Der aktuelle Hof der Lebensgemeinschaft. Foto: VieCo

Diese Gruppe hilft psychisch kranken Menschen – mit einem ungewöhnlichen Modell

Sie zogen aus Berlin aufs hessische Land, versprachen sich lebenslange Gemeinschaft und kümmern sich um Menschen in Not. Stefan Kleinknecht hat die Lebensgemeinschaft VieCo besucht.

Es ist Dienstag, kurz vor eins. Mittagszeit. Auf dem großen Hofgelände in der Nähe von Marburg sitzen rund 30 Menschen jeden Alters auf Bierbänken zusammen und lassen sich das Mittagessen schmecken – eine leckere Gemüsesuppe und selbst gebackenes Brot. Zwischen den Bierbänken liegt Spike, einer der Hofhunde, und beobachtet seelenruhig das Geschehen um sich herum. Es wird sich angeregt unterhalten, Kinder lachen. Es herrscht eine fröhliche und entspannte Stimmung. Dass man hier willkommen ist, spüre ich bei meinem Besuch schnell.

Den Hof kennt im Dorf Kernbach jeder. Gut, das ist nicht schwer, bei gerade einmal 200 Einwohnern. Doch der Hof der VieCo Lebensgemeinschaft ist kein gewöhnlicher Bauernhof, wie es viele andere im Dorf gibt. Neben den 13 Erwachsenen und 14 Kindern der Gemeinschaft wohnen hier noch bis zu weitere elf Personen. Sie sind Teil des sozialen Wohnprojektes Kernbach für psychisch kranke Menschen. Sie werden professionell pädagogisch betreut – zum Teil von Leuten der VieCo-Gemeinschaft, zum Teil von weiteren pädagogischen Kräften, die außerhalb wohnen. Vor allem aber sind die elf Menschen einfach Mitbewohnerinnen und Mitbewohner und gehören mit zur Hofgemeinschaft.

Visionäre lernen sich auf Hochzeit kennen

Begonnen hat alles vor über 15 Jahren auf einer Hochzeit in Marburg. Die beiden Paare Paco und Tschul sowie Andi und Mareike sind gerade neu nach Berlin gezogen – lernen sich jedoch nicht dort, sondern auf einer Hochzeit gemeinsamer Freunde in Marburg kennen. „Wir fanden uns gleich sympathisch und haben uns anschließend in Berlin mehrmals getroffen – und dann schnell kennen und lieben gelernt“, erzählt Mareike. Sie ziehen als WG in Berlin zusammen, erste Kinder werden geboren. Sie merken, dass beide Familien ein Wunsch, eine Vision verbindet: Leben, Glauben und Gemeinschaft zu teilen und dabei immer eine offene Tür für Menschen in Not zu haben. Länger suchen sie nach dem passenden Ort. Über einen alten Schulkollegen landen sie schließlich 2012 im hessischen Kernbach. Der ehemalige Schweinestall war schon vor vielen Jahren zu Wohnungen ausgebaut worden, sodass die beiden Familien im mittleren Wohnhaus eines Dreiseitenhofes einziehen können.

Anfängliche Skepsis auf dem Land

„Braucht ihr frische Kartoffeln? Wir haben noch viele übrig“, fragt ein Gast am Nebentisch und streichelt Spike. Er ist heute zu Besuch, um die Gemeinschaft und das Wohnprojekt kennenzulernen und um seine Unterstützung anzubieten. Paco erzählt uns von den ersten Jahren in der Dorfgemeinschaft: „Anfangs war es nicht so leicht. Da kommen Leute aus der Großstadt ins Dorf, mieten einen Hof, leben dort als Gemeinschaft. Dazu kommen noch Menschen in seelischer Not.“ Für Landwirte aus traditionsreichen Höfen erst einmal ungewohnt. Doch die meisten Kernbacher ließen relativ schnell ihre Bedenken hinter sich, erinnert sich Tschul: „Wir haben gleich gezeigt: Wir haben nichts zu verbergen. Wir haben ein großes Hoffest gefeiert, Aktionen mit dem Dorf veranstaltet und immer wieder Gäste und Nachbarn zu unseren HofCafés eingeladen. Wir lebten von Anfang an eine große Willkommenskultur.“ Paco lacht und ergänzt: „Wir kamen von der Stadt aufs Land und hatten kaum einen Plan von Landwirtschaft und Tieren. Viele Kernbacher und Kernbacherinnen waren uns echt eine große Hilfe.“

Nach fast zehn Jahren ist nicht nur das landwirtschaftliche Wissen stark gewachsen – auch die VieCo-Lebensgemeinschaft an sich. Doro und Henning haben sich verbindlich angeschlossen und auch Steffi und Thorsten mit vier und Antje und Simon mit zwei Kindern gehören zur Gemeinschaft. Eva wohnt zudem seit 2020 als Gast in einem kleinen „Backhäuschen“ direkt gegenüber des Hofes. Doro und Matthias befinden sich mit ihren beiden Kindern noch im Besucherstatus und leben im Nachbardorf. Sie lernen VieCo und das Projekt Kernbach ganz intensiv vor Ort kennen und prüfen für sich, ob sie sich eine lebenslange Verbindung vorstellen können und sich einreihen wollen in den Schulterschluss der Gemeinschaft.

Lebenslang, wie bei einer Hochzeit

Die Entscheidung, ein Leben lang zusammenzubleiben, empfinden die VieCos als Geschenk. Paco beschreibt es als vergleichbar mit einer Hochzeit: „Da verspreche ich, ein Leben lang mit einer Person mein Leben zu teilen, aber gleichzeitig ist es ganz schwer, das Gefühl dieser besonderen Verbindung zu beschreiben. Genauso ist es auch bei unserer Gemeinschaft. Es ist ein Lebensmodell, sich freiwillig für eine lebenslange Gemeinschaft zu versprechen.“

Eine solche Entscheidung erfordere bestimmt Mut, frage ich nach. Ich fand schon den Schritt in die Ehe gewaltig … Mareike lächelt: „Bei mir war es definitiv eher Überzeugung als Mut. Denn ich würde mich nicht gerade als mutigen Menschen beschreiben. Ja, es war vor allem die Überzeugung, das Vertrauen: Wir stehen zusammen, egal, was kommt im Leben.“ Tschul nickt bestätigend: „Wenn wir andere in unser Leben lassen, dann profitieren wir alle so viel voneinander, können lernen und wachsen. Und klar, es ist nicht immer nur schön und einfach. Aber trotzdem ist es für mich und uns zu einer festen Überzeugung geworden, dass es die allerbeste Lebensweise ist, die zu uns passt.“

Paco erinnert sich: „Alles hinter sich zu lassen, von der Großstadt aufs Dorf ziehen, um dich herum überall nur Natur – schon ein ordentlicher Schritt! Aber sobald wir uns als VieCo diese lebenslange Gemeinschaft versprochen hatten, war auch klar: Hey, das ist fix, die Entscheidung getroffen. Wir stehen gemeinsam für ein größeres Ganzes. Wir möchten den Menschen in unserem Umfeld dienen und das geht gemeinsam deutlich einfacher als allein. Natürlich sind wir keine Sekte, alles ist freiwillig. Dieser Schulterschluss gibt uns viel Kraft: Wir sind eins, gehören zusammen. Da ruckelt so leicht nichts dran.“ Paco strahlt bei den Worten und es ist allen anzumerken, wie viel Sicherheit die Gemeinschaft gibt.

Der Garten hilft bei psychischen Krisen

Das Mittagessen ist beendet. Ein Teil der Hofgemeinschaft macht sich an den Abwasch. Wir schauen uns das Gelände an. Paco, Tschul und Mareike zeigen uns die „Rote Rübe“, den Garten auf der anderen Seite der Straße. Hier bauen sie zusammen mit den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern Obst und Gemüse an. Das wird in der Hofgemeinschaft aufgeteilt oder für die wöchentlich stattfindenden Mittagessen am Dienstag verwendet. „Es tut den Menschen in psychischen Krisen meist richtig gut, sich um etwas zu kümmern, wie hier zum Beispiel um den Garten“, berichtet Paco, der theologisch wie auch pädagogisch ausgebildet ist und wie Mareike, Andi und Tschul eine Anstellung im Wohnprojekt Kernbach hat. Alle anderen aus der Lebensgemeinschaft arbeiten ehrenamtlich im Projekt mit. Träger des ambulanten Wohnprojektes ist der St. Elisabeth-Verein e. V. Marburg, der zur evangelischen Diakonie gehört.

Auf dem Weg über den Hof kommen wir an den Tieren vorbei, an Hühnern, Hasen, Schafen und Ziegen. Mareike erzählt, das Ziel ihrer pädagogischen Arbeit sei immer, dass die Menschen in ihrer seelischen Not erst einmal auf dem Hof zur Ruhe kommen können und möglichst stabil werden. Bei einem großen Teil gelinge das auch. „Wir sehen unsere Arbeit so: Wir bestimmen nicht, sondern wir ermöglichen“, erklärt Paco. „Wir fragen die Leute, was sie brauchen, was ihr Ziel ist. Und dann unterstützen wir sie, so gut es nur irgendwie geht, auf ihrem Weg dahin.“ Tschul weiß, dass die Mitwohnenden auch andere Erfahrungen gemacht haben: „Vorher wurden viele nicht gefragt, was sie denn selbst wollen. Hier sollen sie erfahren: Ich darf mitreden, ein Teil der Gemeinschaft sein. Ich kann etwas. Andere sehen mich, schätzen mich und unterstützen mich. Das ist so viel wert. Nur so ist das Ziel, eines Tages wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen, überhaupt möglich.“

Es ist nicht alles Bullerbü

Wir laufen nun durch das Dorf. Sie wollen mir noch etwas zeigen. Einen großen Schritt, den sie als VieCo Lebensgemeinschaft gegangen seien. Ich bin gespannt, was das wohl sein wird. Mich erinnert die ländliche Idylle hier jedenfalls ein wenig an Bullerbü. Alle lachen. „Ja, im ersten Moment sieht es vielleicht danach aus“, sagt Paco, „doch die Gemeinschaft bedeutet jede Menge Arbeit – sowohl praktisch als auch inhaltlich.“

Mareike nickt: „Und wenn man Leben teilt, dann geht man sich auch mal auf die Nerven, reibt sich aneinander. Da bedeutet es, immer wieder Kompromisse zu finden. Zu schauen, dass niemand auf der Strecke bleibt.“ Tschul ergänzt: „Auch die richtige Balance ist ein Dauerthema. Balance zwischen Job und Ehrenamt, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Gemeinschaft und Zeit für sich selbst, für die Familie.“ Für Paco hat das Leben hier auch viel mit persönlicher Entwicklung zu tun: „Wir sehen uns als Lernende. Und Jesus als unseren Lehrer. Wir wollen immer besser im Umgang miteinander werden, wollen Konflikte ansprechen und Lösungen suchen. Wir wollen uns die Füße waschen, nicht die Köpfe.“

Ein neues Projekt entsteht – vor allem durch Spendengelder

„Da sind wir!“, sagt Tschul, als wir auf einem weiteren Hof angekommen sind. „Das ist unser nächster großer Meilenstein!“ Auf rund 2500 Quadratmetern Fläche stehen hier neben einem Wohnhaus zwei aneinander gebaute alte Scheunen. Dachziegel fehlen, ganze Wandteile sind eingestürzt. „Erst vor ein paar Tagen haben wir den Hof hier gekauft“, sagt Tschul mit leuchtenden Augen, „aber wie du siehst: es gibt noch unglaublich viel zu tun! Wir sind noch ganz am Anfang.“ Sie erzählen, dass sie schon lange zu wenig Räumlichkeiten haben, immerzu am Limit sind. Vor allem im Winter bekämen sie nicht einmal mehr die ganze Hofgemeinschaft in einem Raum unter, wie etwa dienstags zum gemeinsamen Mittagessen. Paco sprüht nur so vor Ideen: „Hier soll etwas ganz Tolles entstehen: Ein schöner, großer Aufenthaltsraum. Viele Räume für Gäste. Für Menschen mit Hilfebedarf. Ein schönes Café wäre noch ein Traum, eine große Küche und vielleicht auch eine Werkstatt. Auf jeden Fall viel Raum für Begegnungen.“

Auf dem Rückweg erzählen sie, dass sie lange gesucht und lange überlegt und gebetet hätten, ob der Kauf der richtige Schritt sei. Jetzt seien aber alle richtig froh, den mutigen Schritt gegangen zu sein. Für die insgesamt 2,5 Millionen Euro Investitionskosten werden sie hauptsächlich auf Spenden angewiesen sein. „Alleine würden wir den großen Betrag nicht stemmen können“, sagt Mareike, „aber wir sind voller Vertrauen: Es wird Menschen geben, die uns durch Spenden unterstützen werden. Die uns helfen, dass wir weiterhin unsere Türen für Menschen öffnen dürfen.“ Schon jetzt haben sie einen großen Freundeskreis, den sie regelmäßig mit Newslettern in ihre Geschichte und ihre Ideen hineinnehmen.

Gemeinsame Kindererziehung

Zurück auf dem Hof setzen wir uns in den Raum der Stille. Antje kommt mit ihrer kleinen Tochter Maartje hinzu, die noch etwas wackelig auf den Füßen unterwegs ist: „Es gibt den Spruch, dass man ein ganzes Dorf brauche, um ein Kind zu erziehen – das erlebe ich hier täglich“, erzählt Antje. „Unsere Kinder wachsen in der Gemeinschaft auf, haben immer viele unterschiedliche Kinder und Erwachsene um sich herum. Sie lernen das soziale Miteinander von klein auf.“ Schließlich lassen mich die VieCos noch teilhaben an der Liturgie, die sie als Gemeinschaft durch die wöchentlichen Treffen führt. Besonders hängen bleibt mir ein jüdisches Gemeinschaftsgebet. Es beschreibt sehr schön den Wert der Gemeinschaft, der hier auf dem Hof bei allen Begegnungen deutlich zu spüren ist. Wir stellen uns in den Kreis, halten die Hände und sprechen uns einen Segen zu. Und da ist sie wieder zum Greifen nah: die Kraft der Gemeinschaft, der Verbundenheit und des gemeinsamen Glaubens.

Stefan Kleinknecht ist Redakteur bei der Stiftung Marburger Medien und wohnt mit seiner Familie in Mittelhessen. Die Lebensgemeinschaft ist zu finden unter vieco.org