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Im digitalen Jenseits. Symbolbild: Getty Images / pixelfit / Getty Images / E+

„Ich will mehr Zeit für anderes.“ – Wie wir zu einer digitalen Balance finden

Die Sozialen Medien sind überall und lenken unseren Blick oft weg von der Realität um uns herum. Warum das ein echtes gesellschaftliches Problem ist und wie wir damit umgehen können, erklärt die Autorin und Psychologin Anna Miller.

In ihrem Buch „Verbunden“ (Ullstein Taschenbuch) zeigt Anna Miller, welchen Preis wir für unsere digitale Abhängigkeit bezahlen und gibt Anregungen, wie wir im digitalen Zeitalter wieder mehr Raum für Nähe, Natur und echte Verbundenheit finden. Denn weniger Zeit am Handy ist für sie essenziell, um den Reichtum des realen Lebens zu entdecken.

Suchtmittel Dopamin

Was war für Sie der Auslöser, Ihr Verhältnis zu Social Media kritisch zu hinterfragen?
Ich habe bei mir selbst und auch bei meinen Freunden festgestellt, dass das Digitale so einen unglaublich großen Sog auf uns ausübt, dass es uns richtig wegbeamt. Bei mir hat das dazu geführt, dass ich in vielen Momenten des realen Lebens nicht mehr wirklich präsent war.

Woher kommt unser Drang, ständig die Nachrichten auf dem Smartphone zu checken?
Diese ganzen Plattformen funktionieren ja so, dass über ein Like Dopamin in unserem Gehirn freigesetzt wird – und zwar in einer viel stärkeren Intensität, als es das reale Leben bereithält. Da erleben wir das in sehr intensiven Momenten natürlich auch – wenn wir z. B. Sex haben oder Achterbahn fahren. Aber mit dem Smartphone haben wir uns – wie es die Suchtmedizinerin Anna Lemke in ihrem Buch „Die Dopamin-Nation“ sagt – eine moderne Injektionsnadel ins Haus geholt, die uns 24/7 zur Verfügung steht. Wenn wir uns dadurch immer den Kick holen können, auch wenn der ganz kurz ist, führt es dazu, dass wir immer höhere Mengen davon brauchen.

Was ist das Gefährliche daran?
Situationen, die weniger Dopamin ausschütten – wie z. B. spazieren gehen, lesen oder mit Oma ein Gesellschaftsspiel zu spielen – werden dagegen farbloser. Es ist ein neurobiologischer Fakt, dass wir das Interesse leichter verlieren, weil viele Dinge, die uns im echten Leben befriedigen würden, mit mehr Aufwand und Widerstand verbunden sind, wenn beispielsweise mal etwas schiefläuft. Das Digitale trainiert uns seit vielen Jahren systematisch die Widerstandsfähigkeit ab, weil es sehr bequem ist. Wenn wir Liebesbeziehungen pflegen, ein Studium absolvieren oder ein Instrument lernen wollen, sind wir diesen Widerstand, den solche Situationen erzeugen können und den wir überwinden müssen, nicht mehr gewohnt.

Wir brauchen Verbundenheit

Was war Ihre Motivation, sich wieder mehr dem realen Leben zuzuwenden?
Ich habe erkannt, dass mein digitales Suchtverhalten auch viel damit zu tun hat, dass ich in meinem echten Leben nicht genug Verbundenheit spüre. Und den Alltag nicht bunt genug gestalte. Das ist wie eine Spirale: Wir verbringen den Tag in einem Job, den wir anstrengend finden und haben abends dann nicht mehr viel Energie. Daraufhin sind wir noch mehr online – und haben dann noch weniger Energie.

… und können das Smartphone erst recht nicht mehr weglegen.
Ja, auch weil wir alle immer noch dem Irrglauben erliegen, dass wir das Internet zu Ende scrollen können. Wir haben immer noch das Gefühl: Wenn ich das noch lese und diese E-Mail noch beantworte, dann habe ich Feierabend. Dann ist endlich Ende. Das funktioniert so mit der Wäsche, mit dem Essensteller und mit dem Buch, das irgendwann zu Ende gelesen ist – aber das Internet funktioniert leider nicht so. Und ich glaube, das verstehen wir immer noch nicht. Wir haben das Bedürfnis, alles aufzuräumen. Und dann ist es plötzlich wieder 21 Uhr abends, es ist draußen dunkel und wir ärgern uns darüber, dass wir wieder nichts Konstruktives hinbekommen haben. Ich habe mich dann gefragt: Was will ich eigentlich für ein Leben führen? Und was hält mich davon ab?

Flucht vor der Realität

Und – was hält uns davon ab?
Eine Antwort ist sicherlich, dass die Leute im Silicon Valley die Apps so programmieren, dass wir möglichst viel Zeit am Handy verbringen. Aber es gibt auch einen persönlichen Anteil, denn ich kann mit Online-Zeit auch Emotionen wegdrücken, die unangenehm sind. Oder ich kann Dinge aufschieben, von denen ich das Gefühl habe, dass ich sie nicht packen würde. Oder ich kann mich davon ablenken, dass ich im realen Leben zu wenig Anerkennung von meiner Familie oder meinen Freunden bekomme.

Wie lässt sich eine gute digitale Balance finden?
Es hilft, konkrete Strategien für digitale Achtsamkeit zu entwickeln und sich selbst Grenzen zu setzen. Festlegen, wann und wo ich das Handy weglege. Hilfreicher, als zu sagen: „Ich brauche weniger digitale Nutzungszeit“, ist der Satz: „Ich möchte mehr Zeit für anderes.“ Und dann muss man sich fragen: Ja, wofür denn eigentlich? Was ist mir wichtig und wie kann ich mehr von diesen Dingen in mein Leben ziehen? Denn nach einem erfüllenden Geburtstagsfest mit Freunden oder einer wunderbaren Wanderung mit einer Gruppe, bei der man acht Stunden unterwegs war und über sich hinausgewachsen ist, ist das Bedürfnis ja automatisch viel geringer, jetzt noch fünf Stunden online zu sein.

Die große Herausforderung ist also, die Verbundenheit, die wir vermeintlich schnell über Social Media bekommen, wieder im realen Leben aufzubauen?
Ja, absolut. Wir haben ein Grundbedürfnis nach Nähe und echtem Kontakt. Und je gesünder dieses Fundament ist, desto mehr Energie haben wir, uns nicht nur den digitalen, sondern auch anderen Herausforderungen zu stellen. Je stärker ich verbunden bin mit Menschen im realen Leben, die meine Werte teilen, desto eher habe ich dann auch ein Gespür für Dinge, die schieflaufen.

Wo und wie fängt man nun am besten an?
Ich glaube, der Morgen macht einen riesigen Unterschied – wie man den Ton für den Tag setzt, so geht es auch weiter. Wenn man schon morgens im Bett eine halbe Stunde lang scrollt, was alle anderen machen, sind schon so viele Fremdeinwirkungen im Gehirn angekommen, dass es danach schwierig wird, sich wieder zu fokussieren. Deshalb ist mein Tipp: Am besten die erste halbe Stunde des Tages mit Gitarre üben oder etwas anderem Konstruktivem verbringen und es nicht auf 21 Uhr abends verschieben.

Innehalten: Wie will ich leben?

Das ist interessant, denn dieselbe Empfehlung spricht auch die christliche Tradition aus: den Tag zu starten, indem man erst einmal für sich und vor Gott zur Ruhe kommt – eine Kerze anzündet, betet, sich sammelt.
Es geht einfach immer wieder um die Besinnung. Um weniger. Dafür braucht man auch ein gewisses Selbstvertrauen. Ich glaube, viele Menschen spüren instinktiv sehr vieles sehr richtig. Sie haben aber das Gefühl: Irgendetwas stimmt wahrscheinlich mit mir nicht. Ich bin zu sensibel, ich bin zu fragil, ich bin zu spirituell – irgendwie müssen wir doch alle mit dem Digitalen klarkommen. Wir haben noch das Narrativ in unseren Köpfen, dass Digitalisierung automatisch Fortschritt bedeutet und wenn man sich dazu kritisch äußert, dann hat man es nicht verstanden. Aber darum geht es ja überhaupt nicht!

Worum geht es dann?
Wir sind überhaupt nicht mehr an dem Punkt, wo wir für oder gegen die Digitalisierung sind. Die Zukunft wird immer digitaler und das können wir gar nicht mehr wegdiskutieren. Umso wichtiger ist deshalb die Frage: Was heißt denn Menschsein im digitalen Zeitalter? Und was brauchen wir, um ein würdevolles Leben führen zu können – in Gemeinschaft und mit einer Präsenz, so, dass man sagen kann: Ich bin digital ganz da und ich bin real ganz da. Das ganze Thema betrifft nicht nur Teenager oder CEOs, sondern uns alle. Denn Digitalisierung verändert jetzt schon alles. Wie wir denken, wie wir fühlen, wie wir Räume gestalten, wie wir arbeiten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir eine gesellschaftliche Debatte darüber führen, wie wir leben wollen in digitalen Zeiten. Wir haben schließlich eine Verantwortung für unsere Gesellschaft und
unsere Umwelt.

Interview: Melanie Carstens

Anna Miller ist Journalistin und Autorin und hat einen Master-Abschluss in Psychologie. Regelmäßig schreibt sie über Gesellschaftsthemen, spricht auf Podien und im Fernsehen und berät Unternehmen, Institutionen und Privatpersonen zu digitaler Achtsamkeit. anna-miller.ch

Auch in Berlin finden Baumpflanzaktionen statt. Foto: Berwaldprojekt_de_Matthaeus Holleschovksy

Geniale Ferien-Idee: Urlaub machen und Gutes tun – so geht’s

Stefan Kleinknecht will im Urlaub mehr erleben als Sandstrand. Darum wagt er ein Experiment – und rettet so den Wald.

Am Anfang standen drei Wünsche: Ich brauche Urlaub, will viel draußen sein und am besten dabei noch etwas für die Natur tun. Doch gibt es so etwas? Ja, tatsächlich! Nach etwas Recherche lande ich beim Bergwaldprojekt e. V.: „Wir suchen Freiwillige, die eine Woche lang zusammen Bäume pflanzen und Waldpflege betreiben.“ Klingt gut als Abwechslung zum Bürojob, denke ich und melde mich an.

Einige Wochen später stehe ich mit 13 anderen am Berghang. Um uns herum: Baumstumpf neben Baumstumpf – kahle Hänge, wo einst Wald stand. Wir sind im nordrhein-westfälischen Werdohl, im eigentlich großflächig bewaldeten Lennetal. Doch Dürre, Stürme und Borkenkäfer haben den Wäldern riesige Schäden zugefügt und große, kahle Lücken in den Wald gerissen.

Hunderte kleine Setzlinge

Mit uns auf dem Hang steht Hendrik von Riewel, studierter Förster und Waldpädagoge. Er ist der Projektleiter dieses Freiwilligeneinsatzes. In seinen Händen hält einen kleinen Bergahorn: ein dünnes Stämmchen mit einer winzigen Knospe oben und einem Wurzelballen unten. Hendrik zeigt uns, wie man mit der Wiedehopf-Haue umgeht. Sie hat am Ende ein Beil auf der einen und eine Hacke auf der anderen Seite. Damit gilt es, in den richtigen Abständen Löcher in den Boden zu machen und anschließend die Bäumchen so einzupflanzen, dass sie fest genug in der Erde sind, aber auch gut anwachsen können. „Los geht’s“, ruft Hendrik und deutet lächelnd in Richtung vieler hundert weiterer kleiner Bäume, die neben uns stehen und darauf warten, eingesetzt zu werden.

Waldsterben gab Initialzündung

Das Bergwaldprojekt wurde bereits 1987 gegründet. Damals beschäftigte das Thema Waldsterben die Umweltschützer und die Gesellschaft. Wolfgang Lohbeck von Greenpeace Deutschland beschloss zusammen mit dem Schweizer Förster Renato Ruf, ein Positivprojekt zu gründen und erstmalig als Organisation handwerklich aktiv im Naturschutz zu werden. Im Schweizer Kanton Graubünden stießen sie auf einen Wald, der durch einen Hangrutsch stark beschädigt war, und begannen, ihn mit 25 Freiwilligen zu sanieren.

Heute ist daraus ein europaweites Netzwerk entstanden. Anfang der Neunziger Jahre wurde der deutsche Ableger gegründet, der unabhängig ist von Greenpeace. Über die Jahre sind Nachfrage und Angebot des Vereins stark angestiegen. Wären die Kapazitäten vorhanden, könnten vermutlich 500 Projekte angeboten werden, schätzt Hendrik. 2022 finden immerhin rund 170 Projektwochen an über 80 verschiedenen Standorten in ganz Deutschland statt. Es gibt Einsatzwochen für Erwachsene, für Familien, integrative Projektwochen, Unternehmenseinsätze und Waldschulwochen. Bis zum Ende des Jahres werden dabei rund 4000 Projekt-Teilnehmende erwartet.

Schauspielerin trifft Biologin

14 davon sind inzwischen im sauerländischen Stadtwald von Werdohl richtig in Fahrt gekommen. Die Sicherheit im Umgang mit dem Werkzeug ist mittlerweile gewachsen. Baum für Baum wird eingepflanzt. Extra-Motivation gibt das sonnige T-Shirt-Wetter. Zudem lernen wir Teilnehmende uns bei der Arbeit immer besser kennen. Aus allen Himmelsrichtungen des Landes sind wir ins Sauerland gekommen: aus Karlsruhe und Würzburg über Essen, Hamburg, Berlin, Göttingen und anderswo. Ebenso vielfältig sind Alter und Lebensalltag. Zwischen 19 und Ende 50 Jahren ist fast alles dabei. Eine Schauspielerin und eine Biologin haben sich ebenso angemeldet wie ein Angestellter für Arbeitssicherheit und einige Studierende.

Am Ende unseres ersten Arbeitstages fahren wir zurück zum Freizeitheim mit Mehrbettzimmern, in dem wir untergebracht sind und das den Charme eines Klassenausflugs aufkommen lässt. Nach sechs Stunden körperlicher Arbeit am Hang spüren wir unsere Knochen. Ein wenig Sonnenbrand zeigt sich ebenfalls an der einen oder anderen Stelle. Die Stimmung ist super. Mit über 800 Bäumen haben wir deutlich mehr als erwartet geschafft. Aber jetzt wird erstmal geduscht und Arbeitskleidung gegen Freizeitklamotten getauscht.

Vegetarisches Essen zum Abend

Im Haus duftet es schon großartig. Köchin Tobby hantiert bereits bestens gelaunt in der Küche. „Erst miassts ia den ganzn Salatschüssl laar hom, bevoar‘s des Habtmenü bekimmd“, sagt sie schelmisch grinsend im breitesten Bayrisch – und der Salat ist ebenso schnell verputzt wie die Spätzle mit Pilz-Kräuter-Soße. Schon seit vielen Jahren fährt Tobby für die Projektgruppen durch ganz Deutschland, um sie vegetarisch und vegan zu bekochen. Anschließend bleibt der Großteil von uns noch im Gruppenraum sitzen. Einige diskutieren mit Hendrik über Natur und Gemeinschaft, über das Jagen von Wild und wie viel der Mensch in die Natur eingreifen sollte. An einem anderen Tisch entspannt eine andere Gruppe beim Kartenspiel. Doch spät wird es nicht. Um 22 Uhr geht das Licht auch beim Letzten aus. Immerhin geht‘s am nächsten Tag schon um 6 Uhr weiter.

Ich brauche etwas, bis ich einschlafen kann. Die vielen Eindrücke des ersten Tages wandern noch durch meinen Kopf. Gleichzeitig fühle ich mich erfüllt vom Tag. Die Arbeit und die Zeit an der frischen Luft haben total gutgetan. So sinke ich irgendwann in den Schlaf.

Spannbreite bis zur Moor-Renaturierung

Mit einem lauten „Guuuten Mooorgen“ holt Hendrik uns am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Eine halbe Stunde später sitzen wir alle beim Frühstück. Die Rucksäcke werden noch gepackt, Arbeitsklamotten und Bergschuhe angezogen, der große Thermotopf mit dem Mittagsessen wird verstaut – und schon starten wir in die neue Runde Baumpflanzung.

Nicht immer geht es bei den Bergwaldprojekten darum, Bäume zu setzen. Genauso kann es um Wald- oder Biotoppflege gehen und ein wachsender Bereich ist zudem die Moor- und Bach-Renaturierung. Inzwischen ist auch ein Moor-Experte beim Bergwaldprojekt e. V. angestellt.

Körperliche Herausforderung steigt um zwei Level

Auch für uns gibt es schon am zweiten Tag eine Abwechslung. Da wir schneller als erwartet vorankommen und bald schon alle rund 1600 Bäume in der Erde sind, fahren wir zehn Minuten weiter zu einem anderen Standort. Neue Aufgabe: Pflege des Jungwaldes. Die körperliche Herausforderung steigt bei dieser Arbeit um mindestens zwei Level. Erst einmal müssen wir gut 15 Minuten einen steilen Hang querfeldein hinaufkraxeln, um in das Gebiet zu kommen. Oben angekommen erklärt Hendrik, dass der heftige Orkansturm „Kyrill“ 2007 hier fast den kompletten Hang verwüstet hat und fast kein Baum mehr stand. Im Jahr darauf hat ihn das Bergwaldprojekt mit jungen Bäumen aufgeforstet.

Damit diese kleinen Bäume nicht durch den Verbiss von Reh- und Rotwild beschädigt werden konnten, wurde damals jeweils ein Verbiss-Schutz aus Plastik um die Bäume angebracht. Wo das Plastik schon kaputt ist und somit keinen Schutz mehr bietet, entfernen wir es. Etliche Bäume sind inzwischen auch schon groß genug und brauchen den Schutz nicht mehr. Wenn die Ummantelung noch gut erhalten ist, aber der Stützpfahl morsch ist, tauschen wir ihn gegen einen neuen aus. Schließlich schleppen wir rund ein Viertel der Kunststoffhüllen den steilen Hang hinunter, damit sie nicht im Wald verbleiben.

Mit der Machete gegen Brombeeren

Am nächsten Tag ist Mittwoch und damit schon Halbzeit. Den Tag verbringen wir komplett mit der Überprüfung des Verbiss-Schutzes. Wir steigen an anderer Stelle oben am Hang ein und arbeiten uns nach und nach bis nach unten zur gestrigen Stelle vor. Zusätzlich herausfordernd sind heute stachelige Brombeerranken, die an manchen Stellen die Oberhand gewonnen haben. Um die Bäume zu erreichen, müssen wir manchmal die Machete ansetzen – allerdings nur vorsichtig. „So nervig die Brombeeren für uns sind, so gut sind sie für die jungen Bäume“, erklärt Hendrik. „Wo alles richtig mit Brombeeren zugewachsen ist, hält es das Wild ab, die Bäume abzufressen.“

Solche Erklärungen streut er immer wieder in die Arbeit ein. Einerseits wird so besser verständlich, welche Arbeiten aus welchen Gründen gemacht werden, aber vor allem lerne ich auf diese Weise viel über den Wald und wie alles in der Natur zusammenhängt. Das wird auch bei den Arbeiten an den letzten beiden Tagen relevant.

Paradoxes Fällen

Wir widmen uns einem Waldstück, das vor 15 Jahren wieder aufgeforstet wurde. Für einen Wald ist das immer noch sehr jung. Würde man den Wald sich jetzt selbst überlassen, würden sich am Ende nur ein bis zwei Baumarten durchsetzen, in diesem Fall die Birke oder die Fichte. Doch vor allem aufgrund des Klimawandels ist es wichtig, gute Mischwälder anzulegen und keine Monokulturen. So greifen wir in den Jungwald ein und fällen einige der Birken und Fichten. Im ersten Moment kommt uns das grotesk vor. Erst pflanzen wir Bäume an, dann fällen wir andere wieder?

Hendrik versteht das Gefühl gut. „Im ersten Moment fühlt es sich falsch an. Doch wir ermöglichen so dem Ahorn, der Kirsche oder der Weide, dass sie auch eine Chance haben, groß zu werden. Und wichtig ist vor allem ein naturnaher Eingriff.“ Das bedeutet: Wir schauen genau hin und fällen nur an einzelnen Stellen, damit die chancenlosen Bäume Licht bekommen und nicht zurückgedrängt werden. Alle anderen Birken und Fichten dürfen getrost stehenbleiben. „An anderen Stellen im Wald ist es wiederum genauso wichtig, ihn selbst bestimmen zu lassen, was wächst. Da greifen wir überhaupt nicht ein“, betont Hendrik ebenfalls.

Schnee zum Abschied

Während wir uns durch den Hang arbeiten, lernen wir, die Bäume so zu fällen, dass sie richtig fallen und keine anderen Bäume verletzen. Das Wetter ist mittlerweile umgeschlagen. Inzwischen ist es kalt und nass. Freitag fällt sogar ordentlich Schnee. Zum Glück sind alle warm eingepackt. Nur die Essenspausen fallen deutlich kürzer aus: Solange wir in Bewegung sind, ist uns gut warm. Beim Stehen aber spürt man die Kälte.

Freitagabend werden noch alle Geräte geputzt und der Bergwald-Anhänger beladen. Obwohl wir alle merken, dass eine Woche körperliche Arbeit ganz schön Kräfte gezehrt hat, könnte die Stimmung kaum besser sein. Der Kälte wird mit Humor, Verbundenheit und der Überzeugung getrotzt, dass wir echt was gerissen haben in dieser Woche.

Am Samstagmorgen fällt der Abschied so schwer, wie Arme und Beine sich anfühlen. Ich hatte meine Frau schon vorgewarnt, dass ich bestimmt müde sein würde. Doch nach einem Tag Schlaf fühle ich mich super – und überraschend gut erholt. Mehr als nach einer Woche Strand, gammeln und Nixtun, würde ich sagen. Die eine Woche Urlaub für die Natur zu investieren, den Mix aus viel frischer Luft, toller Gemeinschaft und körperlicher Arbeit bis zum Kraftlimit zu erleben, hat sich mehr als gelohnt.

Stefan Kleinknecht ist Vater zweier Jungs und Redakteur bei der Stiftung Marburger Medien. Weitere Infos und Überblick über die Projektwochen: bergwaldprojekt.de

Der Co-Working-Space "Kairos13", Foto: Kairos13 / Evangelische Kirche in Karlsruhe

Kirchen eröffnen Co-Working-Spaces: Wie passt das zusammen?

Immer öfter erproben Kirchen, wie sie New Work anbieten können. Was wie ein Widerspruch klingt, ist eigentlich keiner.

Zwischen Shishabar und Parkhaus, keine fünf Minuten zu Fuß vom Karlsruher Schloss entfernt, liegt das Kairos13. Die Evangelische Kirche hat hier 2020 einen Social Co-Working-Space eröffnet für Menschen, die in einem Start-Up oder freischaffend an nachhaltigen und sozialen Themen oder Projekten arbeiten.

Große Teppiche liegen auf dem Betonfußboden des hellen Arbeitsraums, der mit viel Holz und Schwarz eingerichtet ist. Neben Schreibtischen dürfen Wohnzimmerecke und Kaffeebar nicht fehlen, denn Vernetzung ist ein wichtiges Anliegen. Aus der reduzierten Überhangsfläche eines Gemeindehauses soll ein Innovationscampus werden, der zwei Ziele verfolgt: sozialnachhaltiges Engagement fördern und einen kirchlichen Ort schaffen für Menschen, die sonst kaum oder keine Kontaktflächen zu Kirche haben. „Das geschieht sehr niederschwellig und ganz automatisch darüber, dass Co-Working unter dem Dach von Kirche stattfindet und ich als kirchlicher Mitarbeiter vor Ort und selbst Teil der Community bin“, erklärt der Leiter Daniel Paulus.

New Work passt zur Kirche

Die sich rasant verändernde Arbeitswelt, die immer globaler, digitaler und mobiler wird, wird gern mit dem Stichwort „New Work“ beschrieben. Das Konzept entwickelte in den 1970er-Jahren der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann. Er beschrieb die konventionelle Arbeit damals als eine Krankheit, die man aushalte bis zur Rente, und er prognostizierte stattdessen für die Zukunft eine positive Entwicklung: gemischte Teams statt homogener Abteilungen, Projektarbeit, Innovation statt Tradition und Kontrolle. Sein menschenfreundliches Zukunftsbild aus Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft passt gut zur biblischen Ethik.

Zu den wichtigen Formen neuer Arbeit zählt das Co-Working: Menschen, die ihren Arbeitsort frei wählen können, etwa Freelancer oder Gründerinnen, bilden eine Bürogemeinschaft und nutzen das Inventar gemeinsam. Als in der Pandemiezeit klar wurde, dass Arbeiten auch außerhalb des betrieblichen Büros gut funktionieren kann, erhöhte sich auch die Zahl derjenigen, für die ein solcher öffentlicher Arbeitsort infrage kommt.

Work-Life-Balance ist Hauptargument

Zu Beginn vor allem in wenigen Metropolen bekannt, breitet sich das Konzept nun weltweit aus. Rund 18.700 Co-Working Spaces nennt Statista für 2018. Etwa 1,65 Millionen Menschen haben sie genutzt.

Danach befragt, welche Vorteile sich Arbeitnehmende von neuen Arbeitsplatzkonzepten erhofften, stand die bessere Work-Life-Balance ganz oben. Es zeigte sich: Viele Menschen lieben ihre Freiheit und würden gern zeitlich und örtlich ungebundener, selbstbestimmter und vernetzter arbeiten.

Laut einer Umfrage des Online-Magazins Deskmag schätzen Menschen am Co-Working-Space vor allem die angenehme Arbeitsatmosphäre (59 %), die Kommunikation mit anderen (56 %) und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein (55 %).

Der Grad der Verbindlichkeit allerdings ist sehr unterschiedlich. Während manche Anbieter sich schlicht als Schreibtischvermieter verstehen, entsteht anderswo eine enge Gemeinschaft mit hoher Verbindlichkeit und gemeinsamen Werten und Anliegen. Dort entstehen Synergieeffekte, die häufig zu neuen Projekten führen.

Co-Working existierte bereits in Klöstern

Soziologen ordnen Co-Working-Spaces wie Cafés, Bibliotheken oder Kirchen den „dritten Orten“ zu, als wichtige Lebensmittelpunkte neben dem eigenen Zuhause und dem klassischen Arbeitsplatz im Betrieb. Auch Kirchen haben mittlerweile verschiedene Co-Working-Konzepte entwickelt. Die Theologin und Innovationsforscherin Maria Herrmann wirbt dafür, sich bewusst zu werden, dass Co-Working einerseits etwa in den Klöstern eine lange kirchliche Tradition hat und andererseits auch große Chancen bietet für die Zukunft.

Klöster mögen in der allgemeinen Wahrnehmung nicht mehr als Orte der Innovation präsent sein. Doch lange Zeit waren sie die Räume, in denen nicht allein für Einzelne, für eine Institution oder aus rein wirtschaftlichem Interesse geforscht und gearbeitet wurde. Auch Gemeinschaft und Ästhetik spielten wichtige Rollen. Genau das kann heute auch Co-Working-Spaces von anderen Kontexten der Arbeit unterscheiden: die Entdeckung und Erfahrung, dass es sowohl für ein gutes Arbeitsleben als auch für das Neue Verbündete und eine angemessene Atmosphäre braucht. Dass man nicht alleine an Innovationen arbeiten kann. Dass verschiedene Perspektiven, Fähigkeiten und Ressourcen notwendig sind. Dass Schönheit und Ästhetik Einfluss haben.

Alter Gemäuer, neuer Geist

Warum aber sollen sich Kirchen und Gemeinden mit dem Thema Co-Working-Space beschäftigen? Hansjörg Kopp, Generalsekretär des CVJM Deutschland, nennt dazu Folgendes: „Kirche hat den Auftrag, nah bei den Menschen zu sein. Und damit auch mitten in einer agilen Gesellschaft mit zunehmend mobilem Arbeitsverhalten. Wie wunderbar, wenn der Schatz unserer alten Gemäuer Neuland und Freiraum bietet.“

Mittlerweile haben etliche Gründer und Gründerinnen auch mit kirchlichem Hintergrund oder aus ihrem Glauben als Motivation Projekte rund um das Co-Working entwickelt. Für sie und ihre Generation ist das Thema New Work und im Speziellen das Arbeiten und Leben in den Co-Working-Spaces eine angemessene Form von Gemeinschaftserleben. Letztlich sehnt sich jeder Mensch nach einem Kreis von Verbündeten, einer tragenden Verbindung. Vor allem in einer Zeit, in der die Familienverbände kleiner werden und oftmals nicht durch Nähe verbunden sind. Um dieses Community-Building geht es den Pionieren und Pionierinnen in diesem Bereich.

„Hirschengraben“ in Luzern: Innovation in konservativer Stadt

Der Architekt Sandro Schmid nennt seinen „Hirschengraben“ ein „Kollektiv von Weltveränderern, ein Sparringspartner für deine Träume und ein Spielplatz für Unternehmen“. Zum Start hat er seine Mitstreiter gefragt: „Was hat Luzern davon, dass es euch gibt?“ Seine Frage zeigte Wirkung: Bislang haben die 35 Mitglieder 21 Projekte und Start-ups gegründet: Von der Wäscherei über Wertefinder bis zur Business-Community ist die Spanne groß. In einer Stadt, die eher konservativ geprägt ist, tragen sie zu einer Reformation der Arbeit bei. Sandro Schmid bringt dabei gern auch seinen christlichen Glauben ins Spiel: „Mein Vertrauen auf Gott gibt Menschen etwas. Gott hat mich versorgt, mich Geschichten erleben lassen, die mir als ein Wunder entgegenkommen.“

Gründergeist in Frankfurt: Villa in der Innenstadt

Als die Idee der Villa Gründergeist vor vier Jahren entstand, kämpfte das Bistum Limburg nicht nur mit den Folgen des schleppenden Umgangs mit den Missbrauchsskandalen, Relevanzverlusten und einem prognostizierten Einbruch der Kirchensteuereinnahmen. Man zweifelte auch an der eigenen Berufung. Das Bistum steckte nach dem durch den Papst angenommenen Rücktritt von Bischof Franz-Peter Tebartz von Elst in einer Leitungskrise. Nicht der beste Nährboden für gemeinsam getragene pastorale Ziele oder gar für kirchliche Innovationen. Oder vielleicht gerade doch?

Im Dezernat Kinder, Jugend und Familie wurde überlegt, was mit einer rund 100 Jahre alten Villa mit rund 600 Quadratmetern Fläche mitten in der Frankfurter Innenstadt passieren könnte. In einem kleinen Projektteam über verschiedene Hierarchieebenen hinweg entstand die Idee einer Plattform für Zukunftsfragen. Nicht die kirchlichen Mitarbeitenden sollten das Haus allein von sich aus mit Leben füllen, sondern Pioniere und Macherinnen aus möglichst vielen Bereichen. So entwickelten sich mit Gründer David Schulke mutige Ziele: die Welt täglich besser machen durch die Förderung von Social Entrepreneurship und Sozialinnovation. Die Learnings aus dieser Reise nutzbar machen für Menschen, die Kirche neu gründen und Glauben anders leben wollen – im Umfeld einer sinnstiftenden und durch das Villa-Team gut begleiteten Community.

Kaffeebar „Effinger“ wird zum Modell für andere

Der Bildungscoach und Entrepreneur Marco Jakob hat 2015 in Bern den Co-Working-Space mit Kaffeebar „Effinger“ mitgegründet, der ein Modell für viele andere geworden ist. Er sieht kirchlich orientiertes Co-Working allerdings auch kritisch. Die Kirche einfach zu einem Co-Working-Space umzubauen und zu meinen, dann kämen die Leute schon von selbst, sei ein fataler Irrtum. Wer beruflich die Möglichkeit dazu hat, den ermutigt er vielmehr dazu, einen bestehenden Co-Working-Space in der eigenen Umgebung aufzusuchen und selbst regelmäßiger Co-Worker zu werden, zuzuhören, wahrzunehmen, was Leute bewegt und ihre Träume und Projekte kennenzulernen.

Wer Herausforderungen wahrnimmt, kann überlegen, wie er mit den eigenen Fähigkeiten, Netzwerken und Ressourcen etwas zur Lösung beitragen kann. „Rechne mit Gottes Hilfe. Und wenn dein Beitrag mehr als zehn Prozent deiner Zeit beansprucht, so mache dich selbstständig und verlange einen angemessenen Preis für das, was du tust“, rät der Christ. „Falls es etwas ist, das die anderen nicht direkt bezahlen können, so suche mit ihnen nach einem Weg, wie es finanziert werden kann. So ist das, was du tust, wirksam, authentisch und nachhaltig.“

Byro Aarau: Mehr als Cappuccino-Beziehungen

Gründungen, die ein inhaltliches Ziel verfolgen und durch Projekte und Veranstaltungen auch positiv in ihre lokale Umgebung hineinwirken oder global etwas bewegen wollen, sind meist vom Gedanken einer engeren Community getragen, der man sich verbindlicher anschließt.

Daniel Hediger, Co-Gründer vom „Byro Aarau“ stellt fest, dass das nicht immer einfach ist und spricht von Beziehungsfähigkeit, die jemand mitbringen muss. „Das sind nicht nur lustige Cappuccino-Beziehungen. Community geht nur dann, wenn du bereit bist, dich auf Beziehungen einzulassen.“ Verbindliche Beziehungen müssten da wachsen und der Wille zur Veränderung vorhanden sein. „Hier beginnt die schwer quantifizierbare Wirkung eines Co-Working-Spaces.“ Es gelte, Vertrauenskultur aufzubauen auf und der Versuchung zu widerstehen, in alte, hierarchische Strukturen zurückzufallen.

Bei all diesen faszinierenden Projekten wird deutlich, dass es kein Grundmuster für den Start, den Aufbau und den Betrieb eines Co-Working-Spaces gibt. Sowohl bei der Ausrichtung auf die jeweilige Zielgruppe als auch in Bezug auf Kirchennähe gibt es verschiedene Ansätze. Es wird noch viel experimentiert werden – und den Königsweg vielleicht nie geben. Die Tendenz ist aber klar: Für viele Menschen und Milieus sind die klassischen Kirchen nicht attraktiv. Sie sehnen sich zutiefst nach Gemeinschaft, aber ohne Gemeindeordnung. Nach sinngebenden Angeboten, aber ohne Gottesdienstliturgie. Arbeit und Freizeit werden nicht mehr scharf getrennt. Und in diese Sehnsucht hinein lohnt es sich, Angebote zu setzen.

Jürgen Jakob Kehrer ist Referent der Evangelischen Landeskirche Württemberg und freiberuflicher Organisationsentwickler. Dorothea Gebauer betreibt ein eigenes Co-Working-Space, hat mehrere Gründungen begleitet und arbeitet im Bereich innovativer Bildung, PR und Fundraising.
In diesen Wochen erscheint ihr gemeinsames Buch: „Co-Working: aufbrechen, anpacken, anders leben – Herausforderung und Chance für Gemeinden und Organisationen“ (Vandenhoek und Ruprecht).

Freiwillige helfen bei der Begrünung des Luthergartens. Foto: tatkraeftig.org

Ehrenamt für einen Tag: Dieses Hamburger Konzept feiert gerade Erfolge

Miriam Schwartz veranstaltet mit dem Verein „tatkräftig“ eintägige Hilfseinsätze in Hamburg. Ihre Arbeit macht Ehrenamt auch für Vollzeitjobber möglich, wie sie im Interview erzählt.

Melanie Carstens: Euer Motto bei „tatkräftig“ ist: „Ein Team, ein Tag, ein Ziel.“ Was bedeutet das konkret?
Miriam Schwartz: Das ist quasi Engagement in das kleinstmögliche Format gepresst. Wir möchten für Leute, die im normalen Leben sehr eingespannt sind, einen Einstieg ins Ehrenamt schaffen. Der Einsatz ist auf einen Tag beschränkt und man engagiert sich als Gruppe. So können wir Hemmschwellen bei den Freiwilligen abbauen: Wenn ich weiß, ich kann Freunde mitbringen oder ich treffe vor Ort auf Gleichgesinnte, die sich mit engagieren, ist es viel einfacher, den ersten Schritt zu wagen. Als „tatkräftig“-Team bereiten wir im Vorfeld alles sehr gut vor: Wir haben verschiedenste Einsatzpartner, mit denen wir vorher absprechen, was an dem Tag geschafft werden soll. Die Freiwilligen bekommen dann ein Projektdatenblatt mit den Aufgaben und wissen vorher genau: Das ist heute unser Ziel.

Du hast den Verein 2012 gegründet. Wie fing das alles an?
Der Impuls kam ursprünglich vom Hamburg-Projekt, einer Freikirche, die gerade relativ neu gegründet worden war. Den Pastoren war wichtig, dass Menschen praktisch anpacken und einen Beitrag leisten, damit es den Menschen in der Stadt besser geht. Zu dieser Zeit war ich selbst noch gar nicht in Hamburg. Als ich später dazukam, habe ich dann ein Konzept geschrieben, wie wir diese Idee umsetzen können. Einer aus der Gemeinde hat dieses Konzept dann einem Unternehmen vorgelegt und gesagt: „Ihr könnt Steuern sparen, wenn ihr uns regelmäßig Geld spendet.“ Das Unternehmen hat tatsächlich zugesagt und daraus wurde die erste Minijob-Stelle, nämlich meine. Nach einem Gottesdienst habe ich eine Ansage gemacht: „Wir wollen hier etwas Neues aufbauen, wir wollen eine Plattform für Freiwillige schaffen, die sich in der Stadt engagieren.“ Offenbar hatten viele darauf gewartet, denn nach dem Gottesdienst kamen 15 Leute auf mich zu und hatten Lust mitzumachen. Das war unser Gründungsteam und wir haben dann 2012 den Verein „tatkräftig“ gegründet.

Ehrenamt betrifft jeden

War dein Glaube für dich eine Motivation, dich in der Stadt zu engagieren?
Ja, für mich steht die Nächstenliebe im Glauben über fast allem. Ich hatte mich, bevor ich „tatkräftig“ gegründet habe, auch schon selbst viel engagiert, denn ich möchte dazu beitragen, dass es anderen Menschen besser geht. Wir haben aber schnell gemerkt, dass das Konzept auch nicht gläubige Menschen anspricht. Viele haben das Bedürfnis, anderen zu helfen.

Nach diesem Gottesdienst hattet ihr schon mal 15 Freiwillige. Wie habt ihr die Leute gefunden, denen ihr etwas Gutes tun wollt?
Wir haben uns in den Niederlanden das Projekt „Stichting Present“ angeschaut, das bereits etwas Ähnliches umsetzt. Das Konzept beruht darauf, dass man in den Austausch mit verschiedensten gemeinnützigen Einrichtungen geht und guckt, wo dort der Bedarf ist, um dann mit anzupacken. Also weniger, dass man einzelne Menschen ausfindig macht, denen man hilft, sondern sich eher auf Organisationsebene vernetzt.

Wie habt ihr dann losgelegt?
Wir sind voller Ideen und Begeisterung nach Hamburg zurückgekommen und haben uns umgeschaut: Welche gemeinnützigen Einrichtungen gibt es überhaupt in Hamburg? Was sind Zielgruppen, die man unterstützen könnte? Ich habe mich mit interessierten gemeinnützigen Organisationen getroffen, um ihnen von unserer Idee zu erzählen. Die meisten Organisationen dachten aber noch in den klassischen Ehrenamts-Strukturen und mussten erstmal davon überzeugt werden, dass man auch an einem Tag viel schaffen kann und dass es sich lohnt, sich auf so eine Gruppe einzulassen. Seit den ersten erfolgreichen Testprojekten fragen uns viele Organisationen an, ob sie nicht auch Hilfe bekommen können.

Unternehmen fragen fürs Team-Building an

Und wie findet ihr weitere Freiwillige, die bei den Einsätzen mitmachen?
Anfangs kamen sehr viele aus dem Hamburg-Projekt, viele Kleingruppen haben sich mit uns engagiert. Dann hat sich das so seinen Weg gebahnt: Diese Leute haben auf der Arbeit davon erzählt, daraufhin haben wiederum die ersten Firmen bei uns angefragt, die mit ihren Mitarbeitenden einen Einsatz zum Teambuilding machen wollten. Weil die Einsätze sehr viel Begeisterung bei den Freiwilligen ausgelöst haben, haben sie das wiederum in ihrem Freundeskreis weitererzählt und so hat es sich sehr schnell herumgesprochen.

Okay, jetzt gibt es also Organisationen, die einen Bedarf haben – und Teams von Freiwilligen, die sich für einen Tag einsetzen wollen: Wie kommen die zusammen?
Es gibt zwei Wege: Entweder meldet sich eine Einrichtung oder eine Organisation bei uns. Zum Beispiel arbeiten wir regelmäßig mit dem Ronald McDonald-Haus in Hamburg-Altona zusammen. Dort können Eltern schwerkranker Kinder wohnen, während ihre Kinder im Altonaer Kinderkrankenhaus behandelt werden. Das ist natürlich eine sehr belastende Situation für sie. Dieses Haus hatte sich gewünscht, dass wir dort einmal im Monat für die Eltern kochen, um sie mal ein bisschen zu verwöhnen. Bei vielen Sommerfesten werden Freiwillige gesucht, die helfen, Essen vorzubereiten oder die Hüpfburg und andere Spielstationen zu betreuen, damit die Mitarbeitenden frei sind, sich mit den Gästen zu unterhalten.

Und was ist der zweite Weg?
Der andere Weg ist, dass ein Team aus einem Unternehmen, eine Schulklasse oder eine private Gruppe sich bei uns meldet. Daraufhin nehmen wir mit einigen dazu passenden Einrichtungen Kontakt auf, stellen der Freiwilligen-Gruppe zwei bis drei Einsatzideen vor und die dürfen sich dann ihr Lieblingsprojekt auswählen. Dadurch ist auch gewährleistet, dass die Gruppe richtig Lust auf den Einsatz hat.

Und die anderen beiden Organisationen müssen damit leben, dass es dieses Mal nicht gepasst hat?
Die bleiben dann bei uns auf der Liste, bis die nächste passende Gruppe anfragt. Wir vergessen da niemanden.

„tätkräftig“ fördert Verständnis füreinander

Was motiviert Leute, sich bei euch als Freiwillige zu melden?
Diejenigen, die privat auf uns zukommen, wollen einfach mal helfen und etwas Gutes tun, wissen aber meist nicht, wo sie anfangen sollen. Durch uns können sie den ersten Schritt ins Ehrenamt schaffen. Häufig kommen sie wieder, machen mehrmals mit und bleiben manchmal sogar langfristig irgendwo.

Welches Feedback habt ihr nach Einsätzen schon bekommen?
Ganz oft entsteht die Erkenntnis: „Mann, mir geht’s eigentlich echt gut und ich müsste viel öfter helfen.“ Oder Leute sagen: „Ich hatte noch nie mit Menschen mit Behinderung zu tun, aber es war viel einfacher, als ich dachte.“ Oft organisieren wir auch Projekte mit dem christlichen Kinder- und Jugendwerk „Die Arche“. Dort erleben unsere Freiwilligen, unter welch schwierigen Lebensverhältnissen die Kinder leben, und wie beeindruckend es ist, was die Mitarbeiter leisten. Deshalb sage ich auch immer: Bei „tatkräftig“ geht es nicht darum, das Ehrenamt zu fördern, sondern wir stärken den Zusammenhalt zwischen den Menschen, indem wir Verständnis füreinander schaffen. Weil wir die Leute dahin bringen, wo sie sonst nicht hinkommen würden.

Herausforderung Spenden

Wer bezahlt euch für eure Arbeit? Die Einrichtungen vermutlich nicht, oder?
Nein, die Einrichtungen können sich das nicht leisten. Und wenn die Freiwilligen irgendwo hingehen und helfen, wollen sie natürlich nicht auch noch bezahlen. Das ist eine große Herausforderung für uns als organisierender Verein. Deshalb sind wir zum allergrößten Teil durch Spenden finanziert, damit wir diese ehrenamtliche Hilfe kostenlos anbieten können.

Was begeistert dich selbst am meisten bei eurem Projekt?
Wir versuchen immer, ehrenamtliche Projektbegleiter, die von uns ausgebildet wurden, zum Einsatz mitzuschicken, um vor Ort dafür zu sorgen, dass alles gut läuft. In dieser Rolle bin ich selbst auch ehrenamtlich bei Projekten dabei und erlebe diesen Spirit live vor Ort. Egal, wie die Umstände sind, die Stimmung im Team entwickelt sich immer sehr schnell sehr positiv. Da kann dann auch mal ein Regenguss kommen oder Material fehlen. Man schafft es irgendwie trotzdem als Team immer, das gut zu Ende zu bringen und fühlt sich hinterher bestätigt und bestärkt. Das liebe ich total.

„Wir verändern mit jedem Einsatz die Menschen, die sich einsetzen“

Und wie erleben die Hilfeempfänger das?
Die Bewohner einer Behinderteneinrichtung wünschten sich, beim „Hamburg-räumt-auf“-Tag mit Müll zu sammeln, brauchten aber Assistenz dabei. Das haben wir schon öfter organisiert. Durch die gemeinsame Arbeit auf Augenhöhe merkt man einfach, dass keiner über dem anderen steht. Ich bin nicht der Helfende und das ist der Hilfeempfänger, sondern man hat einfach gemeinsam eine gute Zeit. Das treibt uns auch als Team an: Dass wir nicht einfach nur irgendwo Hilfe hinschicken, sondern wir verändern auch mit jedem Einsatz die Menschen, die sich einsetzen. Wir machen nicht nur Hamburg ein bisschen besser, sondern auch die Freiwilligen bekommen eine neue Einstellung zum Ehrenamt oder zu anderen Gruppen, die sie sonst nicht kennenlernen würden.

Während der Corona-Zeit habt ihr noch einen neuen Arbeitszweig gegründet: „tatkräftig fürs Klima“, mit dem ihr Projekte im Bereich Natur- und Umweltschutz unterstützt. Wie kam es dazu?
Ich selbst habe eine sehr soziale Ader, daher ging es mir bisher immer um Menschen. Den Blick für Natur und Tiere hatte ich ganz lange nicht. Aber vor drei Jahren hat es auf einmal „klick“ gemacht. Ich begriff, wie schlimm es um die Welt steht, und dass sich wirklich etwas tun muss. Daraufhin habe ich angefangen, bei mir persönlich sehr viel zu verändern: Müllvermeidung, Gebrauchtes kaufen, weniger Fleisch – die ganze Palette. Das ging auch vielen in unserem Team so und wir dachten: Es wäre doch cool, wenn wir nicht nur persönlich an Stellschrauben drehen, sondern auch auf Organisationsebene einen Beitrag leisten könnten. So waren wir uns schnell einig, dass wir auch mit „tatkräftig“ dafür sorgen möchten, dass es der Welt besser geht.

Miriam Schwartz ist die Vorsitzende des Vereins „tatkräftig e. V.“, der 2012 gegründet wurde und eintägige Hilfseinsätze mit Freiwilligengruppen organisiert, um sich gemeinsam für die Mitmenschen und die Natur in ihrer Heimatstadt Hamburg einzusetzen. Dabei arbeiten sie mit gemeinnützigen Organisationen aus dem sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich zusammen. Das „tatkräftig“-Team besteht momentan aus neun festen Mitarbeitenden mit vier Teilzeitstellen und fünf Minijobs, die durch Spenden und Fördermitglieder finanziert werden. Weitere Infos: tatkraeftig.org

InterviewMelanie Carstens