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Die Wohngemeinschaft im "Offnigs Huus", Foto: Privat

Wer Hilfe braucht – darf bleiben: Florida und Christian leben einzigartiges Wohnmodell

Florida und Christian Zimmermann öffnen ihr Haus seit 16 Jahren für Menschen in Not. Zeitweise leben dort bis zu elf Personen gleichzeitig.

„Gestern rief uns ein Bekannter an, der in einer Krise steckt. Sofort haben wir ihm angeboten, bei uns einzuziehen“, erzählt Florida. „Wir haben ihm gleich ein Zimmer hergerichtet“, ergänzt ihr Mann Christian mit einem Elan, der klarmacht: Genau dafür lebt das Ehepaar seit 16 Jahren sein „Offnigs Huus“: damit Menschen, die das Bedürfnis haben, in Gemeinschaft zu leben, aufgefangen werden und einfach sein können.

Eigentlich Einzelgänger

„Ich war immer davon überzeugt, dass ich ein Einzelgänger bin“, sagt Christian, der auf dem Land aufgewachsen ist und zum Studium nach Bern zog. Florida, die im Libanon geboren ist und die eine bewegte Vergangenheit von Krieg, Flucht und Entwurzelung prägt, trieb schon immer die große Sehnsucht nach einem Zuhause an. Das erlebte sie zum einen in ihrer Pflegefamilie in der Schweiz und bei einer Hausgemeinschaft, in der sie als junge Erwachsene mitlebte. „Aber erst bei Jesus kam ich wirklich an, bei ihm fand meine Seele Heilung, Ruhe und Heimat“, erzählt sie. Durch ihre eigene Geschichte verspürte sie immer mehr den Wunsch, anderen Menschen ein Zuhause zu bieten – Menschen, die genauso wenig Geborgenheit erlebt hatten wie sie selbst.

Doch in Christian musste dieser Wunsch erst reifen. Seine Vorstellung für die Zukunft sah eher ein Einfamilienhaus mit zwei eigenen Kindern und Katzen vor. Florida überließ es als überzeugte Christin Gott, sie gemeinsam zu führen. „Dann stellte ich eines Tages fest, dass Christian viel mehr Leute in unsere Berner Innenstadtwohnung brachte als ich.“ Darauf angesprochen, begann es in Christian zu arbeiten. Tatsächlich genoss er die Gemeinschaft sehr. Sie beschlossen, in der Sache auf Gott zu vertrauen und beteten: „Wir möchten gerne unsere Türen öffnen. Zeig du uns, wie. Bring die Menschen zu uns. Wir sind offen.“

Eine erste Mitbewohnerin zieht ein

Wenige Wochen später klingelte bei ihnen eine verzweifelte Bekannte, die mit einer solchen Wucht von ihrer erschütternden Vergangenheit eingeholt wurde, dass Alleinsein undenkbar war. Florida und Christian nahmen sie ohne zu zögern auf. Sie sollte so lange bei ihnen bleiben, wie sie es brauchte. Es würden Jahre werden.

Wenig später kam über eine Bekannte eine weitere Jugendliche, die Stabilität und Gemeinschaft brauchte. Gerade da wurde im Haus eine kleine Wohnung frei, die dazugemietet werden konnte. Vier weitere Personen kamen innerhalb der nächsten knapp zwei Jahre hinzu – darunter auch Floridas Mutter, die aus dem Libanon in die Schweiz gekommen war. Sie mieteten weitere Wohnungen an. In der größten, in der auch Zimmermanns und zwei Jugendliche wohnten, fand das gemeinsame Leben statt.

Frauen fassen Vertrauen zu Christian

Diejenigen, die einzogen, waren oft Menschen, die von klein auf schwere Lasten und viel Verantwortung getragen hatten, die seelisch litten und hier bei Zimmermanns einen Ort fanden, an dem sie sich fallen lassen konnten. Meist brachen innerhalb kurzer Zeit Wunden der Vergangenheit auf. Florida begleitete sie durch die akuten Krisen, versuchte als einfühlsame Ansprechpartnerin, aber dann auch als klares Gegenüber beim Überwinden von destruktiven Mustern zu helfen. Christian war für etliche der jungen, tief verletzten Frauen der erste Mann, zu dem sie überhaupt Vertrauen aufbauen konnten. Viele fanden in der verbindlichen Gemeinschaft die verlässliche Familie, die sie nie gehabt hatten.

„Wären gleich am Anfang fünf Leute bei uns eingezogen, hätte ich es nicht gepackt“, gibt Christian zu. „Doch so, Schritt für Schritt, sind wir reingewachsen.“ Mit ihrer sprühenden Art ergänzt Florida: „Ja, wir hatten keinen Plan, kein Konzept. Wir haben es Gott überlassen, wen er zu uns bringt und ihm vertraut, dass dann immer Platz ist und wir die Menschen gut begleiten können.“

Nicht alle kommen mit dem Konzept zurecht

2008 konnte die Gemeinschaft in ein begehrtes Haus mit neun Zimmern und einer zusätzlichen Einliegerwohnung im oberen Stock ziehen. „Wieder hat Gott uns versorgt“, berichten die beiden begeistert. Mit dem Geld, das alle zur Miete beitragen können, dank Freunden, die finanziell das „Offnigs Huus“ mittrugen, sowie Spenden, die oft genau zur richtigen Zeit hereinkamen, konnte die Gemeinschaft ihren Unterhalt bestreiten. Zeitgleich fanden die ersten Wechsel der Besetzung statt: Einige der jungen Menschen verließen das Haus, um wieder auf eigenen Beinen im Leben zu stehen oder um zu heiraten.

Einzelne verließen das „Offnigs Huus“, weil sie sich der Gemeinschaft nicht mehr stellen wollten. „Wir leben schon einen hohen Anspruch an Kommunikation und Miteinander“, sagt Florida: Es gehe darum zu lernen, sich mitzuteilen, Konflikte auszutragen, für Fehler geradezustehen, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und Initiative zu ergreifen. Das bedeutet für jeden die Bereitschaft, an sich zu arbeiten, sich mit eingefahrenen Mustern auseinanderzusetzen und Korrektur anzunehmen. Ein Ja zu dieser Verbindlichkeit und Haltung ist Voraussetzung, um hier mitzuleben. Seit der Anfangsphase teilen alle Mitbewohner den Alltag intensiv miteinander, kochen gemeinsam, machen Filmabende und unternehmen Ausflüge oder Spaziergänge. Auch der Brunch am Sonntag gehört dazu und das samstagmorgendliche Putzen.

Glaube ist keine Voraussetzung

In den vergangenen 16 Jahren lebten 22 junge Frauen und Männer länger als ein Jahr in der Gemeinschaft. Weitere haben übergangsweise für einige Wochen oder Monate hier ein Zimmer bezogen. Seit 2009 gehört noch die eigene Tochter der Zimmermanns dazu. 2010, in der absoluten Hochphase des „Offnigs Huus“, lebten zeitweise elf Personen in der Gemeinschaft. Oft waren es Bekannte oder junge Frauen, mit denen Zimmermanns in der Jugendarbeit ihrer Gemeinde Beziehungen aufgebaut hatten, aber es stießen auch Menschen dazu, die über Mund-zu-Mund-Propaganda, über die Website und Artikel vom „Offnigs Huus“ hörten.

Der persönliche Glaube ist keine Voraussetzung zum Mitleben. „Aber man darf keine Abneigung gegen den Glauben haben, denn Jesus ist mittendrin“, erzählt Florida. Für sie selbst ist ihre Beziehung zu Gott nach wie vor eine große Motivation für das, was sie tut: „Ich blühe auf, wenn ich das Potenzial von Menschen sehe und dann mit Gott an der Seite helfen darf, es hervorzubringen. Ich möchte für Menschen da sein und es ist wunderschön zu erleben, wie ich mitten in meiner Berufung bin.“ Das bestätigt auch Christian mit Nachdruck. Während ich mit beiden rede und ihren Alltag miterlebe, staune ich, wie sehr sie im Gespräch, aber auch bei den alltäglichen Aufgaben harmonieren und sich als eingespieltes Team die Bälle zuwerfen.

Beziehung ist eine Herausforderung

Dass Dienen ihre Ausrichtung ist, zeigt sich auch in ihrer Beziehung. Mir wird klar, wie sehr sie für die Mitbewohner ein Vorbild im Miteinander und in der Kommunikation darstellen. „Dabei war und ist es eine der größten Herausforderungen, wie wir unsere Ehe pflegen“, sind sich die beiden einig. Gerade mal ein Jahr Zweisamkeit erlebte das junge Paar, bevor der erste Schützling einzog. Ab dann mussten sie sich regelmäßige Eheabende konsequent freikämpfen. Aber einfach mal ein Wochenende wegfahren war nicht drin. Auch sonst hatten sie keinerlei Privatsphäre, jeder Konflikt fand unter Beobachtung statt.

„Eine andere große Herausforderung ist, dass wir immer flexibel sein müssen, ständig ändert sich der Plan, den ich für eine Woche mache“, lacht Florida. Christian nickt. „Leben im dauerhaften Provisorium“ nennt er es. Die beiden geben schmunzelnd zu, dass sie eigentlich sehr strukturierte Menschen sind, die gerne planen. Aber wer mitten im Alltag offen sein will für Menschen, muss wohl bereit sein, Pläne auch wieder über den Haufen zu werfen.

Café schafft Gelegenheit für Gespräch

Menschen Zeit zu schenken, ist auch das Anliegen, das die beiden dazu motivierte, die Nachbarschaft zum Verweilen und Kaffeetrinken einzuladen – in ihrem „Kafi Uszyt“ (Café Auszeit). Es ist kein Café im klassischen Sinne, sondern an zwei Vormittagen und einem Nachmittag pro Woche ist einfach Zeit für Gespräche beim Kaffee, meist gibt es auch eine frische Waffel oder ein Stück Kuchen. Jeder aus Bremgarten ist willkommen – bislang wegen Corona nur in den Sommermonaten und draußen im Hof. Zusammen mit einer befreundeten Nachbarin und Mitbegründerin des Cafés bieten Florida und Christian einfach Gespräche an. „Es passiert viel zu selten, dass man zuhört und Zeit hat für sein Gegenüber“, ist Florida überzeugt, „und es ist unser Herz, genau das Menschen zu schenken.“

Andrea Specht arbeitet als Autorin und Lektorin und lebt mit ihrer Familie in Potsdam.

Floridas besondere Lebensgeschichte und den Weg zum „Offnigs Huus“ erzählen Florida Zimmermann und Andrea Specht im gerade erschienenen Buch „Durchbrecherin. Mein langer Weg nach Hause – mitten durch Terror, Selbstablehnung und Zerbruch“ (SCM Hänssler). Weitere Infos zum Projekt: offnigshuus.ch

Auch in Berlin finden Baumpflanzaktionen statt. Foto: Berwaldprojekt_de_Matthaeus Holleschovksy

Geniale Ferien-Idee: Urlaub machen und Gutes tun – so geht’s

Stefan Kleinknecht will im Urlaub mehr erleben als Sandstrand. Darum wagt er ein Experiment – und rettet so den Wald.

Am Anfang standen drei Wünsche: Ich brauche Urlaub, will viel draußen sein und am besten dabei noch etwas für die Natur tun. Doch gibt es so etwas? Ja, tatsächlich! Nach etwas Recherche lande ich beim Bergwaldprojekt e. V.: „Wir suchen Freiwillige, die eine Woche lang zusammen Bäume pflanzen und Waldpflege betreiben.“ Klingt gut als Abwechslung zum Bürojob, denke ich und melde mich an.

Einige Wochen später stehe ich mit 13 anderen am Berghang. Um uns herum: Baumstumpf neben Baumstumpf – kahle Hänge, wo einst Wald stand. Wir sind im nordrhein-westfälischen Werdohl, im eigentlich großflächig bewaldeten Lennetal. Doch Dürre, Stürme und Borkenkäfer haben den Wäldern riesige Schäden zugefügt und große, kahle Lücken in den Wald gerissen.

Hunderte kleine Setzlinge

Mit uns auf dem Hang steht Hendrik von Riewel, studierter Förster und Waldpädagoge. Er ist der Projektleiter dieses Freiwilligeneinsatzes. In seinen Händen hält einen kleinen Bergahorn: ein dünnes Stämmchen mit einer winzigen Knospe oben und einem Wurzelballen unten. Hendrik zeigt uns, wie man mit der Wiedehopf-Haue umgeht. Sie hat am Ende ein Beil auf der einen und eine Hacke auf der anderen Seite. Damit gilt es, in den richtigen Abständen Löcher in den Boden zu machen und anschließend die Bäumchen so einzupflanzen, dass sie fest genug in der Erde sind, aber auch gut anwachsen können. „Los geht’s“, ruft Hendrik und deutet lächelnd in Richtung vieler hundert weiterer kleiner Bäume, die neben uns stehen und darauf warten, eingesetzt zu werden.

Waldsterben gab Initialzündung

Das Bergwaldprojekt wurde bereits 1987 gegründet. Damals beschäftigte das Thema Waldsterben die Umweltschützer und die Gesellschaft. Wolfgang Lohbeck von Greenpeace Deutschland beschloss zusammen mit dem Schweizer Förster Renato Ruf, ein Positivprojekt zu gründen und erstmalig als Organisation handwerklich aktiv im Naturschutz zu werden. Im Schweizer Kanton Graubünden stießen sie auf einen Wald, der durch einen Hangrutsch stark beschädigt war, und begannen, ihn mit 25 Freiwilligen zu sanieren.

Heute ist daraus ein europaweites Netzwerk entstanden. Anfang der Neunziger Jahre wurde der deutsche Ableger gegründet, der unabhängig ist von Greenpeace. Über die Jahre sind Nachfrage und Angebot des Vereins stark angestiegen. Wären die Kapazitäten vorhanden, könnten vermutlich 500 Projekte angeboten werden, schätzt Hendrik. 2022 finden immerhin rund 170 Projektwochen an über 80 verschiedenen Standorten in ganz Deutschland statt. Es gibt Einsatzwochen für Erwachsene, für Familien, integrative Projektwochen, Unternehmenseinsätze und Waldschulwochen. Bis zum Ende des Jahres werden dabei rund 4000 Projekt-Teilnehmende erwartet.

Schauspielerin trifft Biologin

14 davon sind inzwischen im sauerländischen Stadtwald von Werdohl richtig in Fahrt gekommen. Die Sicherheit im Umgang mit dem Werkzeug ist mittlerweile gewachsen. Baum für Baum wird eingepflanzt. Extra-Motivation gibt das sonnige T-Shirt-Wetter. Zudem lernen wir Teilnehmende uns bei der Arbeit immer besser kennen. Aus allen Himmelsrichtungen des Landes sind wir ins Sauerland gekommen: aus Karlsruhe und Würzburg über Essen, Hamburg, Berlin, Göttingen und anderswo. Ebenso vielfältig sind Alter und Lebensalltag. Zwischen 19 und Ende 50 Jahren ist fast alles dabei. Eine Schauspielerin und eine Biologin haben sich ebenso angemeldet wie ein Angestellter für Arbeitssicherheit und einige Studierende.

Am Ende unseres ersten Arbeitstages fahren wir zurück zum Freizeitheim mit Mehrbettzimmern, in dem wir untergebracht sind und das den Charme eines Klassenausflugs aufkommen lässt. Nach sechs Stunden körperlicher Arbeit am Hang spüren wir unsere Knochen. Ein wenig Sonnenbrand zeigt sich ebenfalls an der einen oder anderen Stelle. Die Stimmung ist super. Mit über 800 Bäumen haben wir deutlich mehr als erwartet geschafft. Aber jetzt wird erstmal geduscht und Arbeitskleidung gegen Freizeitklamotten getauscht.

Vegetarisches Essen zum Abend

Im Haus duftet es schon großartig. Köchin Tobby hantiert bereits bestens gelaunt in der Küche. „Erst miassts ia den ganzn Salatschüssl laar hom, bevoar‘s des Habtmenü bekimmd“, sagt sie schelmisch grinsend im breitesten Bayrisch – und der Salat ist ebenso schnell verputzt wie die Spätzle mit Pilz-Kräuter-Soße. Schon seit vielen Jahren fährt Tobby für die Projektgruppen durch ganz Deutschland, um sie vegetarisch und vegan zu bekochen. Anschließend bleibt der Großteil von uns noch im Gruppenraum sitzen. Einige diskutieren mit Hendrik über Natur und Gemeinschaft, über das Jagen von Wild und wie viel der Mensch in die Natur eingreifen sollte. An einem anderen Tisch entspannt eine andere Gruppe beim Kartenspiel. Doch spät wird es nicht. Um 22 Uhr geht das Licht auch beim Letzten aus. Immerhin geht‘s am nächsten Tag schon um 6 Uhr weiter.

Ich brauche etwas, bis ich einschlafen kann. Die vielen Eindrücke des ersten Tages wandern noch durch meinen Kopf. Gleichzeitig fühle ich mich erfüllt vom Tag. Die Arbeit und die Zeit an der frischen Luft haben total gutgetan. So sinke ich irgendwann in den Schlaf.

Spannbreite bis zur Moor-Renaturierung

Mit einem lauten „Guuuten Mooorgen“ holt Hendrik uns am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Eine halbe Stunde später sitzen wir alle beim Frühstück. Die Rucksäcke werden noch gepackt, Arbeitsklamotten und Bergschuhe angezogen, der große Thermotopf mit dem Mittagsessen wird verstaut – und schon starten wir in die neue Runde Baumpflanzung.

Nicht immer geht es bei den Bergwaldprojekten darum, Bäume zu setzen. Genauso kann es um Wald- oder Biotoppflege gehen und ein wachsender Bereich ist zudem die Moor- und Bach-Renaturierung. Inzwischen ist auch ein Moor-Experte beim Bergwaldprojekt e. V. angestellt.

Körperliche Herausforderung steigt um zwei Level

Auch für uns gibt es schon am zweiten Tag eine Abwechslung. Da wir schneller als erwartet vorankommen und bald schon alle rund 1600 Bäume in der Erde sind, fahren wir zehn Minuten weiter zu einem anderen Standort. Neue Aufgabe: Pflege des Jungwaldes. Die körperliche Herausforderung steigt bei dieser Arbeit um mindestens zwei Level. Erst einmal müssen wir gut 15 Minuten einen steilen Hang querfeldein hinaufkraxeln, um in das Gebiet zu kommen. Oben angekommen erklärt Hendrik, dass der heftige Orkansturm „Kyrill“ 2007 hier fast den kompletten Hang verwüstet hat und fast kein Baum mehr stand. Im Jahr darauf hat ihn das Bergwaldprojekt mit jungen Bäumen aufgeforstet.

Damit diese kleinen Bäume nicht durch den Verbiss von Reh- und Rotwild beschädigt werden konnten, wurde damals jeweils ein Verbiss-Schutz aus Plastik um die Bäume angebracht. Wo das Plastik schon kaputt ist und somit keinen Schutz mehr bietet, entfernen wir es. Etliche Bäume sind inzwischen auch schon groß genug und brauchen den Schutz nicht mehr. Wenn die Ummantelung noch gut erhalten ist, aber der Stützpfahl morsch ist, tauschen wir ihn gegen einen neuen aus. Schließlich schleppen wir rund ein Viertel der Kunststoffhüllen den steilen Hang hinunter, damit sie nicht im Wald verbleiben.

Mit der Machete gegen Brombeeren

Am nächsten Tag ist Mittwoch und damit schon Halbzeit. Den Tag verbringen wir komplett mit der Überprüfung des Verbiss-Schutzes. Wir steigen an anderer Stelle oben am Hang ein und arbeiten uns nach und nach bis nach unten zur gestrigen Stelle vor. Zusätzlich herausfordernd sind heute stachelige Brombeerranken, die an manchen Stellen die Oberhand gewonnen haben. Um die Bäume zu erreichen, müssen wir manchmal die Machete ansetzen – allerdings nur vorsichtig. „So nervig die Brombeeren für uns sind, so gut sind sie für die jungen Bäume“, erklärt Hendrik. „Wo alles richtig mit Brombeeren zugewachsen ist, hält es das Wild ab, die Bäume abzufressen.“

Solche Erklärungen streut er immer wieder in die Arbeit ein. Einerseits wird so besser verständlich, welche Arbeiten aus welchen Gründen gemacht werden, aber vor allem lerne ich auf diese Weise viel über den Wald und wie alles in der Natur zusammenhängt. Das wird auch bei den Arbeiten an den letzten beiden Tagen relevant.

Paradoxes Fällen

Wir widmen uns einem Waldstück, das vor 15 Jahren wieder aufgeforstet wurde. Für einen Wald ist das immer noch sehr jung. Würde man den Wald sich jetzt selbst überlassen, würden sich am Ende nur ein bis zwei Baumarten durchsetzen, in diesem Fall die Birke oder die Fichte. Doch vor allem aufgrund des Klimawandels ist es wichtig, gute Mischwälder anzulegen und keine Monokulturen. So greifen wir in den Jungwald ein und fällen einige der Birken und Fichten. Im ersten Moment kommt uns das grotesk vor. Erst pflanzen wir Bäume an, dann fällen wir andere wieder?

Hendrik versteht das Gefühl gut. „Im ersten Moment fühlt es sich falsch an. Doch wir ermöglichen so dem Ahorn, der Kirsche oder der Weide, dass sie auch eine Chance haben, groß zu werden. Und wichtig ist vor allem ein naturnaher Eingriff.“ Das bedeutet: Wir schauen genau hin und fällen nur an einzelnen Stellen, damit die chancenlosen Bäume Licht bekommen und nicht zurückgedrängt werden. Alle anderen Birken und Fichten dürfen getrost stehenbleiben. „An anderen Stellen im Wald ist es wiederum genauso wichtig, ihn selbst bestimmen zu lassen, was wächst. Da greifen wir überhaupt nicht ein“, betont Hendrik ebenfalls.

Schnee zum Abschied

Während wir uns durch den Hang arbeiten, lernen wir, die Bäume so zu fällen, dass sie richtig fallen und keine anderen Bäume verletzen. Das Wetter ist mittlerweile umgeschlagen. Inzwischen ist es kalt und nass. Freitag fällt sogar ordentlich Schnee. Zum Glück sind alle warm eingepackt. Nur die Essenspausen fallen deutlich kürzer aus: Solange wir in Bewegung sind, ist uns gut warm. Beim Stehen aber spürt man die Kälte.

Freitagabend werden noch alle Geräte geputzt und der Bergwald-Anhänger beladen. Obwohl wir alle merken, dass eine Woche körperliche Arbeit ganz schön Kräfte gezehrt hat, könnte die Stimmung kaum besser sein. Der Kälte wird mit Humor, Verbundenheit und der Überzeugung getrotzt, dass wir echt was gerissen haben in dieser Woche.

Am Samstagmorgen fällt der Abschied so schwer, wie Arme und Beine sich anfühlen. Ich hatte meine Frau schon vorgewarnt, dass ich bestimmt müde sein würde. Doch nach einem Tag Schlaf fühle ich mich super – und überraschend gut erholt. Mehr als nach einer Woche Strand, gammeln und Nixtun, würde ich sagen. Die eine Woche Urlaub für die Natur zu investieren, den Mix aus viel frischer Luft, toller Gemeinschaft und körperlicher Arbeit bis zum Kraftlimit zu erleben, hat sich mehr als gelohnt.

Stefan Kleinknecht ist Vater zweier Jungs und Redakteur bei der Stiftung Marburger Medien. Weitere Infos und Überblick über die Projektwochen: bergwaldprojekt.de

Dr. Eckart von Hirschhausen, Foto: Dominik Butzmann / Gesunde Erde - Gesunde Menschen

Dr. Eckart von Hirschhausen: „Jedes Zehntel Grad zählt!“

Im Interview wettert Dr. Eckart von Hirschhausen gegen Klimaleugner und erzählt, warum er sich für den Klimawandel einsetzt. Sein Credo: Die nächsten zehn Jahre sind entscheidend.

Herr Hirschhausen, manche bezweifeln den menschengemachten Klimawandel ja noch immer. Haben Sie dafür Verständnis?
Nein. Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Es ist wahnsinnig anstrengend, mit Klimaleugnern zu diskutieren. Aber es ist dringend nötig, immer wieder zu betonen: Der Klimawandel ist real und menschengemacht. Und deshalb können und müssen wir Menschen etwas dagegen tun.

Wie dramatisch schätzen Sie die Lage ein?
Nach den drastischen Bildern der Flutkatastrophe im Sommer ist hoffentlich jedem klar: Wir müssen nicht aus Mitleid mit Eisbären das Klima retten – wir müssen uns Menschen retten. Die Klimakrise ist die größte Gesundheitsgefahr im 21. Jahrhundert – mit Hitzetoten, Extremwetterereignissen und auch neuen Infektionskrankheiten. Wir sind die erste Generation, die hautnah miterlebt, wie instabil das Erdsystem wird. Und die letzte, die verhindern kann, dass weitere Kipppunkte überschritten werden. Wer jetzt noch ein „Weiter so“ für einen gangbaren Weg hält, hat wirklich den Schuss nicht gehört.

Die nächsten zehn Jahren entscheiden über die nächsten 10.000 Jahren

Können wir der Folgen des Klimawandels noch Herr werden?
Die nächsten zehn Jahre werden darüber entscheiden, wie die nächsten 10.000 Jahre für unsere Zivilisation werden. Deswegen müssen wir schnell handeln – und zwar nicht jeder für sich allein, sondern überregional, europäisch und global. Es ist naiv zu glauben, wir würden in den nächsten Jahren eine Zaubermaschine erfinden, die das CO2 verschwinden lässt. Viel wichtiger ist es, endlich mit der dreckigen und teuren Kohleverstromung aufzuhören, denn die Atmosphäre ist eben nicht eine unendliche Müllhalde für Treibhausgase, sondern eine sehr dünne und empfindliche Haut der Erde. Und diese Schutzschicht macht den Unterschied, ob wir auf der Erde leben können oder nicht.

Gab es für Sie persönlich einen Moment, in dem Sie gedacht haben: So kann es nicht weitergehen. Ich muss selbst aktiv werden?
Es mag pathetisch klingen, aber eine Frau hat mein Leben verändert: Jane Goodall. Sie ist mit über 85 Jahren immer noch unermüdlich unterwegs in ihrer Herzensangelegenheit: das Überleben von Menschen und Tieren zu sichern. Bei einem Interview stellte sie mir die Frage, die mein Leben veränderte: „Wie kann es sein, dass die schlaueste Kreatur, die jemals auf diesem Planeten gewandelt ist, dabei ist, ihr eigenes Zuhause zu zerstören?“ Das war der Startschuss für meine Reise auf der Suche nach guten Antworten und mein aktuelles Buch „Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben“ ist so etwas wie das Fahrtenbuch.

Darin geht es um die Folgen des Klimawandels für unsere Gesundheit. Kurz zusammengefasst: Worin bestehen die?
Wenn das kurz ginge, hätte ich ja nicht 521 Seiten schreiben müssen! Ich habe die Buchkapitel nach Körperfunktionen gegliedert. Das wirkt ungewöhnlich, macht aber Sinn, da ich mich als Arzt am besten mit dem Körper auskenne. Und weil jeder von uns atmen, trinken, essen und schwitzen aus eigener Anschauung kennt. Und weil Feinstaub das Atmen, Mikroplastik das Trinken, industrielle Landwirtschaft das Essen und Hitze die Temperaturregulation massiv beeinträchtigen. Wer meint, dass die Wirtschaft wichtiger ist als die Gesundheit, kann ja mal versuchen, beim Geldzählen eine Weile lang die Luft anzuhalten!

Jede vermiedene Tonne CO2 zählt

Der Klimawandel stellt auch die drängende Frage nach der globalen Gerechtigkeit. Was empfinden Sie als besonders ungerecht?
Der Klimawandel bremst die Fortschritte der wirtschaftlichen Entwicklung zusehends aus. Forschende haben ermittelt, dass die Kluft zwischen armen und reichen Ländern heute um ca. 25 Prozent größer ist, als sie es ohne die Erderwärmung wäre. Das Bruttoinlandsprodukt geht in den ärmsten Ländern der Welt nach vielen Jahren der positiven Entwicklung wieder zurück. Der Welthunger-Index, der die Ernährungslage in 107 Ländern berechnet, zeigt: 14 Länder weisen heute höhere Hungerwerte auf als noch 2012. Die Schätzungen, wie viele Menschen dort, wo sie leben, nicht bleiben können und zur Flucht gezwungen sind, reichen von 140 Millionen bis zu 400 Millionen bis zum Jahr 2050. Klimaschutz, globale Gesundheit und Gerechtigkeit gehören zusammen.

Was möchten Sie Menschen mit auf den Weg geben?
Jedes Zehntel Grad zählt! Jede vermiedene Tonne CO2. Jede Stimme, die sich erhebt. Und jede Spende. Es ist nicht einfach, optimistisch zu bleiben, aber zwei Punkte geben mir Anlass zu Hoffnung. Erstens: Wir können noch etwas ändern, bevor globale Kipppunkte erreicht werden. Und zweitens: Wir sind viele. Das Thema ist im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Jugendliche gehen mit „Fridays for Future“ auf die Straße, Eltern und Großeltern unterstützen sie. Und auch die Politik kommt an dem Thema nicht mehr vorbei. Wenn ich mir jetzt noch ein Drittens wünschen dürfte: dass die ganze Diskussion mit ein bisschen Humor geführt wird, damit das Ganze nicht so verbiestert rüberkommt. Ich liebe die Plakate mit Augenzwinkern: „Kurzstreckenflüge nur für Insekten“, „Wozu Bildung, wenn keiner auf die Wissenschaft hört?“ oder „Klima ist wie Bier – zu warm ist doof!“

Klimakrise ist auch eine spirituelle Krise

Sie unterstützen auch immer wieder kirchliche Organisationen wie etwa Brot für die Welt. Was treibt Sie dabei an?
Für mich ist die Klimakrise auch eine spirituelle Krise, und die Kirchen und konfessionelle Einrichtungen könnten mehr als bisher Teil der Lösung sein. Denn: Wir haben eine positive Vision zu bieten! Die Abkehr von einem materialistischen Weltbild braucht eine positive Vision. Diese visionäre Kraft im Glauben gilt es wieder freizulegen und spürbar zu machen. Momentan kommen Veränderungsprozesse in die Sackgasse, weil Menschen zuallererst ihren Nachteil, ihren Verlust, ihren „Verzicht“ im Fokus haben. Die Diskussion wird von Katastrophendenken auf der einen Seite und der Angst vor einer „Ökodiktatur“ auf der anderen bestimmt. Wo wir Christen einen echten Dienst tun können: mehr über die Welt zu reden, in der wir leben wollen, eine positive Vision eines gerechten, solidarischen und friedlichen Miteinanders ins Zentrum zu stellen.

Eckart von Hirschhausen ist Arzt, Wissenschaftsjournalist und Gründer der Stiftung „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“, deren Ziel es ist, die Zusammenhänge von Klimawandel, Umwelt und Gesundheit anschaulich zu machen. Neben seinen Aufgaben als Moderator und Autor („Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben“) setzt er sich seit 2018 für eine medizinisch und wissenschaftlich fundierte Klimapolitik ein, unter anderem als Mitglied der „Scientists for Future“.

Thorsten Lichtblau ist Redakteur des evangelischen Entwicklungswerks Brot für die Welt, für das dieses Interview entstanden ist.

Tearfund will den Müllbergen in Pakistan die Stirn bieten. Foto: Tearfund

Pakistan: Innovatives Projekt verwandelt Abfall in Dünger

In den Slums von Karachi sorgen Müllberge für Krankheiten. Das Hilfswerk Tearfund will dem Problem mit einer ungewöhnlichen Idee ein Ende bereiten.

Kommt der leere Pizzakarton in den Papiermüll oder in den Restmüll? Und muss ich meinen Joghurtbecher ausspülen, bevor ich ihn entsorge? Vor diesen Fragen stehen wir hierzulande gelegentlich, seitdem Anfang der 90er-Jahre die Mülltrennung eingeführt wurde. Zehn Anbieter regeln heute Abtransport und Verwertung von Verkaufsverpackungen. Die gesetzlich vorgeschriebenen Recycling-Quoten steigen regelmäßig.

Nicht so in Pakistan. Rubina ist 25 und lebt in einem Slum. Sie arbeitet hart, um genug Geld für sich und ihre drei Kinder zu verdienen. Der neunjährige Javed ist Rubinas ältester Sohn und mit einer Behinderung zur Welt gekommen. Seine Atmung macht ihm Probleme. Obwohl Rubina Mühe hat, die zusätzlichen Rechnungen zu bezahlen, muss sie ihn regelmäßig mit dem Taxi ins Krankenhaus bringen. Einer der Gründe: Müll.

Müllberge vor der Haustür

Da es in ihrem Slum keine Müllabfuhr gibt, sammelt sich der Müll auch vor Rubinas Haustür und verbreitet Krankheiten wie Cholera. Die Müllberge werden regelmäßig verbrannt, wobei giftige Dämpfe freigesetzt werden, die zu Lungenproblemen führen. Rubina macht sich große Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder. Als ihr jüngerer Sohn drei Jahre alt war, hat er sich beim Spielen im Müll schwer verletzt.

Für Menschen, die ohnehin bereits in Armut leben, stellen die Müllberge ein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zu einem Leben in Würde dar. Nach öffentlichen Angaben werden nur 50 bis 60 Prozent der Müllabfälle auf offiziellen Halden gelagert. Moderne Deponietechnik? Fehlanzeige. Und das bei jährlich etwa 20 Millionen Tonnen Haushaltsmüll, der die Straßen Pakistans zur Müllhalde werden lässt. Sondermüll wird selten separat gesammelt, geschweige denn fachgerecht entsorgt. Die Entsorgungswirtschaft steht buchstäblich in den Kinderschuhen: In dem Land, in dem das Durchschnittsalter bei 22,5 Jahren liegt und fast ein Drittel der Bevölkerung in Armut lebt, sammeln in erster Linie Kinder wiederverwertbare Gegenstände wie Glas, Plastikflaschen, Dosen oder Metall, um sie an Schrotthändler oder Firmen weiterzuverkaufen.

Überschwemmungen sind Nährboden für Ungeziefer

Gigantische Mengen an Müll übersäen in Pakistan nicht nur ganze Landschaften, sondern auch Teile des Meeres. Müll wird häufig einfach in den nahegelegenen Fluss geworfen. Von dort aus bahnt er sich seinen Weg ins Meer, blockiert unterwegs Flussmündungen und sorgt somit für Überschwemmungen. Die wiederum sind Nährboden für Fliegen, Mücken und Ratten, durch die sich Krankheitserreger ausbreiten. Was nicht verrottet, landet meist als Plastikmüll im Meer, wo es sich über die Jahre zu Mikroplastik zersetzt und von Fischen und anderen Meeresbewohnern aufgenommen wird.

Was also tun?

Weniger Müll, mehr Jobs

Damit besonders die Menschen in Slums nicht im Müll versinken, wird in Karachi, der zweitgrößten Stadt Pakistans, an einer innovativen Lösung gearbeitet. Das große Ziel: den Müll zu Dünger verwandeln. Das Projekt „Hariyali Hub“ (übersetzt: Grünes Zentrum) ging im Januar an den Start. Neben einem lokalen Partner der Abfallwirtschaft ist auch das Hilfswerk Tearfund beteiligt. „Hariyali Hub“ und seine geplanten Ableger in verschiedenen Städten sollen neben dem Müllproblem auch die Armut bekämpfen. Jedes Zentrum schafft 25 neue Arbeitsplätze für Menschen aus den Slums. Sie sammeln Nass- und Trockenmüll, der anschließend mithilfe von Maschinen verarbeitet und recycelt wird.

Vorläuferprojekte haben gezeigt, dass auf diese Weise 80 bis 90 Prozent der Abfälle recycelt und dabei unter anderem zu fruchtbarem Dünger umgewandelt werden können. Durch seinen Verkauf kann sich ein Projekt nach kürzester Zeit wirtschaftlich selbst tragen. Was nicht wiederverwertet werden kann, wird zu einer regulären Mülldeponie außerhalb der Stadt gebracht. Menschen wie Rubina erhalten auf diese Weise eine Zukunftsperspektive und ihre Kinder eine sauberere und sicherere Umgebung zum Aufwachsen.

Videos zeigen Lösungen auf

Aber ist das auch mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein? Klar ist: Um das riesige Müllproblem in einzelnen Slums und Stadtteilen Pakistans in den Griff zu bekommen, braucht es mehr als kleine, innovative Recyclingzentren allein. Nötig ist ein langfristiges Umdenken vieler Menschen. Es braucht das Bewusstsein, dass Müll und seine Verbrennung Menschenleben bedroht und die Natur zerstört.

Als christliches Hilfswerk setzt Tearfund dabei auf die Zusammenarbeit mit den Kirchen vor Ort. Ehrenamtliche und Pastoren erhalten Fortbildungen zum Müllproblem. Pastor Amir Shahzad hat in seiner St.-Lukas-Kirche in Karachi schon die kleinen animierten Videos gezeigt, die für diesen Zweck probeweise produziert wurden. Er berichtet begeistert von den positiven Reaktionen der Gemeindemitglieder – und möchte diese Erklärvideos nun auch außerhalb des Gottesdienstes verwenden, um noch mehr Menschen aufmerksam zu machen auf das Problem und vor allem auf die Lösungen, zu denen sie durch Mülltrennung und ordnungsgemäße Entsorgung beitragen können.

Jelena Scharnowski ist Theologin und leitet die Kommunikationsabteilung des christlichen Hilfswerks Tearfund Deutschland e. V. (tearfund.de).

"Dafür stehe ich mit meinem Namen." Dieser Satz hat Claus Hipp berühmt gemacht. Zum 83. Geburtstag erzählt der Unternehmer, wie er die Landwirtschaft revolutionierte und was der Glaube für ihn bedeutet.

Claus Hipp im Interview: Das treibt den Kult-Unternehmer an

Claus Hipp war Vorreiter beim Thema Babynahrung. Im Interview erzählt der 83-jährige Unternehmer, wie er die Landwirtschaft revolutionierte und was der Glaube für ihn bedeutet.

Auf dem Weg ins Büro kommt Claus Hipp immer an der Wiege des Unternehmens vorbei: Der Reibstein, in dem sein Großvater 1899 Zwieback für den Brei seiner Zwillinge mahlte, steht im Foyer der Unternehmenszentrale. Umrahmt ist er von einem Kruzifix und großflächigen abstrakten Ölbildern, die Claus Hipp am Feierabend in seinem Forsthaus-Atelier malt. Nach rund 50 Jahren in der Unternehmensleitung hat er den Staffelstab mittlerweile an seine beiden Söhne abgegeben. Seitdem schläft er an manchen Tagen auch mal ein bisschen länger als bis 4:30 Uhr. So richtig zurücklehnen mag er sich trotzdem nicht: „Der Schreibtisch ist voll und die Arbeit geht weiter. Ich komme rein, helfe, wo ich kann, und bin wie ein Austragsbauer“, sagt er und spielt damit auf Landwirte an, die ihren Hof an die nächste Generation überschrieben haben. Hipp lebt immer noch auf dem Bauernhof seiner Familie, um dessen landwirtschaftlichen Betrieb er sich schon als Schüler gekümmert hat.

Bio seit den 1950ern

Herr Prof. Hipp, Sie werden oft als Bio-Pionier bezeichnet. Gefällt Ihnen das?
Ja. Denn dafür habe ich mich sehr engagiert, schon seit den Fünfzigerjahren. Das tue ich auch weiterhin und halte es für sehr wichtig. Die Bio-Bewegung ist nicht von einer Partei ausgegangen, sondern von der Wirtschaft.

Nehmen Sie uns doch mal hinein in das Jahr 1956, in dem Sie den organisch-biologischen Landbau für Ihr Unternehmen vorangetrieben haben.
Es geht sogar noch weiter zurück. Meine Mutter war Schweizerin und hat nach dem Krieg meinen Vater gedrängt, auch in der Schweiz Babynahrung zu verkaufen. Die Schweizer wollten aber kein deutsches Produkt und schon gar keine Babynahrung. Dass die Idee nicht funktioniert hat, hat sich unser damaliger Geschäftsführer so zu Herzen genommen, dass er krank wurde. Sein Arzt, Dr. Bircher-Benner, riet ihm dazu, seine Ernährung umzustellen und morgens mit einem Müesli anzufangen. Da sagte mein Vater: „Wenn es für Sie gut ist, ist es für andere auch gut“. Daraufhin haben wir in Deutschland das erste Müesli entwickelt, das wir dann in der Schweiz verkauft haben.

Weg von den Pestiziden

Das ist ja schon ein bisschen frech.
Durch Zufall sind wir dabei auf Dr. Hans Müller in Großhöchstetten gekommen, den Pionier des ökologischen Landbaus in der Schweiz. Er hat uns mit Getreide und Obst beliefert. Er war viel bei uns, hat mich oft bis spät in die Nacht unterrichtet und mich für biologischen Landbau begeistert. Damals habe ich als Schüler unseren Hof geleitet. Auf seinen Rat hin haben wir unsere Landwirtschaft auf bio umgestellt. Er hat uns auch davon überzeugt, Babynahrung aus Bio-Rohstoffen herzustellen, denn wir wollten in unserer Babynahrung keine Pestizid-Rückstände haben. Unser Schluss war: Wenn sie in der Rohstofferzeugung nicht angewandt werden, ist das die größte Sicherheit dafür, dass sie im Endprodukt nicht drin sind.

Hat Ihnen dieser Weg gleich eingeleuchtet?
Ja. Aber es war natürlich schwierig, weil die Umgebung nicht reif dafür war. Als erste Tätigkeit nach der Schule habe ich Bauern beraten und konnte sie davon überzeugen, biologischen Landbau zu betreiben. Ausschlaggebend war, dass die Gesundheit des ganzen Hofes zunimmt, wenn nicht mit Gift gespritzt wird. „Gesunde Pflanzen, gesundes Tier, gesunde Menschen“ – das hatte Albrecht Thaer schon 1750 gepredigt. Die Bauern wollten natürlich wissen, wie es mit dem Ertrag aussieht. Wir haben ihnen versprochen, Ernteausfälle zu vergüten, wenn sie weniger ernten würden. Dadurch haben dann manche Landwirte damit angefangen. Später wurden es immer mehr.

Nie gezweifelt

Sie haben die Produktion schrittweise auf Bio umgestellt. Gab es auch Momente, in denen Sie dachten: Was ist, wenn es nicht funktioniert oder wenn wir doch falsch liegen?
Nein, denn ich war überzeugt davon, dass es der richtige Weg ist. Und mit der nötigen Konsequenz im Handeln hat es dann auch geklappt.

Woher haben Sie den Mut genommen, es anders zu machen? Noch als Schüler entließen Sie den Verwalter Ihres Hofs, weil er ihn nicht so biologisch führen wollte wie Ihre Familie. Ist dieser Mut angeboren?
Unternehmer müssen immer weiter schauen. Bereit sein, Dinge anders zu machen und bestrebt sein, besser zu sein als die Mitbewerber.

Das hat Sie angetrieben.
Ja. Aber ich war auch überzeugt davon, dass das der richtige Weg ist. Viele Jahre später hatten wir einen harten Wettbewerb mit Nestlé und deren Marke Alete. Mit unserer Umstellung auf Bio haben wir dem Handel gesagt: „Wir bringen etwas Neues, aber wir werden teurer.“ Der Handel hat das eingesehen, mit Ausnahme unseres Hauptkunden. Daraufhin haben wir 20 Prozent unseres Umsatzes von heute auf morgen verloren. Das war eine harte Zeit. Der übrige Handel hat unsere Haltung aber honoriert. Nach zwei Jahren hatten wir dieses Minus wieder aufgeholt.

Natur erholt sich schnell

Der Ehrensberger Hof, auf dem Sie mit Ihrer Familie leben, gilt als Musterbetrieb für Biodiversität. Welche Maßnahmen entwickeln Sie dort und wie profitieren Ihre 8.000 HiPP-Bio-Erzeuger davon?
Auf dem Ehrensberger Hof erforschen wir in Kooperation mit Wissenschaftlern und Naturschutzverbänden Methoden, die sich in der Landwirtschaft positiv auf Bodenfruchtbarkeit und die Artenvielfalt auswirken. Die Ergebnisse geben wir an unsere Bio-Bauern weiter und erhöhen damit die Anzahl besonders biodiversitätsfreundlicher Erzeuger. Gerade führen wir eine mehrjährige Studie durch, bei der wir die Insektenvielfalt auf ökologisch und konventionell bewirtschafteten Flächen untersuchen. Dabei konnten wir auf dem Ehrensberger Hof insgesamt 21 Prozent mehr Insektenarten sowie 60 Prozent mehr Schmetterlingsarten als auf der konventionellen Vergleichsfläche feststellen, darüber hinaus die doppelte Anzahl laut Roter Liste gefährdeter Arten.

Zudem konnten wir nachweisen, dass sich die Natur schnell erholt. Bereits ein Jahr nach der Umsetzung biodiversitätsfördernder Maßnahmen nimmt die Vielfalt auf den bislang konventionell betriebenen Flächen wieder zu. Mit ganz einfachen und pragmatischen Mitteln können wir das Artensterben verhindern. Wir müssen es nur wollen.

Was bedeutet es für Sie, im Einklang mit der Schöpfung zu leben?
Es heißt, ich erkenne an, dass es einen Schöpfer gibt, der über allem steht. Einen Schöpfer, dem wir auch Rechenschaft schuldig sind. Wir müssen alles unterlassen, bei dem wir seine Schöpfung schädigen oder ihr Dinge entnehmen, die unserer Generation gar nicht zustehen.

Fleisch „Die Menge macht’s“

Auf welche Dinge verzichten Sie selbst?
Beim Essen verzichte ich zum Beispiel auf einen zu hohen Fleischkonsum. Grundsätzlich soll jeder Fleisch essen dürfen, aber die Menge macht’s – und entscheidend ist auch die Qualität. Wenn wir sehen, dass die Stadt Wien täglich so viel Brot wegschmeißt wie die Stadt Linz verbraucht, dann stimmt etwas nicht. Seit vielen Jahren bin ich Schirmherr der Münchner Tafel: Dort vermitteln wir an unsere Gäste Lebensmittel, die verzehrfähig sind, aber vielleicht nicht mehr verkehrsfähig. Und da bewegen wir in der Woche Lebensmittel im Wert von über 100.000 Euro.

Wer war Ihnen ein Vorbild im Glauben?
Das waren meine Eltern. In der Familie haben wir gebetet und viel über Glaubensfragen erzählt bekommen. Wir sind in die Kirche gegangen und das war ganz normal.

Arbeit als Gebet

Sie schließen morgens in aller Frühe die Kapelle Herrnrast auf und beten dort. Gleichzeitig sagen Sie, Arbeit ist auch Gebet. Wie meinen Sie das?
Meine Arbeit kann ich als Aufgabe sehen, die mir von oben gestellt wurde. Dann ist es Gebet. Wenn ich aber in erster Linie möglichst viel Geld zusammenraffen möchte, ist es kein Gebet mehr. Ich kann schon schauen, Gewinne zu machen. Aber es kommt dann darauf an, was ich damit anfange und wie sozial ich die Mittel wieder einsetze.

Welche Rolle spielt der Glaube in Ihrem Alltag?
Glauben heißt, etwas für wahr halten, was man nicht sehen oder verstehen kann. Es ist ein Akt des Willens. Wenn ich alles diskutiere und hinterfrage und mir alles logisch erscheint, dann ist es Wissen. Dann bleibt für den Glauben nichts mehr übrig. Wenn ich mich in einem kindlichen Vertrauen fallen lasse, fühle ich mich im Glauben geborgen und aufgehoben. Damit kann ich mehr tun als jemand, der nicht glaubt: Ich kann beten und hoffen, dass es gut wird.

Ja, und trotzdem erleben wir aber auch, dass manches eben nicht so läuft, wie wir beten oder worauf wir hoffen.
Ja, sicher. Die Welt besteht aus Gutem und Bösen. Sie ist so geschaffen und damit müssen wir zurechtkommen. Auch bei Paulus [in der Bibel, Anm. d. Red.] lesen wir, wie er sich selbst als Schwachen und Sünder bezeichnet, der gegen das Böse zu kämpfen hat. Wenn es ein Apostel schon machen muss, dann steht es uns auch zu.

Talente nicht vergraben

Gibt es einen Bibelvers, zu dem Sie einen besonderen Bezug haben?
„Richtet euren Sinn auf das, was oben ist, nicht auf das Irdische!“ aus Kolosser 3,2. Das sagt eigentlich alles. Diesen Vers fand ich schon immer gut. Es hat in meinem Leben Situationen gegeben, in denen ich schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hatte. In denen ich nach Gewissen, nach meinem Wertebewusstsein und meinen Überzeugungen entschieden habe. Und das war richtig.

Was macht Ihrer Meinung nach ein erfülltes Leben aus?
Jeder bekommt Talente und die soll man nicht vergraben. In meinem Leben habe ich mich bemüht, es gut zu machen. Aber ich hätte es auch sicher besser machen können.

Inwiefern hätte man es besser machen können?
Alles lässt sich besser machen. Es ist nicht so, dass ich in irgendeiner Weise stolz bin. Sondern ich bin mir meiner Schwächen bewusst und weiß, dass ich manchmal hätte mehr machen können. Und dass die eigene Trägheit oft davor steht.

Claus Hipp, der Tausendsassa

Es hätte ja gereicht, das Unternehmen zu leiten. Sie sind darüber hinaus Künstler und Kunstprofessor, Georgischer Honorarkonsul für Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen, spielen im Behördenorchester Oboe. Warum diese Vielfalt?
Erstmal wird es mir schnell langweilig. Und vielleicht ist es schon ein Bedürfnis, Bestätigung auch woanders zu suchen. Aber es war richtig, die Firma zu leiten. Mein Vater war auch ein sehr musischer Mensch. Er hat wunderbare Bilder gemalt, aber er hat zu mir gesagt, als wir über Berufe diskutiert haben: „Da hast du ein Unternehmen, aus dem du noch etwas machen kannst. Ob die Welt auf dich als Künstler wartet, kannst du vorher nicht wissen.“ Und da hat er Recht gehabt.

Ihr Vater ist gestorben, als Sie 29 Jahre alt waren. Inwiefern hat Sie das geprägt und welche Rolle spielt die Perspektive auf die Ewigkeit für Sie?
Dass das Leben kurz sein kann, ist ein Gedanke, der uns immer bewegt. Ich bin dankbar dafür, dass mein Leben schon so lange währt, aber es kann schnell vorbei sein. Manchmal diskutiere ich darüber mit meiner Frau. Sie wüsste immer gern, wie alt sie wird. Und ich frage dann: Was würdest du dann anders machen? Dann hat sie irgendwelche Ideen. Ich sage, lebe jeden Tag so, als ob er der letzte ist. Und wenn sich meine Mitmenschen einmal mit Wohlwollen an mich erinnern, bin ich zufrieden.

Interview: Debora Kuder

Das Unternehmen
HiPP wird von mehr als 8.000 Bio-Landwirten beliefert und ist damit einer der weltweit größten Verarbeiter biologisch erzeugter Rohstoffe. An allen HiPP-Standorten in der EU wird klimaneutral produziert, am Stammsitz in Pfaffenhofen und in Österreich bereits seit 2011. Bis 2025 will das Unternehmen klimapositiv werden und über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg mehr Treibhausgase ausgleichen als verursachen.

Die Wohngemeinschaft der Familie Filker. Foto: Privat

Claudia öffnet ihre Wohnung radikal für Fremde – und bereut es nicht

Bei Claudia Filker wohnen jahrelang Geflüchtete in der Wohnung. Jetzt wendet sie sich mit einem Mutmach-Appell an alle, die Platz haben.

„Mama, ihr seid doch wohl verrückt!“. Klarer hätte unser Sohn Lukas sein Unverständnis nicht zum Ausdruck bringen können. Gerade hatte ich ihm am Telefon erzählt, dass wir einen jungen Afghanen als Mitbewohner in unser Haus aufgenommen haben und nun für drei Wochen in die Alpen fahren würden. „Ist das euer Ernst?! Ihr kennt ihn eigentlich gar nicht und dann überlasst ihr ihm einfach euer Haus?! Ich kann euch jetzt schon sagen, wie ihr es bei eurer Rückkehr vorfinden werdet!“ Zugegeben, unser Sohn wusste genau, wovon er sprach. Er leitete damals als Sozialarbeiter eine Wohngruppe für unbegleitete männliche Flüchtlinge. Er machte es mit viel Engagement, meistens großer Begeisterung und freute sich über die vielen Fortschritte der jungen Leute. Nur diese ungeputzten Badezimmer und die unaufgeräumten Küchen gingen ihm gehörig auf die Nerven. Und genau das prophezeite er uns – und vor allem mir mit meiner Vorliebe für eine saubere, aufgeräumte Küche, für geputzte Herde und weggeräumtes Geschirr.

Drei Menschen aus anderen Kulturen zu Gast

Szenenwechsel. Drei Wochen später. Wir betreten nach einem sehr erholsamen Urlaub mit einem etwas mulmigen Gefühl unser Haus. Unsere Wohnküche – top aufgeräumt. Der Tisch ist fein gedeckt und es riecht nach leckerem Essen. Samir, unser neuer Mitbewohner, strahlt zur Begrüßung, so wie auch alle Fenster strahlen, denn die hat er frisch geputzt. Der Rasen ist auch gemäht. Was soll ich sagen? Gut gegangen! Es hätte natürlich auch ganz anders aussehen können …

Zu gern erzähle ich diese verrückteste all unserer „Wir-lassen-Menschen-mit-uns-wohnen“-Storys. Zugegebenermaßen rate ich nicht zu ähnlicher Blauäugigkeit. Aber als sich damals der 23-jährige Samir bei uns vorstellte, hatten wir sofort ein sehr gutes Gefühl. Eigentlich sollte er nach unserer Rückkehr zu uns kommen. Aber wie praktisch: Er konnte sofort aus seiner Flüchtlingsunterkunft ausziehen und wir hatten damit einen Haus-Sitter während unserer Reise. Das war im Jahr 2017. Der Beginn einer langjährigen gemeinsamen Zeit. Ab 2020 wohnte auch noch seine Frau Rohina bei uns. Auf sie hatte er drei Jahre warten müssen, ehe die Familienzusammmenführung möglich war. Beide sind im Frühling 2021 in eine eigene kleine Wohnung gezogen. Das war einfach dran, traurig waren wir trotzdem alle. Seit 2019 wohnt zudem Wossen, ein 44-jähriger äthiopischer Flüchtling bei uns. Richtig mitgezählt? Ja, eine gewisse Zeit lang lebten drei freundliche Menschen aus anderen Kulturen mit uns gemeinsam. Und wir hatten und haben richtig viel Spaß zusammen.

Keine scheinheiligen Argumente

Das jüngste unserer Kinder zog 2013 aus unserer Doppelhaushälfte aus, da waren die anderen schon weg. Drei freie Kinderzimmer? Kein Problem: Erklären wir doch eins zum Nähzimmer. Schade nur, ich nähe nicht und auch die Modelleisenbahn können wir nicht bieten. „Ein Zimmer brauchen wir, wenn unsere Kinder oder andere Gäste sich anmelden“, hören wir es von Bekannten in ähnlichen Lebenssituationen, „und vielleicht kommen mal alle drei mit Anhang, dann braucht man doch drei Zimmer!“

Wir wollten es anders machen und keine Argumente anführen, warum wir „Fremde“ nicht aufnehmen können, obwohl unbestritten „genug Platz in der Herberge“ wäre. Seither fallen uns Mitbewohnerinnen und Mitbewohner irgendwie immer in den Schoß. Mal hängt in der Gemeinde ein Zettel an der Pinnwand, der einen Praktikanten als ersten Mitbewohner zu uns brachte, mal taucht eine Frage in der WhatsApp-Gruppe auf: „Meine Cousine sucht …“ Und dann kam dieser Notruf einer Sozialarbeiterin, die dringend für einige Tage einen Schlafplatz für einen Flüchtling suchte. Daraus wurde dann eine jetzt dreijährige gemeinsame Geschichte. Sogar eine ganz enge. Heute Morgen haben wir Wossens 44. Geburtstag gefeiert. Er vermisst seine Heimat und seinen alten Vater sehr. Wir sind jetzt seine Familie in Deutschland.

Der Bedarf nach Wohnraum ist riesig

Ich finde es schade, wenn sich Paare auf ihren 100, 120, 150 Quadratmetern ausbreiten, wenn die Kinder aus dem Haus sind. In nur zwanzig Jahren hat sich die bewohnte Fläche pro Einwohner in Deutschland von 34,9 auf 47,4 Quadratmeter erhöht. Wohnungsknappheit entsteht auch, weil wenige Personen üppig viele Quadratmeter beanspruchen. Der Bedarf an zu vermietenden Zimmern ist riesengroß.

Das Zusammenleben lässt sich auch erst einmal ausprobieren. Für einige Zeit einen (meist jungen) Menschen als Mitbewohnerin oder Mitbewohner ins Haus oder die Wohnung aufzunehmen, ist schließlich kein Bund fürs Leben. Ein guter Start kann zum Beispiel eine Person sein, die ein vierwöchiges Praktikum in der Stadt machen möchte oder für ein Gastsemester ein Zimmer sucht. In solchen begrenzen Zeiten lassen sich Erfahrungen sammeln. Gerade wohnte für zwei Monate eine Hochschullehrerin aus dem Senegal bei uns, die einen Forschungsauftrag an der Humboldt-Universität hatte. Einfach ein grandioser Mehrwert. Wir haben viel von ihrem Land gelernt, viel gelacht, gut gegessen und rund um den Esstisch gespielt.

Klare Regeln fürs Zusammenleben

Hilfreich ist dabei, klare Regeln festzulegen. Wir sind keine Studierenden-WG, in der man über unterschiedliche Toleranzschwellen von Sauberkeit diskutiert. Klarheit erlebe ich als guten Weg für Konfliktvermeidung. Wichtig ist, gut zu erklären, wo Geräte und Putzmittel zu finden sind und was für den gemeinsamen Gebrauch bestimmt ist und was auch nicht. Natürlich dürfen unsere Mitbewohner beispielsweise alle Gewürze mitbenutzen. Im Kühlschrank wird ein Platz für die persönlichen Lebensmittel freigeräumt.

Wir verstehen uns nicht als Gastgeber. Es wird nicht bewirtet und umsorgt, sondern wir entscheiden, wie viel gemeinsames Leben wir zulassen möchten. Bei uns hat sich das gemeinsame Samstag-Frühstück mit allen eingebürgert. Und in der Lockdown-Zeit, als Sprachkurse online stattfanden, haben wir gemeinsam Mittag gegessen und reihum gekocht. Sonst gibt es am Wochenende oft ein gemeinsames Essen – und jeder ist mit dem Kochen dran. Vereinbart haben wir eine monatliche Miete. In Notfällen fiel sie auch mal aus.

Studierende zahlen mit Mithilfe

Freundinnen von mir haben ihren Wohnraum zur Verfügung gestellt, um sich ihre zu groß gewordene Wohnung noch weiter leisten zu können. So kann das Sinnvolle mit dem eigenen Nutzen verbunden werden. Es gibt vom Studierendenwerk eine wunderbare Initiative, die eine sehr viel größere Verbreitung verdient: „Wohnen für Hilfe“. Hier werden Zimmer gegen Unterstützung im Haushalt vermittelt. Ursprünglich für Seniorinnen und Senioren gedacht, nutzen inzwischen auch Alleinerziehende, Familien, Menschen mit Beeinträchtigungen diesen Service. Die Aufgaben werden individuell ausgehandelt. Es gilt die grobe Faustregel: Eine Arbeitsstunde gegen einen Quadratmeter Wohnfläche. Also für ein 15-Quadratmeter großes Zimmer werden 15 Arbeitsstunden pro Monat geleistet: Einkaufen, gemeinsames Kochen, Gartenarbeit … Pflege und medizinische Tätigkeiten sind ausgenommen.

Ich finde: Es gibt gute Gründe, die Türen zu öffnen und mit Menschen, die nicht zur Familie gehören, gemeinsames Wohnen auszuprobieren. Mein Mann und ich schauen auf acht bunte Jahre zurück und sind gespannt, wer bei uns noch anklingeln wird.

Claudia Filker ist Pfarrerin im Ehrenamt bei der Berliner Stadtmission. Zusammen mit Hanna Schott hat sie die Talk-Box-Reihe entwickelt (talk-box.de).

Der aktuelle Hof der Lebensgemeinschaft. Foto: VieCo

Diese Gruppe hilft psychisch kranken Menschen – mit einem ungewöhnlichen Modell

Sie zogen aus Berlin aufs hessische Land, versprachen sich lebenslange Gemeinschaft und kümmern sich um Menschen in Not. Stefan Kleinknecht hat die Lebensgemeinschaft VieCo besucht.

Es ist Dienstag, kurz vor eins. Mittagszeit. Auf dem großen Hofgelände in der Nähe von Marburg sitzen rund 30 Menschen jeden Alters auf Bierbänken zusammen und lassen sich das Mittagessen schmecken – eine leckere Gemüsesuppe und selbst gebackenes Brot. Zwischen den Bierbänken liegt Spike, einer der Hofhunde, und beobachtet seelenruhig das Geschehen um sich herum. Es wird sich angeregt unterhalten, Kinder lachen. Es herrscht eine fröhliche und entspannte Stimmung. Dass man hier willkommen ist, spüre ich bei meinem Besuch schnell.

Den Hof kennt im Dorf Kernbach jeder. Gut, das ist nicht schwer, bei gerade einmal 200 Einwohnern. Doch der Hof der VieCo Lebensgemeinschaft ist kein gewöhnlicher Bauernhof, wie es viele andere im Dorf gibt. Neben den 13 Erwachsenen und 14 Kindern der Gemeinschaft wohnen hier noch bis zu weitere elf Personen. Sie sind Teil des sozialen Wohnprojektes Kernbach für psychisch kranke Menschen. Sie werden professionell pädagogisch betreut – zum Teil von Leuten der VieCo-Gemeinschaft, zum Teil von weiteren pädagogischen Kräften, die außerhalb wohnen. Vor allem aber sind die elf Menschen einfach Mitbewohnerinnen und Mitbewohner und gehören mit zur Hofgemeinschaft.

Visionäre lernen sich auf Hochzeit kennen

Begonnen hat alles vor über 15 Jahren auf einer Hochzeit in Marburg. Die beiden Paare Paco und Tschul sowie Andi und Mareike sind gerade neu nach Berlin gezogen – lernen sich jedoch nicht dort, sondern auf einer Hochzeit gemeinsamer Freunde in Marburg kennen. „Wir fanden uns gleich sympathisch und haben uns anschließend in Berlin mehrmals getroffen – und dann schnell kennen und lieben gelernt“, erzählt Mareike. Sie ziehen als WG in Berlin zusammen, erste Kinder werden geboren. Sie merken, dass beide Familien ein Wunsch, eine Vision verbindet: Leben, Glauben und Gemeinschaft zu teilen und dabei immer eine offene Tür für Menschen in Not zu haben. Länger suchen sie nach dem passenden Ort. Über einen alten Schulkollegen landen sie schließlich 2012 im hessischen Kernbach. Der ehemalige Schweinestall war schon vor vielen Jahren zu Wohnungen ausgebaut worden, sodass die beiden Familien im mittleren Wohnhaus eines Dreiseitenhofes einziehen können.

Anfängliche Skepsis auf dem Land

„Braucht ihr frische Kartoffeln? Wir haben noch viele übrig“, fragt ein Gast am Nebentisch und streichelt Spike. Er ist heute zu Besuch, um die Gemeinschaft und das Wohnprojekt kennenzulernen und um seine Unterstützung anzubieten. Paco erzählt uns von den ersten Jahren in der Dorfgemeinschaft: „Anfangs war es nicht so leicht. Da kommen Leute aus der Großstadt ins Dorf, mieten einen Hof, leben dort als Gemeinschaft. Dazu kommen noch Menschen in seelischer Not.“ Für Landwirte aus traditionsreichen Höfen erst einmal ungewohnt. Doch die meisten Kernbacher ließen relativ schnell ihre Bedenken hinter sich, erinnert sich Tschul: „Wir haben gleich gezeigt: Wir haben nichts zu verbergen. Wir haben ein großes Hoffest gefeiert, Aktionen mit dem Dorf veranstaltet und immer wieder Gäste und Nachbarn zu unseren HofCafés eingeladen. Wir lebten von Anfang an eine große Willkommenskultur.“ Paco lacht und ergänzt: „Wir kamen von der Stadt aufs Land und hatten kaum einen Plan von Landwirtschaft und Tieren. Viele Kernbacher und Kernbacherinnen waren uns echt eine große Hilfe.“

Nach fast zehn Jahren ist nicht nur das landwirtschaftliche Wissen stark gewachsen – auch die VieCo-Lebensgemeinschaft an sich. Doro und Henning haben sich verbindlich angeschlossen und auch Steffi und Thorsten mit vier und Antje und Simon mit zwei Kindern gehören zur Gemeinschaft. Eva wohnt zudem seit 2020 als Gast in einem kleinen „Backhäuschen“ direkt gegenüber des Hofes. Doro und Matthias befinden sich mit ihren beiden Kindern noch im Besucherstatus und leben im Nachbardorf. Sie lernen VieCo und das Projekt Kernbach ganz intensiv vor Ort kennen und prüfen für sich, ob sie sich eine lebenslange Verbindung vorstellen können und sich einreihen wollen in den Schulterschluss der Gemeinschaft.

Lebenslang, wie bei einer Hochzeit

Die Entscheidung, ein Leben lang zusammenzubleiben, empfinden die VieCos als Geschenk. Paco beschreibt es als vergleichbar mit einer Hochzeit: „Da verspreche ich, ein Leben lang mit einer Person mein Leben zu teilen, aber gleichzeitig ist es ganz schwer, das Gefühl dieser besonderen Verbindung zu beschreiben. Genauso ist es auch bei unserer Gemeinschaft. Es ist ein Lebensmodell, sich freiwillig für eine lebenslange Gemeinschaft zu versprechen.“

Eine solche Entscheidung erfordere bestimmt Mut, frage ich nach. Ich fand schon den Schritt in die Ehe gewaltig … Mareike lächelt: „Bei mir war es definitiv eher Überzeugung als Mut. Denn ich würde mich nicht gerade als mutigen Menschen beschreiben. Ja, es war vor allem die Überzeugung, das Vertrauen: Wir stehen zusammen, egal, was kommt im Leben.“ Tschul nickt bestätigend: „Wenn wir andere in unser Leben lassen, dann profitieren wir alle so viel voneinander, können lernen und wachsen. Und klar, es ist nicht immer nur schön und einfach. Aber trotzdem ist es für mich und uns zu einer festen Überzeugung geworden, dass es die allerbeste Lebensweise ist, die zu uns passt.“

Paco erinnert sich: „Alles hinter sich zu lassen, von der Großstadt aufs Dorf ziehen, um dich herum überall nur Natur – schon ein ordentlicher Schritt! Aber sobald wir uns als VieCo diese lebenslange Gemeinschaft versprochen hatten, war auch klar: Hey, das ist fix, die Entscheidung getroffen. Wir stehen gemeinsam für ein größeres Ganzes. Wir möchten den Menschen in unserem Umfeld dienen und das geht gemeinsam deutlich einfacher als allein. Natürlich sind wir keine Sekte, alles ist freiwillig. Dieser Schulterschluss gibt uns viel Kraft: Wir sind eins, gehören zusammen. Da ruckelt so leicht nichts dran.“ Paco strahlt bei den Worten und es ist allen anzumerken, wie viel Sicherheit die Gemeinschaft gibt.

Der Garten hilft bei psychischen Krisen

Das Mittagessen ist beendet. Ein Teil der Hofgemeinschaft macht sich an den Abwasch. Wir schauen uns das Gelände an. Paco, Tschul und Mareike zeigen uns die „Rote Rübe“, den Garten auf der anderen Seite der Straße. Hier bauen sie zusammen mit den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern Obst und Gemüse an. Das wird in der Hofgemeinschaft aufgeteilt oder für die wöchentlich stattfindenden Mittagessen am Dienstag verwendet. „Es tut den Menschen in psychischen Krisen meist richtig gut, sich um etwas zu kümmern, wie hier zum Beispiel um den Garten“, berichtet Paco, der theologisch wie auch pädagogisch ausgebildet ist und wie Mareike, Andi und Tschul eine Anstellung im Wohnprojekt Kernbach hat. Alle anderen aus der Lebensgemeinschaft arbeiten ehrenamtlich im Projekt mit. Träger des ambulanten Wohnprojektes ist der St. Elisabeth-Verein e. V. Marburg, der zur evangelischen Diakonie gehört.

Auf dem Weg über den Hof kommen wir an den Tieren vorbei, an Hühnern, Hasen, Schafen und Ziegen. Mareike erzählt, das Ziel ihrer pädagogischen Arbeit sei immer, dass die Menschen in ihrer seelischen Not erst einmal auf dem Hof zur Ruhe kommen können und möglichst stabil werden. Bei einem großen Teil gelinge das auch. „Wir sehen unsere Arbeit so: Wir bestimmen nicht, sondern wir ermöglichen“, erklärt Paco. „Wir fragen die Leute, was sie brauchen, was ihr Ziel ist. Und dann unterstützen wir sie, so gut es nur irgendwie geht, auf ihrem Weg dahin.“ Tschul weiß, dass die Mitwohnenden auch andere Erfahrungen gemacht haben: „Vorher wurden viele nicht gefragt, was sie denn selbst wollen. Hier sollen sie erfahren: Ich darf mitreden, ein Teil der Gemeinschaft sein. Ich kann etwas. Andere sehen mich, schätzen mich und unterstützen mich. Das ist so viel wert. Nur so ist das Ziel, eines Tages wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen, überhaupt möglich.“

Es ist nicht alles Bullerbü

Wir laufen nun durch das Dorf. Sie wollen mir noch etwas zeigen. Einen großen Schritt, den sie als VieCo Lebensgemeinschaft gegangen seien. Ich bin gespannt, was das wohl sein wird. Mich erinnert die ländliche Idylle hier jedenfalls ein wenig an Bullerbü. Alle lachen. „Ja, im ersten Moment sieht es vielleicht danach aus“, sagt Paco, „doch die Gemeinschaft bedeutet jede Menge Arbeit – sowohl praktisch als auch inhaltlich.“

Mareike nickt: „Und wenn man Leben teilt, dann geht man sich auch mal auf die Nerven, reibt sich aneinander. Da bedeutet es, immer wieder Kompromisse zu finden. Zu schauen, dass niemand auf der Strecke bleibt.“ Tschul ergänzt: „Auch die richtige Balance ist ein Dauerthema. Balance zwischen Job und Ehrenamt, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Gemeinschaft und Zeit für sich selbst, für die Familie.“ Für Paco hat das Leben hier auch viel mit persönlicher Entwicklung zu tun: „Wir sehen uns als Lernende. Und Jesus als unseren Lehrer. Wir wollen immer besser im Umgang miteinander werden, wollen Konflikte ansprechen und Lösungen suchen. Wir wollen uns die Füße waschen, nicht die Köpfe.“

Ein neues Projekt entsteht – vor allem durch Spendengelder

„Da sind wir!“, sagt Tschul, als wir auf einem weiteren Hof angekommen sind. „Das ist unser nächster großer Meilenstein!“ Auf rund 2500 Quadratmetern Fläche stehen hier neben einem Wohnhaus zwei aneinander gebaute alte Scheunen. Dachziegel fehlen, ganze Wandteile sind eingestürzt. „Erst vor ein paar Tagen haben wir den Hof hier gekauft“, sagt Tschul mit leuchtenden Augen, „aber wie du siehst: es gibt noch unglaublich viel zu tun! Wir sind noch ganz am Anfang.“ Sie erzählen, dass sie schon lange zu wenig Räumlichkeiten haben, immerzu am Limit sind. Vor allem im Winter bekämen sie nicht einmal mehr die ganze Hofgemeinschaft in einem Raum unter, wie etwa dienstags zum gemeinsamen Mittagessen. Paco sprüht nur so vor Ideen: „Hier soll etwas ganz Tolles entstehen: Ein schöner, großer Aufenthaltsraum. Viele Räume für Gäste. Für Menschen mit Hilfebedarf. Ein schönes Café wäre noch ein Traum, eine große Küche und vielleicht auch eine Werkstatt. Auf jeden Fall viel Raum für Begegnungen.“

Auf dem Rückweg erzählen sie, dass sie lange gesucht und lange überlegt und gebetet hätten, ob der Kauf der richtige Schritt sei. Jetzt seien aber alle richtig froh, den mutigen Schritt gegangen zu sein. Für die insgesamt 2,5 Millionen Euro Investitionskosten werden sie hauptsächlich auf Spenden angewiesen sein. „Alleine würden wir den großen Betrag nicht stemmen können“, sagt Mareike, „aber wir sind voller Vertrauen: Es wird Menschen geben, die uns durch Spenden unterstützen werden. Die uns helfen, dass wir weiterhin unsere Türen für Menschen öffnen dürfen.“ Schon jetzt haben sie einen großen Freundeskreis, den sie regelmäßig mit Newslettern in ihre Geschichte und ihre Ideen hineinnehmen.

Gemeinsame Kindererziehung

Zurück auf dem Hof setzen wir uns in den Raum der Stille. Antje kommt mit ihrer kleinen Tochter Maartje hinzu, die noch etwas wackelig auf den Füßen unterwegs ist: „Es gibt den Spruch, dass man ein ganzes Dorf brauche, um ein Kind zu erziehen – das erlebe ich hier täglich“, erzählt Antje. „Unsere Kinder wachsen in der Gemeinschaft auf, haben immer viele unterschiedliche Kinder und Erwachsene um sich herum. Sie lernen das soziale Miteinander von klein auf.“ Schließlich lassen mich die VieCos noch teilhaben an der Liturgie, die sie als Gemeinschaft durch die wöchentlichen Treffen führt. Besonders hängen bleibt mir ein jüdisches Gemeinschaftsgebet. Es beschreibt sehr schön den Wert der Gemeinschaft, der hier auf dem Hof bei allen Begegnungen deutlich zu spüren ist. Wir stellen uns in den Kreis, halten die Hände und sprechen uns einen Segen zu. Und da ist sie wieder zum Greifen nah: die Kraft der Gemeinschaft, der Verbundenheit und des gemeinsamen Glaubens.

Stefan Kleinknecht ist Redakteur bei der Stiftung Marburger Medien und wohnt mit seiner Familie in Mittelhessen. Die Lebensgemeinschaft ist zu finden unter vieco.org

Der Bus in Aktion, Foto: Julia Schwendner // juliaschwendner.com

Gründer kommt selbst von der Straße: In Hamburg tourt der Duschbus für Obdachlose

Im Hamburger Duschbus GoBanyo können Obdachlose ihrer Körperpflege nachkommen. Gründer Dominik Bloh weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig das ist.

Waschen ist ein menschliches Grundbedürfnis, doch nicht alle haben die Chance dazu. In Hamburg schafft „GoBanyo“ seit zwei Jahren Abhilfe: Der Duschbus mit drei vollausgestatteten Badezimmern – eines davon barrierefrei – tourt immer von Mittwoch bis Montag durch die Großstadt und bietet jeweils zwischen 9 und 15 Uhr Duschen im Halbstundentakt an. Ein Team aus vier Hauptamtlichen und über 100 ehrenamtlich Mitarbeitenden koordiniert das mobile Badezimmer. Seit der Gründung von GoBanyo im Dezember 2019 konnten bereits 12.000 Duschen angeboten werden. Zudem bekommen die Gäste Hygieneprodukte und Handtücher, manchmal ergänzen Friseure, Ärztinnen oder eine Kleiderausgabe das Angebot.

Gründer Dominik kennt die Problematik

Mittels leicht verständlicher Flyer und Plakate, vor allem jedoch über Mund-zu-Mund-Propaganda werden Menschen auf die Standorte des Busses aufmerksam gemacht. „Einen Ort, wo ein Mensch sich wohlfühlt, wo er noch Mensch sein darf – den teilt man gerne!“, erzählt mir GoBanyo-Gründer Dominik Bloh. Aus eigener Erfahrung weiß er, wie groß die Scham ist, wenn man ungewaschen unter Leute gehen muss: Er lebte selbst zehn Jahre auf der Straße. Ihm ist es auch wichtig, das Thema Obdachlosigkeit mal aus einer anderen Perspektive in die Öffentlichkeit zu rücken. Aus diesem Grund kommt der Duschbus in knallig bunten Farben daher statt in tristem Grau, das man vielleicht sonst mit dem Thema Obdachlosigkeit in Verbindung bringt.

Duschen dank Spenden

Beim Crowdfunding der gemeinnützigen GmbH 2019 konnten innerhalb von vier Wochen 168.000 Euro gesammelt werden. Den Bus selbst gab’s vom Verkehrsunternehmen „Hamburger Hochbahn“ geschenkt, ausgebaut wurde er mit Mitteln aus dem Funding. 3.000 Einzelspenderinnen haben dies ermöglicht. „Eine Idee entsteht vielleicht im Kopf eines Einzelnen, doch eine gute Sache wird es erst, wenn viele Menschen daran mitarbeiten“, sagt Dominik Bloh. „Nichts ist wichtiger als ein gutes Team.“ Inzwischen gibt es zusätzlich zum Bus noch ein fest installiertes Duschdorf mitten im Kiez auf St. Pauli. Darüber hinaus berät „GoBanyo“ Städte von Berlin bis Kapstadt bei der Einrichtung von eigenen Duschbussen. „Wir wollen auf keinen Fall systemerhaltend arbeiten“, betont Bloh. „Die Abschaffung der Obdachlosigkeit ist das oberste Ziel. Housing first!“

Text: Catharina Bihr

Der Co-Working-Space "Kairos13", Foto: Kairos13 / Evangelische Kirche in Karlsruhe

Kirchen eröffnen Co-Working-Spaces: Wie passt das zusammen?

Immer öfter erproben Kirchen, wie sie New Work anbieten können. Was wie ein Widerspruch klingt, ist eigentlich keiner.

Zwischen Shishabar und Parkhaus, keine fünf Minuten zu Fuß vom Karlsruher Schloss entfernt, liegt das Kairos13. Die Evangelische Kirche hat hier 2020 einen Social Co-Working-Space eröffnet für Menschen, die in einem Start-Up oder freischaffend an nachhaltigen und sozialen Themen oder Projekten arbeiten.

Große Teppiche liegen auf dem Betonfußboden des hellen Arbeitsraums, der mit viel Holz und Schwarz eingerichtet ist. Neben Schreibtischen dürfen Wohnzimmerecke und Kaffeebar nicht fehlen, denn Vernetzung ist ein wichtiges Anliegen. Aus der reduzierten Überhangsfläche eines Gemeindehauses soll ein Innovationscampus werden, der zwei Ziele verfolgt: sozialnachhaltiges Engagement fördern und einen kirchlichen Ort schaffen für Menschen, die sonst kaum oder keine Kontaktflächen zu Kirche haben. „Das geschieht sehr niederschwellig und ganz automatisch darüber, dass Co-Working unter dem Dach von Kirche stattfindet und ich als kirchlicher Mitarbeiter vor Ort und selbst Teil der Community bin“, erklärt der Leiter Daniel Paulus.

New Work passt zur Kirche

Die sich rasant verändernde Arbeitswelt, die immer globaler, digitaler und mobiler wird, wird gern mit dem Stichwort „New Work“ beschrieben. Das Konzept entwickelte in den 1970er-Jahren der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann. Er beschrieb die konventionelle Arbeit damals als eine Krankheit, die man aushalte bis zur Rente, und er prognostizierte stattdessen für die Zukunft eine positive Entwicklung: gemischte Teams statt homogener Abteilungen, Projektarbeit, Innovation statt Tradition und Kontrolle. Sein menschenfreundliches Zukunftsbild aus Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft passt gut zur biblischen Ethik.

Zu den wichtigen Formen neuer Arbeit zählt das Co-Working: Menschen, die ihren Arbeitsort frei wählen können, etwa Freelancer oder Gründerinnen, bilden eine Bürogemeinschaft und nutzen das Inventar gemeinsam. Als in der Pandemiezeit klar wurde, dass Arbeiten auch außerhalb des betrieblichen Büros gut funktionieren kann, erhöhte sich auch die Zahl derjenigen, für die ein solcher öffentlicher Arbeitsort infrage kommt.

Work-Life-Balance ist Hauptargument

Zu Beginn vor allem in wenigen Metropolen bekannt, breitet sich das Konzept nun weltweit aus. Rund 18.700 Co-Working Spaces nennt Statista für 2018. Etwa 1,65 Millionen Menschen haben sie genutzt.

Danach befragt, welche Vorteile sich Arbeitnehmende von neuen Arbeitsplatzkonzepten erhofften, stand die bessere Work-Life-Balance ganz oben. Es zeigte sich: Viele Menschen lieben ihre Freiheit und würden gern zeitlich und örtlich ungebundener, selbstbestimmter und vernetzter arbeiten.

Laut einer Umfrage des Online-Magazins Deskmag schätzen Menschen am Co-Working-Space vor allem die angenehme Arbeitsatmosphäre (59 %), die Kommunikation mit anderen (56 %) und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein (55 %).

Der Grad der Verbindlichkeit allerdings ist sehr unterschiedlich. Während manche Anbieter sich schlicht als Schreibtischvermieter verstehen, entsteht anderswo eine enge Gemeinschaft mit hoher Verbindlichkeit und gemeinsamen Werten und Anliegen. Dort entstehen Synergieeffekte, die häufig zu neuen Projekten führen.

Co-Working existierte bereits in Klöstern

Soziologen ordnen Co-Working-Spaces wie Cafés, Bibliotheken oder Kirchen den „dritten Orten“ zu, als wichtige Lebensmittelpunkte neben dem eigenen Zuhause und dem klassischen Arbeitsplatz im Betrieb. Auch Kirchen haben mittlerweile verschiedene Co-Working-Konzepte entwickelt. Die Theologin und Innovationsforscherin Maria Herrmann wirbt dafür, sich bewusst zu werden, dass Co-Working einerseits etwa in den Klöstern eine lange kirchliche Tradition hat und andererseits auch große Chancen bietet für die Zukunft.

Klöster mögen in der allgemeinen Wahrnehmung nicht mehr als Orte der Innovation präsent sein. Doch lange Zeit waren sie die Räume, in denen nicht allein für Einzelne, für eine Institution oder aus rein wirtschaftlichem Interesse geforscht und gearbeitet wurde. Auch Gemeinschaft und Ästhetik spielten wichtige Rollen. Genau das kann heute auch Co-Working-Spaces von anderen Kontexten der Arbeit unterscheiden: die Entdeckung und Erfahrung, dass es sowohl für ein gutes Arbeitsleben als auch für das Neue Verbündete und eine angemessene Atmosphäre braucht. Dass man nicht alleine an Innovationen arbeiten kann. Dass verschiedene Perspektiven, Fähigkeiten und Ressourcen notwendig sind. Dass Schönheit und Ästhetik Einfluss haben.

Alter Gemäuer, neuer Geist

Warum aber sollen sich Kirchen und Gemeinden mit dem Thema Co-Working-Space beschäftigen? Hansjörg Kopp, Generalsekretär des CVJM Deutschland, nennt dazu Folgendes: „Kirche hat den Auftrag, nah bei den Menschen zu sein. Und damit auch mitten in einer agilen Gesellschaft mit zunehmend mobilem Arbeitsverhalten. Wie wunderbar, wenn der Schatz unserer alten Gemäuer Neuland und Freiraum bietet.“

Mittlerweile haben etliche Gründer und Gründerinnen auch mit kirchlichem Hintergrund oder aus ihrem Glauben als Motivation Projekte rund um das Co-Working entwickelt. Für sie und ihre Generation ist das Thema New Work und im Speziellen das Arbeiten und Leben in den Co-Working-Spaces eine angemessene Form von Gemeinschaftserleben. Letztlich sehnt sich jeder Mensch nach einem Kreis von Verbündeten, einer tragenden Verbindung. Vor allem in einer Zeit, in der die Familienverbände kleiner werden und oftmals nicht durch Nähe verbunden sind. Um dieses Community-Building geht es den Pionieren und Pionierinnen in diesem Bereich.

„Hirschengraben“ in Luzern: Innovation in konservativer Stadt

Der Architekt Sandro Schmid nennt seinen „Hirschengraben“ ein „Kollektiv von Weltveränderern, ein Sparringspartner für deine Träume und ein Spielplatz für Unternehmen“. Zum Start hat er seine Mitstreiter gefragt: „Was hat Luzern davon, dass es euch gibt?“ Seine Frage zeigte Wirkung: Bislang haben die 35 Mitglieder 21 Projekte und Start-ups gegründet: Von der Wäscherei über Wertefinder bis zur Business-Community ist die Spanne groß. In einer Stadt, die eher konservativ geprägt ist, tragen sie zu einer Reformation der Arbeit bei. Sandro Schmid bringt dabei gern auch seinen christlichen Glauben ins Spiel: „Mein Vertrauen auf Gott gibt Menschen etwas. Gott hat mich versorgt, mich Geschichten erleben lassen, die mir als ein Wunder entgegenkommen.“

Gründergeist in Frankfurt: Villa in der Innenstadt

Als die Idee der Villa Gründergeist vor vier Jahren entstand, kämpfte das Bistum Limburg nicht nur mit den Folgen des schleppenden Umgangs mit den Missbrauchsskandalen, Relevanzverlusten und einem prognostizierten Einbruch der Kirchensteuereinnahmen. Man zweifelte auch an der eigenen Berufung. Das Bistum steckte nach dem durch den Papst angenommenen Rücktritt von Bischof Franz-Peter Tebartz von Elst in einer Leitungskrise. Nicht der beste Nährboden für gemeinsam getragene pastorale Ziele oder gar für kirchliche Innovationen. Oder vielleicht gerade doch?

Im Dezernat Kinder, Jugend und Familie wurde überlegt, was mit einer rund 100 Jahre alten Villa mit rund 600 Quadratmetern Fläche mitten in der Frankfurter Innenstadt passieren könnte. In einem kleinen Projektteam über verschiedene Hierarchieebenen hinweg entstand die Idee einer Plattform für Zukunftsfragen. Nicht die kirchlichen Mitarbeitenden sollten das Haus allein von sich aus mit Leben füllen, sondern Pioniere und Macherinnen aus möglichst vielen Bereichen. So entwickelten sich mit Gründer David Schulke mutige Ziele: die Welt täglich besser machen durch die Förderung von Social Entrepreneurship und Sozialinnovation. Die Learnings aus dieser Reise nutzbar machen für Menschen, die Kirche neu gründen und Glauben anders leben wollen – im Umfeld einer sinnstiftenden und durch das Villa-Team gut begleiteten Community.

Kaffeebar „Effinger“ wird zum Modell für andere

Der Bildungscoach und Entrepreneur Marco Jakob hat 2015 in Bern den Co-Working-Space mit Kaffeebar „Effinger“ mitgegründet, der ein Modell für viele andere geworden ist. Er sieht kirchlich orientiertes Co-Working allerdings auch kritisch. Die Kirche einfach zu einem Co-Working-Space umzubauen und zu meinen, dann kämen die Leute schon von selbst, sei ein fataler Irrtum. Wer beruflich die Möglichkeit dazu hat, den ermutigt er vielmehr dazu, einen bestehenden Co-Working-Space in der eigenen Umgebung aufzusuchen und selbst regelmäßiger Co-Worker zu werden, zuzuhören, wahrzunehmen, was Leute bewegt und ihre Träume und Projekte kennenzulernen.

Wer Herausforderungen wahrnimmt, kann überlegen, wie er mit den eigenen Fähigkeiten, Netzwerken und Ressourcen etwas zur Lösung beitragen kann. „Rechne mit Gottes Hilfe. Und wenn dein Beitrag mehr als zehn Prozent deiner Zeit beansprucht, so mache dich selbstständig und verlange einen angemessenen Preis für das, was du tust“, rät der Christ. „Falls es etwas ist, das die anderen nicht direkt bezahlen können, so suche mit ihnen nach einem Weg, wie es finanziert werden kann. So ist das, was du tust, wirksam, authentisch und nachhaltig.“

Byro Aarau: Mehr als Cappuccino-Beziehungen

Gründungen, die ein inhaltliches Ziel verfolgen und durch Projekte und Veranstaltungen auch positiv in ihre lokale Umgebung hineinwirken oder global etwas bewegen wollen, sind meist vom Gedanken einer engeren Community getragen, der man sich verbindlicher anschließt.

Daniel Hediger, Co-Gründer vom „Byro Aarau“ stellt fest, dass das nicht immer einfach ist und spricht von Beziehungsfähigkeit, die jemand mitbringen muss. „Das sind nicht nur lustige Cappuccino-Beziehungen. Community geht nur dann, wenn du bereit bist, dich auf Beziehungen einzulassen.“ Verbindliche Beziehungen müssten da wachsen und der Wille zur Veränderung vorhanden sein. „Hier beginnt die schwer quantifizierbare Wirkung eines Co-Working-Spaces.“ Es gelte, Vertrauenskultur aufzubauen auf und der Versuchung zu widerstehen, in alte, hierarchische Strukturen zurückzufallen.

Bei all diesen faszinierenden Projekten wird deutlich, dass es kein Grundmuster für den Start, den Aufbau und den Betrieb eines Co-Working-Spaces gibt. Sowohl bei der Ausrichtung auf die jeweilige Zielgruppe als auch in Bezug auf Kirchennähe gibt es verschiedene Ansätze. Es wird noch viel experimentiert werden – und den Königsweg vielleicht nie geben. Die Tendenz ist aber klar: Für viele Menschen und Milieus sind die klassischen Kirchen nicht attraktiv. Sie sehnen sich zutiefst nach Gemeinschaft, aber ohne Gemeindeordnung. Nach sinngebenden Angeboten, aber ohne Gottesdienstliturgie. Arbeit und Freizeit werden nicht mehr scharf getrennt. Und in diese Sehnsucht hinein lohnt es sich, Angebote zu setzen.

Jürgen Jakob Kehrer ist Referent der Evangelischen Landeskirche Württemberg und freiberuflicher Organisationsentwickler. Dorothea Gebauer betreibt ein eigenes Co-Working-Space, hat mehrere Gründungen begleitet und arbeitet im Bereich innovativer Bildung, PR und Fundraising.
In diesen Wochen erscheint ihr gemeinsames Buch: „Co-Working: aufbrechen, anpacken, anders leben – Herausforderung und Chance für Gemeinden und Organisationen“ (Vandenhoek und Ruprecht).

Hannah Brencher, Foto: Taylor Zorzi / Zorzi Creative

Hunderttausende handgeschriebene Mutmacher: Das ist die Geschichte hinter dem Brief-Wunder

Hannah Brencher zieht für ihren vermeintlichen Traumjob nach New York, aber die Einsamkeit der Großstadt erschlägt sie fast. Dann fängt sie an, Briefe zu schreiben …

Hannah wächst mit einer Mutter auf, die nicht mit dem Trend geht, wenn es um virtuelle Kommunikation geht. Ihre Mutter liebt das Briefeschreiben. Und als Hannah nach dem Studium ins große New York City zieht, ertappt sie sich oft dabei, wie sie hoffend am Briefkasten steht. Gibt es heute Post von daheim?

Sie durchlebt eine harte Zeit, ist überwältigt von der Großstadt-Mentalität, wird depressiv. Als sich eines Tages in der U-Bahn eine Frau ihr gegenübersetzt, hat sie den Drang, ihren Block herauszuholen und ihr einen Brief zu schreiben. Doch als sie wieder hochblickt, ist die Frau bereits ausgestiegen. Und Hannah ist überrascht: Zum ersten Mal seit langem fühlt sie sich nicht mehr einsam und traurig. Sie beschließt, weiterhin zu schreiben, weil es ihr selbst guttut. Sie schreibt Briefe an Fremde und versteckt sie in ganz New York City: in der Umkleidekabine, in der Metro, in Cafés – und erzählt davon auf ihrem Blog.

Wer will, bekommt einen Brief

Brief für Brief beginnt sie, endlich wieder Licht zu sehen. Sie wird beschenkt mit einem Sinn fürs eigene Leben, indem sie etwas von sich hergibt. Und sie begegnet auch Gott dadurch, dass sie seine Liebe zu den Menschen zu Papier bringt. Liebe, die nichts fordert, sondern dazu da ist, verschenkt zu werden.

Als sie auf ihrem Blog anbietet, jedem, der es braucht, einen Brief zu schreiben, wird sie überraschend überhäuft mit Anfragen. In den folgenden Wochen schreibt sie 400 Briefe. Mehr, als ihr Spaß gemacht hätten. Aber sie will ihr Versprechen halten. Das soll es dann aber auch gewesen sein. Doch ihre Familie und Freunde widersprechen: Was sie da angefangen habe, sei dringend nötig!

Alle können mitmachen

Schließlich willigt sie ein und startet das Projekt More Love Letters. Jeder weltweit kann mitmachen, der daheim ein Blatt Papier und einen Stift hat. Aus vielen über die Webseite eingereichten Vorschlägen werden jeden Monat fünf bis sechs Personen ausgesucht, die einen Stapel liebevoller Briefe bekommen sollen. Ein Monat lang ist Zeit zu schreiben, freiwillige Helfer und Helferinnen sichten und sortieren die Post und schließlich bekommen die Personen ihre Päckchen voller Ermutigungen zugeschickt. Mehrere Hunderttausend Briefe sind es inzwischen, die Hannah Brenchers Engagement initiiert hat. Am Ende war es der Entschluss, nicht in der eigenen Einsamkeit zu verharren, sondern andere zu ermutigen.

Constanze Bohg ist Autorin des Buches „Viereinhalb Wochen“ (Pattloch).

Wer bei More Love Letters mitmachen will, findet hier alle Infos (auf Englisch) unter moreloveletters.com. Auf YouTube ist außerdem ein berührender TED-Talk von Hannah Brencher zu sehen.