„Ich will mehr Zeit für anderes.“ – Wie wir zu einer digitalen Balance finden
Die Sozialen Medien sind überall und lenken unseren Blick oft weg von der Realität um uns herum. Warum das ein echtes gesellschaftliches Problem ist und wie wir damit umgehen können, erklärt die Autorin und Psychologin Anna Miller.
In ihrem Buch „Verbunden“ (Ullstein Taschenbuch) zeigt Anna Miller, welchen Preis wir für unsere digitale Abhängigkeit bezahlen und gibt Anregungen, wie wir im digitalen Zeitalter wieder mehr Raum für Nähe, Natur und echte Verbundenheit finden. Denn weniger Zeit am Handy ist für sie essenziell, um den Reichtum des realen Lebens zu entdecken.
Suchtmittel Dopamin
Was war für Sie der Auslöser, Ihr Verhältnis zu Social Media kritisch zu hinterfragen?
Ich habe bei mir selbst und auch bei meinen Freunden festgestellt, dass das Digitale so einen unglaublich großen Sog auf uns ausübt, dass es uns richtig wegbeamt. Bei mir hat das dazu geführt, dass ich in vielen Momenten des realen Lebens nicht mehr wirklich präsent war.
Woher kommt unser Drang, ständig die Nachrichten auf dem Smartphone zu checken?
Diese ganzen Plattformen funktionieren ja so, dass über ein Like Dopamin in unserem Gehirn freigesetzt wird – und zwar in einer viel stärkeren Intensität, als es das reale Leben bereithält. Da erleben wir das in sehr intensiven Momenten natürlich auch – wenn wir z. B. Sex haben oder Achterbahn fahren. Aber mit dem Smartphone haben wir uns – wie es die Suchtmedizinerin Anna Lemke in ihrem Buch „Die Dopamin-Nation“ sagt – eine moderne Injektionsnadel ins Haus geholt, die uns 24/7 zur Verfügung steht. Wenn wir uns dadurch immer den Kick holen können, auch wenn der ganz kurz ist, führt es dazu, dass wir immer höhere Mengen davon brauchen.
Was ist das Gefährliche daran?
Situationen, die weniger Dopamin ausschütten – wie z. B. spazieren gehen, lesen oder mit Oma ein Gesellschaftsspiel zu spielen – werden dagegen farbloser. Es ist ein neurobiologischer Fakt, dass wir das Interesse leichter verlieren, weil viele Dinge, die uns im echten Leben befriedigen würden, mit mehr Aufwand und Widerstand verbunden sind, wenn beispielsweise mal etwas schiefläuft. Das Digitale trainiert uns seit vielen Jahren systematisch die Widerstandsfähigkeit ab, weil es sehr bequem ist. Wenn wir Liebesbeziehungen pflegen, ein Studium absolvieren oder ein Instrument lernen wollen, sind wir diesen Widerstand, den solche Situationen erzeugen können und den wir überwinden müssen, nicht mehr gewohnt.
Wir brauchen Verbundenheit
Was war Ihre Motivation, sich wieder mehr dem realen Leben zuzuwenden?
Ich habe erkannt, dass mein digitales Suchtverhalten auch viel damit zu tun hat, dass ich in meinem echten Leben nicht genug Verbundenheit spüre. Und den Alltag nicht bunt genug gestalte. Das ist wie eine Spirale: Wir verbringen den Tag in einem Job, den wir anstrengend finden und haben abends dann nicht mehr viel Energie. Daraufhin sind wir noch mehr online – und haben dann noch weniger Energie.
… und können das Smartphone erst recht nicht mehr weglegen.
Ja, auch weil wir alle immer noch dem Irrglauben erliegen, dass wir das Internet zu Ende scrollen können. Wir haben immer noch das Gefühl: Wenn ich das noch lese und diese E-Mail noch beantworte, dann habe ich Feierabend. Dann ist endlich Ende. Das funktioniert so mit der Wäsche, mit dem Essensteller und mit dem Buch, das irgendwann zu Ende gelesen ist – aber das Internet funktioniert leider nicht so. Und ich glaube, das verstehen wir immer noch nicht. Wir haben das Bedürfnis, alles aufzuräumen. Und dann ist es plötzlich wieder 21 Uhr abends, es ist draußen dunkel und wir ärgern uns darüber, dass wir wieder nichts Konstruktives hinbekommen haben. Ich habe mich dann gefragt: Was will ich eigentlich für ein Leben führen? Und was hält mich davon ab?
Flucht vor der Realität
Und – was hält uns davon ab?
Eine Antwort ist sicherlich, dass die Leute im Silicon Valley die Apps so programmieren, dass wir möglichst viel Zeit am Handy verbringen. Aber es gibt auch einen persönlichen Anteil, denn ich kann mit Online-Zeit auch Emotionen wegdrücken, die unangenehm sind. Oder ich kann Dinge aufschieben, von denen ich das Gefühl habe, dass ich sie nicht packen würde. Oder ich kann mich davon ablenken, dass ich im realen Leben zu wenig Anerkennung von meiner Familie oder meinen Freunden bekomme.
Wie lässt sich eine gute digitale Balance finden?
Es hilft, konkrete Strategien für digitale Achtsamkeit zu entwickeln und sich selbst Grenzen zu setzen. Festlegen, wann und wo ich das Handy weglege. Hilfreicher, als zu sagen: „Ich brauche weniger digitale Nutzungszeit“, ist der Satz: „Ich möchte mehr Zeit für anderes.“ Und dann muss man sich fragen: Ja, wofür denn eigentlich? Was ist mir wichtig und wie kann ich mehr von diesen Dingen in mein Leben ziehen? Denn nach einem erfüllenden Geburtstagsfest mit Freunden oder einer wunderbaren Wanderung mit einer Gruppe, bei der man acht Stunden unterwegs war und über sich hinausgewachsen ist, ist das Bedürfnis ja automatisch viel geringer, jetzt noch fünf Stunden online zu sein.
Die große Herausforderung ist also, die Verbundenheit, die wir vermeintlich schnell über Social Media bekommen, wieder im realen Leben aufzubauen?
Ja, absolut. Wir haben ein Grundbedürfnis nach Nähe und echtem Kontakt. Und je gesünder dieses Fundament ist, desto mehr Energie haben wir, uns nicht nur den digitalen, sondern auch anderen Herausforderungen zu stellen. Je stärker ich verbunden bin mit Menschen im realen Leben, die meine Werte teilen, desto eher habe ich dann auch ein Gespür für Dinge, die schieflaufen.
Wo und wie fängt man nun am besten an?
Ich glaube, der Morgen macht einen riesigen Unterschied – wie man den Ton für den Tag setzt, so geht es auch weiter. Wenn man schon morgens im Bett eine halbe Stunde lang scrollt, was alle anderen machen, sind schon so viele Fremdeinwirkungen im Gehirn angekommen, dass es danach schwierig wird, sich wieder zu fokussieren. Deshalb ist mein Tipp: Am besten die erste halbe Stunde des Tages mit Gitarre üben oder etwas anderem Konstruktivem verbringen und es nicht auf 21 Uhr abends verschieben.
Innehalten: Wie will ich leben?
Das ist interessant, denn dieselbe Empfehlung spricht auch die christliche Tradition aus: den Tag zu starten, indem man erst einmal für sich und vor Gott zur Ruhe kommt – eine Kerze anzündet, betet, sich sammelt.
Es geht einfach immer wieder um die Besinnung. Um weniger. Dafür braucht man auch ein gewisses Selbstvertrauen. Ich glaube, viele Menschen spüren instinktiv sehr vieles sehr richtig. Sie haben aber das Gefühl: Irgendetwas stimmt wahrscheinlich mit mir nicht. Ich bin zu sensibel, ich bin zu fragil, ich bin zu spirituell – irgendwie müssen wir doch alle mit dem Digitalen klarkommen. Wir haben noch das Narrativ in unseren Köpfen, dass Digitalisierung automatisch Fortschritt bedeutet und wenn man sich dazu kritisch äußert, dann hat man es nicht verstanden. Aber darum geht es ja überhaupt nicht!
Worum geht es dann?
Wir sind überhaupt nicht mehr an dem Punkt, wo wir für oder gegen die Digitalisierung sind. Die Zukunft wird immer digitaler und das können wir gar nicht mehr wegdiskutieren. Umso wichtiger ist deshalb die Frage: Was heißt denn Menschsein im digitalen Zeitalter? Und was brauchen wir, um ein würdevolles Leben führen zu können – in Gemeinschaft und mit einer Präsenz, so, dass man sagen kann: Ich bin digital ganz da und ich bin real ganz da. Das ganze Thema betrifft nicht nur Teenager oder CEOs, sondern uns alle. Denn Digitalisierung verändert jetzt schon alles. Wie wir denken, wie wir fühlen, wie wir Räume gestalten, wie wir arbeiten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir eine gesellschaftliche Debatte darüber führen, wie wir leben wollen in digitalen Zeiten. Wir haben schließlich eine Verantwortung für unsere Gesellschaft und
unsere Umwelt.
Interview: Melanie Carstens
Anna Miller ist Journalistin und Autorin und hat einen Master-Abschluss in Psychologie. Regelmäßig schreibt sie über Gesellschaftsthemen, spricht auf Podien und im Fernsehen und berät Unternehmen, Institutionen und Privatpersonen zu digitaler Achtsamkeit. anna-miller.ch