahren hatte, in meine Nähe holen. Im Kloster konnte ich – abseits aller Alltagseinflüsse – mein Leben neu sortieren und die Weichen neu stellen, sowohl beruflich als auch privat. Aber eigentlich ging es nur um das Gewinnen, oder vielleicht auch Zurückgewinnen einer inneren Haltung. Wer bin
ich? Was will ich? Die Frage taucht ja nicht nur in meinem Leben auf. Streben wir nicht alle nach Zufriedenheit? Antworten und Wegbeschreibungen zu echter Zufriedenheit finden wir nur in uns selbst – und nicht in Büchern oder dem Internet.

Du warst früher Messdiener und Sternsinger, kamst dann zum Theologiestudium nach München. Den christlichen Glauben hast du mal als Wurzel bezeichnet. Warum lässt er dich nicht los?

Diese Wurzeln sind unglaublich stark, das merke ich. Obwohl ich es im Moment sehr schwierig finde. Ich bin den Katholiken ja schon seit 49 Jahren treu. Seit zwanzig Jahren heißt es:  „Wenn wir alle austreten würden, können wir nichts von innen heraus verändern.“ Leider ändert sich aber auch so nichts. Nun fangen die Ersten in leitenden Positionen an auszutreten und ich selbst hadere auch. Vor allem mit der katholischen Kirche aber auch mit meinem Glauben. Und trotzdem sind da diese Wurzeln, die schon früh in der Kindheit angelegt worden sind. Ich rieche den Weihrauch, höre das Te Deum – das schafft eine Gänsehaut und eine Anbindung. Die Frage ist: Werden die Wurzeln mich davon abhalten, mich weiterzuentwickeln? Oder geben sie mir vielleicht die Anbindung, die mich auch durch die gegenwärtigen Zeiten bringt? Es wird mich wahrscheinlich bis zum Lebensende so zwiespältig begleiten.

Du bist mit einem Esel 180 Kilometer von Nazareth nach Bethlehem gewandert. Wie kam es dazu?

Ich hatte in der Weihnachtszeit meiner damals fünfjährigen Tochter die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Auf ihre Frage, wie lange Maria und Josef dafür unterwegs gewesen waren, dachte ich, dass es doch eigentlich meine Aufgabe ist, solche Kinderfragen zu beantworten. Mein neues Projekt: zu Fuß von Nazareth nach Bethlehem, begleitet von einem Esel. Vor Ort fand ich nach zwei Tagen einen Esel, mit dem ich bis zum Westjordanland kam. Allerdings durfte er nicht mit über die Grenze, weil es auch schon bombenbeladene Esel gegeben hatte. Ich konnte mir dort einen anderen Esel kaufen, der mich bis in die Nähe von Jericho brachte. Leider ist er zwei Tagesetappen vor Bethlehem nachts abgehauen. Für das letzte Stück habe ich einen Beduinen gefunden, der mir seinen Esel zwar nicht verkaufen konnte, mich aber zwei Tage lang mit ihm begleitet hat. Nach zwölf Tagen hatte ich es endlich geschafft.

Das klingt wirklich abenteuerlich …

Was jetzt als fluffige Geschichte daherkommt, war vor allem eins: anstrengend. Ein Heidenrespekt, wenn Maria das hochschwanger gemacht haben soll! In der öden, heißen Wüste hatte ich das Gefühl nicht voranzukommen, denn alles sah gleich aus. So ging es auch meinem beduinischen Begleiter, der zehn Kilometer vor Bethlehem sagte, er kann nicht mehr, jetzt drehen wir um. Er hat nicht verstanden, warum ich bis nach Bethlehem wollte und sich geweigert. Ich sagte ihm, es sei ein heiliger Weg. Er fragte: „Like Hadj?“ (Also die berühmte Pilgerreise der Muslime). Ich sagte: „Ja!“ Er ging sofort und kommentarlos weiter bis nach Betlehem.

In welchen Momenten hast du den Glauben sonst besonders stark erlebt?

Vor einigen Jahren war ich mit meinem besten Freund in Jerusalem. Ich wusste, wenn morgens um fünf Uhr die Grabeskirche aufgeschlossen wird, ist noch niemand da. Wir standen also vor dem Grab und auf einmal guckte ein Mönch aus der Grabkammer heraus und lud uns ein, mit ihm zusammen Gottesdienst zu feiern. Das taten wir, übermüdet wie wir waren. Ich habe die Lesung gemacht und er hat uns Wein und Brot gegeben. Wir waren unglaublich bewegt und hatten danach sogar feuchte Augen, weil wir noch nie zuvor eine so intensive Glaubenserfahrung gemacht hatten.

Interview: Debora Kuder

Eine belebte Einkaufsstraße. Symbolbild: Getty Images / William Barton / iStock / Getty Images Plus

Kirche und Konsum: Würde Jesus heute Markenjeans tragen?

Modernes Marketing ist darauf ausgelegt, Wünsche zu wecken, unabhängig davon, was wir wirklich brauchen. Konsum ist mittlerweile Selbstzweck. Doch das hat weitreichende Konsequenzen für uns  – und die gelebte Nächstenliebe. Eine Spurensuche von Pastor Matthias Voigt.

New York City, 1920er-Jahre. Edward Bernays war im Ersten Weltkrieg Propaganda-Offizier gewesen und hatte die US-amerikanische Bevölkerung darauf eingestimmt, in den Krieg einzutreten. Als der Krieg zu Ende war, überlegte er sich: Was in Kriegszeiten durch Propaganda funktioniert hatte, könnte man doch in Zeiten des Friedens für die Wirtschaft anwenden. Und er gründete in New York das erste PR-Büro.

Grüne Werbung

Eines Tages trat die Zigarettenfirma Lucky Strike an ihn heran. Lucky Strike hatte gerade ein neues Design entworfen und auf ihre Zigarettenschachteln drucken lassen. Es war grün. Das Problem war: Aufgrund der Farbe kauften vor allem Frauen diese Packungen nicht. Die Farbe war nicht angesagt, galt als unmodern und passte vor allem nicht zur Garderobe. Lucky Strike hatte eine Menge in das neue Design investiert, aber die Packungen wurden nicht gekauft.

Was tat Bernays? Er mietete das luxuriöse New Yorker Hotel Waldorf-Astoria und lud zu einem großen, opulenten Ball. Zum „grünen Ball“. Er beauftragte einflussreiche Designer, die an diesem Abend eine grüne Kollektion vorstellten. Alle Frauen trugen grüne Abendkleider und Bernays sorgte dafür, dass alle wichtigen Modejournalisten an diesem Abend anwesend waren.
Und was geschah? Alle Journalisten schrieben über diesen besonderen Ball. Grün wurde zur Modefarbe der nächsten Saison. Grün war in. Es war der Trend. Wer modisch vorne mit dabei sein wollte, trug Grün. Und wer hatte die passenden Zigaretten für diesen Trend? Lucky Strike. Und der Absatz ging durch die Decke.

Eier mit Speck

Edward Bernays war unglaublich erfolgreich und einflussreich mit seiner PR. Anderes Beispiel: Wir kennen Bacon and Eggs – Eier mit Speck – als das klassische amerikanische Frühstück. Als man sich immer mehr auf Toast mit Kaffee zum Frühstück beschränkte, engagierte ein Fleischproduzent Bernays. Und nachdem dieser eine Umfrage unter Ärzten veröffentlichen ließ, die ein reichhaltiges Frühstück empfahlen, stiegen die Verkaufszahlen des Fleischproduzenten rasant. Kaum jemand kennt seinen Namen, aber Bernays wurde vom Life Magazine zu einer der 100 einflussreichsten Personen des 20. Jahrhunderts gekürt.

Er war so erfolgreich, weil er eine Sache verstanden hatte und bewusst steuerte: Menschen kaufen nicht nur das, was sie brauchen oder ihnen nützt, sondern das, was ihnen ein gutes Gefühl gibt. Das, was eine Sehnsucht stillt. Unser Konsum ist von Sehnsüchten und Gefühlen stärker bestimmt als von unserem echten Bedarf.

Das ist auch hundert Jahre nach Bernays Erfindung von PR nicht anders. Herausforderungen mit Konsum und Besitz gibt es aber natürlich schon deutlich länger. Als Christ und Pastor interessiert mich, was wir von Jesus über den Umgang mit Konsum lernen können. Was hat Konsum mit unserem Inneren zu tun? Und wie sieht ein Lebensstil aus, der nicht von Konsum bestimmt ist?

Zwei Risiken des Konsums

Im Lukasevangelium wird uns von einer Begegnung mit Jesus berichtet. Als Jesus immer bekannter wurde, kamen immer wieder auch Menschen mit ihren Fragen und ihren Anliegen zu ihm. Es war damals üblich, dass man religiöse Lehrer auch zu solchen Angelegenheiten wie Finanzen befragte. Und so kommt jetzt ein Mann zu Jesus und will, dass er sich um seine Erbangelegenheit kümmert. Aber Jesus lehnt ab und benutzt stattdessen die Situation dafür, um allen Umstehenden eine Sache klarzumachen: „Lieber Mann, wer hat mich denn zum Richter über euch eingesetzt oder zum Vermittler in euren Erbangelegenheiten?“, fragt Jesus und wendet sich daraufhin an alle: „Nehmt euch in Acht! Hütet euch vor aller Habgier! Denn das Leben eines Menschen hängt nicht von seinem Wohlstand ab“ (Lukas 12,14-15).

Er spricht eine doppelte Warnung aus. Er sagt es gleich zweimal, um die Wichtigkeit klarzumachen: „Nehmt euch in Acht. Hütet euch.“ Hütet euch vor Habgier, also vor diesem Wunsch, dem Streben, immer mehr haben zu wollen.

Und dann folgt seine Begründung: „Denn das Leben eines Menschen hängt nicht von seinem Wohlstand ab.“ Das Leben ist nicht im Wohlstand zu finden. Echtes Leben findet sich nicht in Besitz, Geld oder Vermögen.

Und um den Punkt noch klarer zu machen, erzählt Jesus anschließend die Geschichte von einem Landwirt, dessen Land eine sehr gute Ernte gebracht hatte. Er überlegt: Was mache ich mit all meinem Reichtum? Er beschließt, all seine Scheunen abzureißen, um größere Scheunen zu bauen, und sagt sich: Wenn ich das alles fertig habe, wenn ich all diesen Reichtum gesammelt, gelagert, verstaut und angehäuft habe … dann werde ich Ruhe finden. Dann werde ich Freude haben am Leben.

Das gute Leben

Am Ende der Geschichte sagt Jesus, was Gott für ein Urteil über diesen Landwirt fällt: „Du Narr, noch in dieser Nacht wird dein Leben von dir zurückgefordert werden. Wem wird dann das gehören, was du angehäuft hast? … So geht es dem, der nur auf seinen Gewinn aus ist und nicht reich ist vor Gott“ (Lukas 22,20-22).

Was kritisiert Jesus hier? Nicht, dass der Mann viel hatte. Nicht, dass er reich war. Nicht, dass er überlegt, wie er es lagern soll. Sondern Jesus kritisiert zweierlei.

Erstens: Jesus nennt es dumm, töricht, kurzsichtig, wenn unser Fokus darauf liegt, mehr besitzen zu wollen. Wenn wir denken, dass wir darin Leben finden. Der Landwirt sagt: „Wenn ich das alles habe und gelagert habe, dann habe ich Ruhe, dann habe ich Freude. Dann kann ich leben.“ Er meint, dass er das gute Leben in seinem Besitz findet. In seinem Wohlstand. Seine Vorstellung ist: Wenn ich genug habe, dann habe ich das gute Leben. Aber Jesus sagt: Das Leben ist nicht in Besitz zu finden. Wahres und gutes Leben finden wir woanders.

Was hat das nun mit uns zu tun? Ich selbst bin nicht immun dagegen zu meinen, dass das gute Leben in Geld und Besitz zu finden ist. Ich bin jetzt 38 und bin gerne Pastor, aber ich habe in meinem Freundeskreis mehrere Leute, die gerade richtig in ihren Karrieren durchstarten. Projektmanager, Geschäftsführer, Firmengründer. Sie alle verdienen deutlich mehr als ich. Ich sehe die Häuser, die sie bauen, die Reisen, die sie unternehmen. Oder einfach, mit welchen Konsumgütern sie ihr Leben gestalten. Ich merke immer wieder, wie ich denke: Das wäre das wirklich gute Leben. Das ist das leichte Leben. Das bessere Leben.

Konsum als Lebensstil

Wir meinen oft, dass Leben eben doch in Besitz zu finden ist. Das ist kein Zufall. Denn diese Tendenz unseres Herzens wird ganz bewusst verstärkt vom – und hier kommt noch mal Edward Bernays ins Spiel – modernen Marketing. 1955, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Zeit des Wirtschaftsaufschwungs, hat der Ökonom und Analyst Victor Lebow Folgendes geschrieben: „Unsere so enorm produktive Wirtschaft verlangt es, dass wir Konsum zu unserem Lebensinhalt machen. Dass wir den Kauf und die Verwendung von Gütern zu Ritualen erheben, in denen wir unsere geistliche Zufriedenheit und die Befriedigung unseres Egos finden. Das führt dazu, dass Dinge immer schneller konsumiert und verbraucht werden, immer schneller veralten und ersetzt werden müssen.“

Damit unsere Wirtschaft funktioniert, muss Konsum ein Lebensstil werden, sagt Victor Lebow. Unser Lebensinhalt, von dem wir uns geistliche Zufriedenheit und Befriedigung unseres Egos erhoffen, also Status und innere Ruhe. Denn nur, wenn wir das in Konsum und Besitz finden wollen, kaufen wir immer Neues. Lebow zeigt auf, dass Konsum bewusst in die Mitte unseres Lebens gestellt wird. Dass wir bewusst unsere Hoffnungen auf den Konsum setzen sollen.

Konsumentengehirn

2017 hat ein interessanter Artikel aus dem ZEIT-Magazin beschrieben, welche Rolle Konsum in unserem Leben inzwischen eingenommen hat. Darin wird der Münchener Konsum- und Marketingforscher Hans-Georg Häusel zitiert: „Das Konsumentengehirn fragt weniger danach, ob wir etwas brauchen, als nach Belohnung. … Der Belohnungswert wird durch Marken nur noch gesteigert. Besonders Modeartikel haben immer diesen Belohnungscharakter, weil sie suggerieren, uns attraktiver zu machen. Mit anderen Worten: Wir kaufen, weil es sich gut anfühlt.“

Und weiter sagt Häusel: „Der Konsum ist an die Stelle traditionell sinnstiftender Institutionen wie Religion, Familie oder politische Ideologien getreten. Während Identität früher davon abhängig war, von wem man abstammte oder wie gottgefällig man lebte, bildet sie sich heute über die Dinge, die wir kaufen.“

In den Dingen, die wir kaufen, wollen wir Sinn finden, Wert, Identität. Anerkennung. Unser Konsum ist nicht von unserem Bedarf gesteuert, sondern richtet sich danach, was eine Sehnsucht in uns stillt: Ich fühle mich gut und wertvoll, weil ich mich mit meinem Style von der Masse abhebe. Ich weiß, ich bin okay, weil ich mir etwas Bestimmtes leisten kann. Ich hebe mich ab, weil ich weiß, wie man mit der richtigen Espresso-Maschine einen guten Flat White macht.

Was machen wir da? Wir suchen das gute Leben im Besitz. Durch unseren Konsum suchen wir Sinn und Leben. Wie der Landwirt. Wenn ich dieses oder jenes besitze, dann habe ich das gute Leben. Das ist das eine, was Materialismus mit uns macht.

Ich, Meiner, Mir, Mich

Die zweite Gefahr können wir ebenfalls bei dem Landwirt beobachten. Es ist extrem auffällig im griechischen Text, wie oft der Bauer die Personalpronomen ich, mein, mich verwendet. Meine Scheune, mein Getreide, meine Vorräte, meine Ernte.

Während damals sehr klar war, dass die Reichen eine Verantwortung für die Gesellschaft hatten und Teile ihrer Ernten verwenden sollten, um den Armen zu dienen, liegt sein Fokus komplett bei sich selbst. Und Gottes Urteil ist: „Du törichter Mensch. Wenn du heute Nacht stirbst, was hast du davon? Du bist nicht reich vor Gott.“ Du hast dich nur auf dich selbst fokussiert. Das ist der zweite Punkt, den der Materialismus bei uns bewirkt: Unser Blick ruht auf uns selbst und wir blenden die anderen zu einem Stück weit aus. „Ich, meiner, mich, mir – Gott segne uns vier.“

Weil unser Konsum uns bei dieser Sehnsucht nach dem guten Leben packt, laufen wir Gefahr, die Bedürfnisse von anderen auszublenden.

Ich will ein konkretes Beispiel dafür geben. Jeder, der sich schon mal ein bisschen mit der Modeindustrie beschäftigt hat, weiß, dass viele Kleidungsstücke unter äußerst schlechten Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Und viele von uns haben sich wahrscheinlich schon einmal vorgenommen, mehr teurere, nachhaltigere Marken zu kaufen. Warum scheitern wir mit diesem Vorsatz immer wieder?

Weil wir in dem Moment, in dem wir im Laden stehen und überlegen, ob wir jetzt wirklich 50 Euro mehr für die nachhaltig produzierte Jeans bezahlen, doch schnell unseren Geldbeutel und unseren Konsum mehr lieben als die Menschen, die unter der Produktion leiden. Weil die Verlockung, für das gleiche Geld mehr Kleidungsstücke zu bekommen, einfach zu groß ist. In dem Moment, in dem wir eingeschränkt werden, verlieren wir andere Menschen ziemlich schnell wieder aus dem Blick.

Wenn Materialismus uns dazu führt, das Leben im Besitz zu suchen und unseren Blick auf uns selbst verengt – was können wir dagegen tun?

Die Freiheit der Einfachheit

Jesus hat in seiner Geschichte mit dem Landwirt schon gezeigt, dass unsere Sterblichkeit uns eine neue Perspektive auf Besitz und Konsum geben kann. Passend dazu lesen wir im 1. Timotheusbrief: „Ein Leben in der Ehrfurcht vor Gott bringt tatsächlich großen Gewinn, vorausgesetzt, man kann sich – was den irdischen Besitz betrifft – mit Wenigem zufrieden geben. Oder haben wir etwas mitgebracht, als wir in diese Welt kamen? Nicht das Geringste! Und wir werden auch nichts mitnehmen können, wenn wir sie wieder verlassen. Wenn wir also Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen“ (1. Timotheus 6,5-8).

Paulus schreibt hier im Klartext: Wir haben nichts mit in diese Welt gebracht und werden auch nichts mitnehmen können. Ich las mal von einem Pastor, der eine sehr reiche Frau beerdigte. Er wurde von den Umstehenden gefragt: Wie viel hat sie hinterlassen? Woraufhin der Pastor antwortete: „Alles. Jeden einzelnen Cent.“

Mein Sohn hat während des Lockdowns Monopoly entdeckt und wir saßen zum Teil stundenlang auf dem Balkon und haben Monopoly gespielt. Wir haben eine Hamburg-Version und so haben wir um die Elbchaussee gekämpft, versucht, die große Freiheit zu vermeiden und uns darüber lustig gemacht, dass eine Übernachtung beim HSV so wenig kostet. Ich habe versucht, meinem Sohn das Geld aus der Tasche zu ziehen und er umgekehrt mir, und es galt: Wer am meisten hat, gewinnt. Aber am Ende des Spiels kommt alles wieder in die Schachtel. Und was bleibt, ist der Spaß und die Zeit, die er und ich zusammen hatten.

Mit leichtem Gepäck

Wir leben unser Leben immer wieder nach dem Grundsatz von Monopoly: Je mehr, desto besser. Wer am meisten hat, gewinnt. Aber „wenn das Spiel vorbei ist, kommt alles wieder in die Schachtel“, wie es der US-amerikanische Pastor John Ortberg einmal formuliert hat. Selbst wir landen da. Wir können nichts mitnehmen. Und Paulus ergänzt: Nehmt diese große, ewige Perspektive ein. Und lasst euren Umgang mit Besitz davon geprägt sein. Alles, was ihr habt, ist Reisegepäck. Und das bringt ihn dazu, uns zur Einfachheit zu ermutigen: „Wenn wir daher Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen.“

Er meint damit nicht, dass alle Christen arm sein sollten. Er meint, wenn wir nur das Mindeste haben, Kleidung und Nahrung, wollen wir es uns genügen lassen. Wir können selbst im Einfachen zufrieden sein. Als wichtigen Zusatz schreibt er in Vers 17: „Schärfe denen, die es in dieser Welt zu Reichtum gebracht haben, ein, nicht überheblich zu sein und ihre Hoffnung nicht auf etwas so Unbeständiges wie den Reichtum zu setzen, sondern auf Gott; denn Gott gibt uns alles, was wir brauchen, in reichem Maß und möchte, dass wir Freude daran haben.“

Bewusst etwas einfacher

Ich verstehe den Gott, von dem wir in der Bibel lesen, so: Er möchte, dass wir das, was wir haben, genießen. Dass wir Freude daran haben. Wie kommt das zusammen: Einfachheit und Genuss? Einfachheit heißt nicht Askese, sie bedeutet keinen negativen Blick auf Besitz. Oder dass man nichts haben darf, was Freude macht. Wir dürfen genießen, was Gott uns gibt. Aber auch mit einem einfachen Lebensstil zufrieden sein. Was heißt es dann, einen Lebensstil der Einfachheit zu leben?

Einfachheit sieht für jeden von uns anders aus. Gerade wenn wir unterschiedlich viel haben oder besitzen. Es gibt nicht den einen uniformierten Lebensentwurf, wie viel Besitz in Ordnung ist. Sondern: Einfachheit bedeutet, dass ich bewusst ein wenig einfacher lebe, als ich es mir eigentlich leisten könnte. Und das sieht für jeden von uns anders aus.

Ich lebe bewusst etwas einfacher, als ich es mir eigentlich leisten könnte. Aus zwei Gründen. Zum einen, um mir bewusst zu machen, dass mein Leben nicht im Besitz zu finden ist. Oder in mehr Gütern. Oder in mehr Luxus. Mein Leben liegt bei Gott, der mich versorgt. Einfachheit wirkt also dieser ersten Auswirkung des Materialismus entgegen.

Und ich lebe etwas einfacher, als ich könnte, um Geld zu haben, das ich großzügig weggeben kann. Das heißt, Einfachheit wirkt auch dem zweiten Symptom des Materialismus entgegen, diesem Blick nur auf uns selbst.

In der Bibel finden wir die Einladung, etwas einfacher zu leben, als wir es uns leisten könnten, um uns auf Gott auszurichten und andere zu lieben.

Lebensstil prüfen

Im Jahr 1980 kamen in London 85 Christen aus 27 Ländern im Rahmen der Lausanner Bewegung zusammen, einer weltweiten Bewegung von Christen aus unterschiedlichen Hintergründen und mit ganz unterschiedlichen finanziellen Mitteln. Die Hälfte dieser Leute kam aus dem globalen Süden. Vier Tage lang dachten sie intensiv darüber nach, wie ein Leben in Einfachheit aussehen kann. Und ich finde das Statement großartig, das sie am Ende verabschiedet haben. Hier ein Auszug daraus:

„Manche von uns sind dazu berufen, unter den Armen zu leben, andere dazu, ihre Häuser für Bedürftige zu öffnen. Aber wir alle sind entschlossen, einen einfacheren Lebensstil zu führen. Wir wollen unsere Einnahmen und Ausgaben nochmals prüfen, um mit weniger leben und mehr weggeben zu können. Wir stellen keine Regeln oder Gesetze auf, weder für uns noch für andere. Aber wir beschließen, auf Verschwendung und Extravaganz in unserem Lebensstil, unserer Kleidung, unseren Häusern, unseren Reisen und unseren Kirchengebäuden zu verzichten. Wir erkennen den Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Luxuriösen, zwischen kreativen Hobbys und leeren Statussymbolen, zwischen Bescheidenheit und Eitelkeit, zwischen großen Festen als Höhepunkte oder als normale Anlässe, zwischen dem Dienst für Gott und der Sklaverei durch Trends. Wo genau jeder diese Linie zieht, erfordert gewissenhaftes Nachdenken und Entscheidungen von uns selbst sowie die Unterstützung von anderen.“

Wie kann Einfachheit in unserem Leben aussehen? Wie können wir etwas einfacher leben, sodass wir uns dem Versprechen des Materialismus lösen, das besagt: Das gute Leben findet sich in Besitz? Was können wir diesem Versprechen entgegenstellen? Wie können wir einfacher leben, sodass wir mehr weggeben und anderen damit dienen können?

Ein Lebensstil der Einfachheit findet sein Vorbild sowie seine Motivation und Kraft in Jesus Christus. Jesus kam auf die Welt, wurde in einem Stall geboren und lebte so viel einfacher, als er es sich hätte leisten können. Um Gottes Liebe zu zeigen. Was wäre passiert, wenn Jesus nur sich selbst im Blick gehabt hätte? Was wäre passiert, wenn er das „gute Leben“ allein im Reichtum des Himmels gesehen hätte? Er ging in die Einfachheit – aus Liebe zu uns, aus Nächstenliebe. Könnten wir nicht seinem Beispiel folgen, den Blick von uns nehmen und in einen einfacheren Lebensstil investieren, um andere zu lieben?

Matthias Voigt ist Pastor Hamburg-Barmbek und arbeitet an seiner Doktorarbeit.

Anselm Grün, Foto: Julian Hilligardt

Anselm Grün: „Wir brauchen neue Deutungen unserer alten christlichen Tradition“

Anselm Grün, der meistgelesene Benediktinerpater, sieht die Kirche in der Krise. Was sie retten kann, sind kleine Rituale, sagt er im Interview.

Bei allen Nöten und Ängsten, die die Corona-Krise mit sich gebracht hat: Sehen Sie auch die Chance, dass durch sie ein positiver Wertewandel angestoßen wird?
Ich sehe schon die Chance darin. Bei vielen ist eine neue Nachdenklichkeit entstanden und sie fragen: Was ist der Sinn des Lebens? Was trägt mich eigentlich? Gerade in einer Zeit, wo alles Äußere unsicher geworden ist – was gibt mir da Sicherheit? Da ist der Glaube eine wichtige Hilfe. Dass ich im Glauben ein Fundament finde, auf dem ich stehen kann.

Das andere ist: Wir haben erlebt, dass wir voneinander abhängig sind. Wir können einander mit dem Virus anstecken und uns negativ infizieren. Aber wir können es auch positiv sehen: Jeder von uns hat eine Ausstrahlung, wenn wir anderen Menschen begegnen. Da ist die Frage: Was geht von mir aus? Bitterkeit, Aggression und Verurteilung? Oder geht von mir Wohlwollen, Frieden und Liebe aus?

Inwiefern haben wir als Christen und Kirchen Angebote für die Menschen in dieser Umbruchszeit?
Die Kirchen haben sicher die Chance, den Menschen Sinn zu vermitteln. Dass der Sinn eben nicht nur darin besteht, so zu leben wie immer, sondern offen zu sein für das Größere, offen zu sein für Gott. Die Kirchen haben auch die Aufgabe, in dieser Anonymität der Gesellschaft Beziehungen zu stiften und Gemeinschaft zu schaffen, Orte der Verbundenheit zu schaffen. Und die Kirche hat die Aufgabe, Beistand zu leisten. Vor allem den Menschen beizustehen, die allein sind und nicht mit sich auskommen.

„Ich glaube, dass in jedem Menschen die Sehnsucht nach Gott ist“

Im Moment kehren viele Menschen der Kirche den Rücken, die Austrittszahlen steigen. Wie können da die christlichen Werte zu den Menschen in unserer Gesellschaft finden?
Das ist sicher eine große Not, die Sie da ansprechen. Die Frage bewegt mich schon seit Jahren. Mein Bestreben ist, in dieser Krise eine Sprache zu finden, die die Menschen anspricht. Es gibt zwei wichtige Bedingungen: Das eine ist, dass wir erst einmal auf die Menschen hören, auch auf die, die austreten und der Kirche den Rücken kehren. Was sind ihre Bedürfnisse? Was bewegt sie? Nur wenn ich auf sie höre, kann ich auch eine Antwort geben. 

Und das zweite ist, dass ich an die Menschen glaube. Dass ich glaube, dass in jedem Menschen die Sehnsucht nach Gott ist. Vielleicht drückt sie sich nicht immer so konkret als Sehnsucht nach Gott aus, aber als Sehnsucht nach dem Geheimnis, nach Echtheit, nach Klarheit, nach einem Sinn, nach dem Guten, nach einem erfüllten Leben. Nur wenn ich an diese Sehnsucht glaube, kann ich auch eine Sprache finden, die diese Sehnsucht anspricht und bewegt. Das ist für mich eine wichtige Aufgabe.

Wie kann sie gelöst werden?
Wenn wir in die Geschichte schauen, dann waren es nicht die Theologen, die den Glauben gerettet haben, sondern eine gesunde Form von Volksfrömmigkeit. Wir haben viele Rituale in unseren Kirchen, aber sie stammen häufig aus einer landwirtschaftlichen Kultur und sind heute so nicht mehr vermittelbar. Da müssen wir neue Formen finden. Nicht nur von der Kirche her, sondern auch in den Familien, Hauskreisen [christlichen Gruppentreffen, Anm. d. Red.] oder für den Einzelnen neue Formen finden: Wie kann ich den Glauben ausdrücken? Wie kann ich den Glauben in den Alltag bringen? Nicht moralisierend, sondern für den Glauben zu werben, dass der Glaube dem Leben einen anderen Geschmack und eine andere Intensität gibt.

Ritual zum Einschlafen

Welche Rituale und Ausdrucksformen passen gut in die heutige Zeit?
Am Abend erlebe ich häufig, dass Menschen nicht gut schlafen können, weil sie ständig überlegen: Hätte ich mich doch bloß heute anders entschieden, wäre ich doch im Gespräch mit meinem Sohn oder meiner Tochter oder mit meinen Angestellten freundlicher und achtsamer gewesen. Vor lauter „hätte“ und „wäre“ kommt man dann nicht zur Ruhe. Ich sage dann immer: „Der Tag ist vorbei, den könnt ihr nicht mehr ändern, aber Gott kann das Vergangene in Segen verwandeln.“ Da kann man als Ritual abends seine Hände als Schale Gott hinhalten: „Das ist der Tag, mit allem Durcheinander und dem Chaos. Er ist, wie er ist, aber du kannst das, was war, in Segen verwandeln – für mich und für die anderen.“ Und dann kann ich ihn auch loslassen.

Nachdem ich das getan habe, kann ich vielleicht auch dankbar zurückschauen auf den Tag und sehen, was Gott mir in die Hand gelegt hat, an Dingen und Begegnungen.

Das sind sehr klassische Rituale … 
Ja, aber ich merke bei meinen Vorträgen immer wieder, dass die Menschen offen dafür sind. Wir brauchen nicht alles neu zu machen. Aber man braucht eine neue Deutung unserer alten christlichen Traditionen. Manchmal meinen wir, wir hätten schon die Antworten und bräuchten nur die alte Theologie weiterführen. Aber die Botschaft muss in Beziehung zu den Menschen sein, nur dann kann ich etwas sagen. Wenn ich nur weitergebe, was ich gelernt habe, dann ist das zu wenig.

Junge Menschen schauen nicht mehr nur nach Gehalt

Sie haben eben von ihren Seminaren für Manager erzählt. Erleben Sie momentan ein Umdenken bei Verantwortungsträgern aus der Wirtschaft?
Ich erlebe schon ein Umdenken. Aber natürlich kommen zu meinen Kursen auch nur die Leute, die schon offen sind. Die spüren: Nur von den Zahlen her kann man nicht wirtschaften. Wir müssen vom Menschen her schauen. Und wir brauchen Werte. Gerade junge Menschen achten heute nicht darauf, wo sie das meiste Geld verdienen, wenn sie eine Firma suchen, sondern wo eine gute Kultur ist. Und eine gute Kultur ist dort, wo Werte gelebt werden.

Wenn man Pater Anselm so gegenübersitzt, kann man gut nachvollziehen, warum er für viele Menschen zum geistlichen Wegweiser geworden ist. Der weißhaarige Mönch strahlt eine große Ruhe und Gelassenheit aus, obwohl die Corona-Krise auch sein Leben und seine Pläne durcheinandergeworfen hat. Inmitten eines immer noch gut gefüllten Arbeitstages blickt er mich im Moment unseres Gesprächs völlig entspannt und freundlich an.

In dieser Krise kämpfen viele Menschen mit einem Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins, andere werden bitter. Wie geben Sie diesen Menschen neue Hoffnung?
Wenn jemand Bitterkeit spürt, frage ich nach: Was waren deine Vorstellungen? Bitterkeit entsteht oft aus einer Enttäuschung. Ich muss mich damit aussöhnen, dass das Leben nicht immer so gelingt, wie wir uns das vorstellen. Die Situation ist, wie sie ist und nicht ideal. Auch ich selbst bin nicht so ideal, wie ich sein möchte. Das ist das eine. Annehmen, was ist.

Und das zweite ist: trotzdem hoffen. Ich muss mich fragen: Wie sieht mein Leben aus, wenn ich bitter bleibe? Wie sehen meine Beziehungen aus, wenn ich Bitterkeit und Zynismus verbreite? Dann darf ich mich nicht wundern, dass ich isoliert bin und keiner mit mir sprechen möchte. Ich kann aber auch die Situation annehmen und trotz allem darauf vertrauen, dass die Welt nicht hoffnungslos verloren ist.

„Nur um sich selbst zu kreisen, macht nicht glücklich“

Die meisten Menschen haben Sehnsucht nach einem guten Leben – auch und gerade inmitten von Umbrüchen und Einschränkungen. Was sind für Sie Kennzeichen für ein gutes, gelingendes Leben?
Einmal im Einklang und im Frieden mit mir selbst sein, Ja sagen können zu meinem Leben und dankbar sein für mein Leben. Und das zweite ist das Fließen zum anderen hin. Nur um sich selbst zu kreisen, macht nicht glücklich. Ich kann das gute Leben nicht nur für mich selbst haben. Lebendig sein bedeutet, Beziehungen und Kontakt zu anderen haben. Diese Hingabe an das Leben und an den Menschen, das sind wichtige Aspekte für ein gelingendes Leben.

Kennen Sie selbst auch Momente, in denen Sie nicht in sich ruhen und gelassen mit den Herausforderungen, die diese Zeit an uns stellt, umgehen können? 
(Pater Anselm antwortet lächelnd) Natürlich bin auch ich nicht immer ausgeglichen. Wenn z. B. manche Mitbrüder zu kompliziert sind oder wenn ich merke, dass ich nicht richtig planen kann. Aber das ist ein kurzer Ärger und dann sage ich mir: Lohnt es sich, in diesem Ärger zu bleiben oder nutze ich die Zeit einfach, um mehr zu lesen, zu schreiben, für Gespräche und für andere Dinge?

Klassische Musik in der Coronazeit

Haben sich für Sie auch neue Chancen und Perspektiven in dieser Umbruchszeit ergeben?
Für mich selbst sicher die Perspektive, mehr Zeit zu haben. So habe ich abends auch manchmal Musik gehört und nicht immer nur gearbeitet, sondern mir die Musik gegönnt.

Was hören Sie denn gerne?
Klassische Musik wie Bach, Mozart und Händel. Ich höre eher selten moderne Musik.

Einfach morgens das Fenster öffnen

Noch eine Frage zu den Ritualen: Was würden Sie Menschen empfehlen, die eine Sehnsucht und Offenheit in Richtung Gott haben? Was wären erste Schritte?
Einfach den Morgen mit einem einfachen Ritual beginnen. Das Fenster öffnen, frische Luft hereinlassen und spüren: Da kommt neues Leben in mich hinein. Oder wenn wir duschen, bewusst sagen: Ich reinige mich von all den trüben Gedanken, sodass ich heute klar denken kann. Oder mich beim Zähneputzen zu erinnern: Die Worte, die ich heute sagen will, sollen reine Worte sein und keine Worte, die bewerten und verurteilen.

Achtsamkeit ist heute ein Schlagwort geworden. Aber die christliche Botschaft war ja schon immer Achtsamkeit: im Augenblick zu sein, einfach dankbar zu sein. Die Frage: Wofür bin ich dankbar? führt vielleicht zu der Ahnung, dass ich doch einem größeren Gott gegenüber dankbar bin.

Interview: Melanie Carstens

Anselm Grün ist Benediktinerpater in der Abtei Münsterschwarzach. Er ist Doktor der Theologie und hat Betriebswirtschaft studiert. 36 Jahre lang war er wirtschaftlicher Leiter der 20 Klosterbetriebe. Über 300 Bücher hat er geschrieben. Auch seine zahlreichen Vorträge haben ihn zum geistlichen Wegweiser für ein großes Publikum jenseits aller Konfessionsgrenzen gemacht.