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Im digitalen Jenseits. Symbolbild: Getty Images / pixelfit / Getty Images / E+

„Ich will mehr Zeit für anderes.“ – Wie wir zu einer digitalen Balance finden

Die Sozialen Medien sind überall und lenken unseren Blick oft weg von der Realität um uns herum. Warum das ein echtes gesellschaftliches Problem ist und wie wir damit umgehen können, erklärt die Autorin und Psychologin Anna Miller.

In ihrem Buch „Verbunden“ (Ullstein Taschenbuch) zeigt Anna Miller, welchen Preis wir für unsere digitale Abhängigkeit bezahlen und gibt Anregungen, wie wir im digitalen Zeitalter wieder mehr Raum für Nähe, Natur und echte Verbundenheit finden. Denn weniger Zeit am Handy ist für sie essenziell, um den Reichtum des realen Lebens zu entdecken.

Suchtmittel Dopamin

Was war für Sie der Auslöser, Ihr Verhältnis zu Social Media kritisch zu hinterfragen?
Ich habe bei mir selbst und auch bei meinen Freunden festgestellt, dass das Digitale so einen unglaublich großen Sog auf uns ausübt, dass es uns richtig wegbeamt. Bei mir hat das dazu geführt, dass ich in vielen Momenten des realen Lebens nicht mehr wirklich präsent war.

Woher kommt unser Drang, ständig die Nachrichten auf dem Smartphone zu checken?
Diese ganzen Plattformen funktionieren ja so, dass über ein Like Dopamin in unserem Gehirn freigesetzt wird – und zwar in einer viel stärkeren Intensität, als es das reale Leben bereithält. Da erleben wir das in sehr intensiven Momenten natürlich auch – wenn wir z. B. Sex haben oder Achterbahn fahren. Aber mit dem Smartphone haben wir uns – wie es die Suchtmedizinerin Anna Lemke in ihrem Buch „Die Dopamin-Nation“ sagt – eine moderne Injektionsnadel ins Haus geholt, die uns 24/7 zur Verfügung steht. Wenn wir uns dadurch immer den Kick holen können, auch wenn der ganz kurz ist, führt es dazu, dass wir immer höhere Mengen davon brauchen.

Was ist das Gefährliche daran?
Situationen, die weniger Dopamin ausschütten – wie z. B. spazieren gehen, lesen oder mit Oma ein Gesellschaftsspiel zu spielen – werden dagegen farbloser. Es ist ein neurobiologischer Fakt, dass wir das Interesse leichter verlieren, weil viele Dinge, die uns im echten Leben befriedigen würden, mit mehr Aufwand und Widerstand verbunden sind, wenn beispielsweise mal etwas schiefläuft. Das Digitale trainiert uns seit vielen Jahren systematisch die Widerstandsfähigkeit ab, weil es sehr bequem ist. Wenn wir Liebesbeziehungen pflegen, ein Studium absolvieren oder ein Instrument lernen wollen, sind wir diesen Widerstand, den solche Situationen erzeugen können und den wir überwinden müssen, nicht mehr gewohnt.

Wir brauchen Verbundenheit

Was war Ihre Motivation, sich wieder mehr dem realen Leben zuzuwenden?
Ich habe erkannt, dass mein digitales Suchtverhalten auch viel damit zu tun hat, dass ich in meinem echten Leben nicht genug Verbundenheit spüre. Und den Alltag nicht bunt genug gestalte. Das ist wie eine Spirale: Wir verbringen den Tag in einem Job, den wir anstrengend finden und haben abends dann nicht mehr viel Energie. Daraufhin sind wir noch mehr online – und haben dann noch weniger Energie.

… und können das Smartphone erst recht nicht mehr weglegen.
Ja, auch weil wir alle immer noch dem Irrglauben erliegen, dass wir das Internet zu Ende scrollen können. Wir haben immer noch das Gefühl: Wenn ich das noch lese und diese E-Mail noch beantworte, dann habe ich Feierabend. Dann ist endlich Ende. Das funktioniert so mit der Wäsche, mit dem Essensteller und mit dem Buch, das irgendwann zu Ende gelesen ist – aber das Internet funktioniert leider nicht so. Und ich glaube, das verstehen wir immer noch nicht. Wir haben das Bedürfnis, alles aufzuräumen. Und dann ist es plötzlich wieder 21 Uhr abends, es ist draußen dunkel und wir ärgern uns darüber, dass wir wieder nichts Konstruktives hinbekommen haben. Ich habe mich dann gefragt: Was will ich eigentlich für ein Leben führen? Und was hält mich davon ab?

Flucht vor der Realität

Und – was hält uns davon ab?
Eine Antwort ist sicherlich, dass die Leute im Silicon Valley die Apps so programmieren, dass wir möglichst viel Zeit am Handy verbringen. Aber es gibt auch einen persönlichen Anteil, denn ich kann mit Online-Zeit auch Emotionen wegdrücken, die unangenehm sind. Oder ich kann Dinge aufschieben, von denen ich das Gefühl habe, dass ich sie nicht packen würde. Oder ich kann mich davon ablenken, dass ich im realen Leben zu wenig Anerkennung von meiner Familie oder meinen Freunden bekomme.

Wie lässt sich eine gute digitale Balance finden?
Es hilft, konkrete Strategien für digitale Achtsamkeit zu entwickeln und sich selbst Grenzen zu setzen. Festlegen, wann und wo ich das Handy weglege. Hilfreicher, als zu sagen: „Ich brauche weniger digitale Nutzungszeit“, ist der Satz: „Ich möchte mehr Zeit für anderes.“ Und dann muss man sich fragen: Ja, wofür denn eigentlich? Was ist mir wichtig und wie kann ich mehr von diesen Dingen in mein Leben ziehen? Denn nach einem erfüllenden Geburtstagsfest mit Freunden oder einer wunderbaren Wanderung mit einer Gruppe, bei der man acht Stunden unterwegs war und über sich hinausgewachsen ist, ist das Bedürfnis ja automatisch viel geringer, jetzt noch fünf Stunden online zu sein.

Die große Herausforderung ist also, die Verbundenheit, die wir vermeintlich schnell über Social Media bekommen, wieder im realen Leben aufzubauen?
Ja, absolut. Wir haben ein Grundbedürfnis nach Nähe und echtem Kontakt. Und je gesünder dieses Fundament ist, desto mehr Energie haben wir, uns nicht nur den digitalen, sondern auch anderen Herausforderungen zu stellen. Je stärker ich verbunden bin mit Menschen im realen Leben, die meine Werte teilen, desto eher habe ich dann auch ein Gespür für Dinge, die schieflaufen.

Wo und wie fängt man nun am besten an?
Ich glaube, der Morgen macht einen riesigen Unterschied – wie man den Ton für den Tag setzt, so geht es auch weiter. Wenn man schon morgens im Bett eine halbe Stunde lang scrollt, was alle anderen machen, sind schon so viele Fremdeinwirkungen im Gehirn angekommen, dass es danach schwierig wird, sich wieder zu fokussieren. Deshalb ist mein Tipp: Am besten die erste halbe Stunde des Tages mit Gitarre üben oder etwas anderem Konstruktivem verbringen und es nicht auf 21 Uhr abends verschieben.

Innehalten: Wie will ich leben?

Das ist interessant, denn dieselbe Empfehlung spricht auch die christliche Tradition aus: den Tag zu starten, indem man erst einmal für sich und vor Gott zur Ruhe kommt – eine Kerze anzündet, betet, sich sammelt.
Es geht einfach immer wieder um die Besinnung. Um weniger. Dafür braucht man auch ein gewisses Selbstvertrauen. Ich glaube, viele Menschen spüren instinktiv sehr vieles sehr richtig. Sie haben aber das Gefühl: Irgendetwas stimmt wahrscheinlich mit mir nicht. Ich bin zu sensibel, ich bin zu fragil, ich bin zu spirituell – irgendwie müssen wir doch alle mit dem Digitalen klarkommen. Wir haben noch das Narrativ in unseren Köpfen, dass Digitalisierung automatisch Fortschritt bedeutet und wenn man sich dazu kritisch äußert, dann hat man es nicht verstanden. Aber darum geht es ja überhaupt nicht!

Worum geht es dann?
Wir sind überhaupt nicht mehr an dem Punkt, wo wir für oder gegen die Digitalisierung sind. Die Zukunft wird immer digitaler und das können wir gar nicht mehr wegdiskutieren. Umso wichtiger ist deshalb die Frage: Was heißt denn Menschsein im digitalen Zeitalter? Und was brauchen wir, um ein würdevolles Leben führen zu können – in Gemeinschaft und mit einer Präsenz, so, dass man sagen kann: Ich bin digital ganz da und ich bin real ganz da. Das ganze Thema betrifft nicht nur Teenager oder CEOs, sondern uns alle. Denn Digitalisierung verändert jetzt schon alles. Wie wir denken, wie wir fühlen, wie wir Räume gestalten, wie wir arbeiten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir eine gesellschaftliche Debatte darüber führen, wie wir leben wollen in digitalen Zeiten. Wir haben schließlich eine Verantwortung für unsere Gesellschaft und
unsere Umwelt.

Interview: Melanie Carstens

Anna Miller ist Journalistin und Autorin und hat einen Master-Abschluss in Psychologie. Regelmäßig schreibt sie über Gesellschaftsthemen, spricht auf Podien und im Fernsehen und berät Unternehmen, Institutionen und Privatpersonen zu digitaler Achtsamkeit. anna-miller.ch

Anselm Grün, Foto: Julian Hilligardt

Anselm Grün: „Wir brauchen neue Deutungen unserer alten christlichen Tradition“

Anselm Grün, der meistgelesene Benediktinerpater, sieht die Kirche in der Krise. Was sie retten kann, sind kleine Rituale, sagt er im Interview.

Bei allen Nöten und Ängsten, die die Corona-Krise mit sich gebracht hat: Sehen Sie auch die Chance, dass durch sie ein positiver Wertewandel angestoßen wird?
Ich sehe schon die Chance darin. Bei vielen ist eine neue Nachdenklichkeit entstanden und sie fragen: Was ist der Sinn des Lebens? Was trägt mich eigentlich? Gerade in einer Zeit, wo alles Äußere unsicher geworden ist – was gibt mir da Sicherheit? Da ist der Glaube eine wichtige Hilfe. Dass ich im Glauben ein Fundament finde, auf dem ich stehen kann.

Das andere ist: Wir haben erlebt, dass wir voneinander abhängig sind. Wir können einander mit dem Virus anstecken und uns negativ infizieren. Aber wir können es auch positiv sehen: Jeder von uns hat eine Ausstrahlung, wenn wir anderen Menschen begegnen. Da ist die Frage: Was geht von mir aus? Bitterkeit, Aggression und Verurteilung? Oder geht von mir Wohlwollen, Frieden und Liebe aus?

Inwiefern haben wir als Christen und Kirchen Angebote für die Menschen in dieser Umbruchszeit?
Die Kirchen haben sicher die Chance, den Menschen Sinn zu vermitteln. Dass der Sinn eben nicht nur darin besteht, so zu leben wie immer, sondern offen zu sein für das Größere, offen zu sein für Gott. Die Kirchen haben auch die Aufgabe, in dieser Anonymität der Gesellschaft Beziehungen zu stiften und Gemeinschaft zu schaffen, Orte der Verbundenheit zu schaffen. Und die Kirche hat die Aufgabe, Beistand zu leisten. Vor allem den Menschen beizustehen, die allein sind und nicht mit sich auskommen.

„Ich glaube, dass in jedem Menschen die Sehnsucht nach Gott ist“

Im Moment kehren viele Menschen der Kirche den Rücken, die Austrittszahlen steigen. Wie können da die christlichen Werte zu den Menschen in unserer Gesellschaft finden?
Das ist sicher eine große Not, die Sie da ansprechen. Die Frage bewegt mich schon seit Jahren. Mein Bestreben ist, in dieser Krise eine Sprache zu finden, die die Menschen anspricht. Es gibt zwei wichtige Bedingungen: Das eine ist, dass wir erst einmal auf die Menschen hören, auch auf die, die austreten und der Kirche den Rücken kehren. Was sind ihre Bedürfnisse? Was bewegt sie? Nur wenn ich auf sie höre, kann ich auch eine Antwort geben. 

Und das zweite ist, dass ich an die Menschen glaube. Dass ich glaube, dass in jedem Menschen die Sehnsucht nach Gott ist. Vielleicht drückt sie sich nicht immer so konkret als Sehnsucht nach Gott aus, aber als Sehnsucht nach dem Geheimnis, nach Echtheit, nach Klarheit, nach einem Sinn, nach dem Guten, nach einem erfüllten Leben. Nur wenn ich an diese Sehnsucht glaube, kann ich auch eine Sprache finden, die diese Sehnsucht anspricht und bewegt. Das ist für mich eine wichtige Aufgabe.

Wie kann sie gelöst werden?
Wenn wir in die Geschichte schauen, dann waren es nicht die Theologen, die den Glauben gerettet haben, sondern eine gesunde Form von Volksfrömmigkeit. Wir haben viele Rituale in unseren Kirchen, aber sie stammen häufig aus einer landwirtschaftlichen Kultur und sind heute so nicht mehr vermittelbar. Da müssen wir neue Formen finden. Nicht nur von der Kirche her, sondern auch in den Familien, Hauskreisen [christlichen Gruppentreffen, Anm. d. Red.] oder für den Einzelnen neue Formen finden: Wie kann ich den Glauben ausdrücken? Wie kann ich den Glauben in den Alltag bringen? Nicht moralisierend, sondern für den Glauben zu werben, dass der Glaube dem Leben einen anderen Geschmack und eine andere Intensität gibt.

Ritual zum Einschlafen

Welche Rituale und Ausdrucksformen passen gut in die heutige Zeit?
Am Abend erlebe ich häufig, dass Menschen nicht gut schlafen können, weil sie ständig überlegen: Hätte ich mich doch bloß heute anders entschieden, wäre ich doch im Gespräch mit meinem Sohn oder meiner Tochter oder mit meinen Angestellten freundlicher und achtsamer gewesen. Vor lauter „hätte“ und „wäre“ kommt man dann nicht zur Ruhe. Ich sage dann immer: „Der Tag ist vorbei, den könnt ihr nicht mehr ändern, aber Gott kann das Vergangene in Segen verwandeln.“ Da kann man als Ritual abends seine Hände als Schale Gott hinhalten: „Das ist der Tag, mit allem Durcheinander und dem Chaos. Er ist, wie er ist, aber du kannst das, was war, in Segen verwandeln – für mich und für die anderen.“ Und dann kann ich ihn auch loslassen.

Nachdem ich das getan habe, kann ich vielleicht auch dankbar zurückschauen auf den Tag und sehen, was Gott mir in die Hand gelegt hat, an Dingen und Begegnungen.

Das sind sehr klassische Rituale … 
Ja, aber ich merke bei meinen Vorträgen immer wieder, dass die Menschen offen dafür sind. Wir brauchen nicht alles neu zu machen. Aber man braucht eine neue Deutung unserer alten christlichen Traditionen. Manchmal meinen wir, wir hätten schon die Antworten und bräuchten nur die alte Theologie weiterführen. Aber die Botschaft muss in Beziehung zu den Menschen sein, nur dann kann ich etwas sagen. Wenn ich nur weitergebe, was ich gelernt habe, dann ist das zu wenig.

Junge Menschen schauen nicht mehr nur nach Gehalt

Sie haben eben von ihren Seminaren für Manager erzählt. Erleben Sie momentan ein Umdenken bei Verantwortungsträgern aus der Wirtschaft?
Ich erlebe schon ein Umdenken. Aber natürlich kommen zu meinen Kursen auch nur die Leute, die schon offen sind. Die spüren: Nur von den Zahlen her kann man nicht wirtschaften. Wir müssen vom Menschen her schauen. Und wir brauchen Werte. Gerade junge Menschen achten heute nicht darauf, wo sie das meiste Geld verdienen, wenn sie eine Firma suchen, sondern wo eine gute Kultur ist. Und eine gute Kultur ist dort, wo Werte gelebt werden.

Wenn man Pater Anselm so gegenübersitzt, kann man gut nachvollziehen, warum er für viele Menschen zum geistlichen Wegweiser geworden ist. Der weißhaarige Mönch strahlt eine große Ruhe und Gelassenheit aus, obwohl die Corona-Krise auch sein Leben und seine Pläne durcheinandergeworfen hat. Inmitten eines immer noch gut gefüllten Arbeitstages blickt er mich im Moment unseres Gesprächs völlig entspannt und freundlich an.

In dieser Krise kämpfen viele Menschen mit einem Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins, andere werden bitter. Wie geben Sie diesen Menschen neue Hoffnung?
Wenn jemand Bitterkeit spürt, frage ich nach: Was waren deine Vorstellungen? Bitterkeit entsteht oft aus einer Enttäuschung. Ich muss mich damit aussöhnen, dass das Leben nicht immer so gelingt, wie wir uns das vorstellen. Die Situation ist, wie sie ist und nicht ideal. Auch ich selbst bin nicht so ideal, wie ich sein möchte. Das ist das eine. Annehmen, was ist.

Und das zweite ist: trotzdem hoffen. Ich muss mich fragen: Wie sieht mein Leben aus, wenn ich bitter bleibe? Wie sehen meine Beziehungen aus, wenn ich Bitterkeit und Zynismus verbreite? Dann darf ich mich nicht wundern, dass ich isoliert bin und keiner mit mir sprechen möchte. Ich kann aber auch die Situation annehmen und trotz allem darauf vertrauen, dass die Welt nicht hoffnungslos verloren ist.

„Nur um sich selbst zu kreisen, macht nicht glücklich“

Die meisten Menschen haben Sehnsucht nach einem guten Leben – auch und gerade inmitten von Umbrüchen und Einschränkungen. Was sind für Sie Kennzeichen für ein gutes, gelingendes Leben?
Einmal im Einklang und im Frieden mit mir selbst sein, Ja sagen können zu meinem Leben und dankbar sein für mein Leben. Und das zweite ist das Fließen zum anderen hin. Nur um sich selbst zu kreisen, macht nicht glücklich. Ich kann das gute Leben nicht nur für mich selbst haben. Lebendig sein bedeutet, Beziehungen und Kontakt zu anderen haben. Diese Hingabe an das Leben und an den Menschen, das sind wichtige Aspekte für ein gelingendes Leben.

Kennen Sie selbst auch Momente, in denen Sie nicht in sich ruhen und gelassen mit den Herausforderungen, die diese Zeit an uns stellt, umgehen können? 
(Pater Anselm antwortet lächelnd) Natürlich bin auch ich nicht immer ausgeglichen. Wenn z. B. manche Mitbrüder zu kompliziert sind oder wenn ich merke, dass ich nicht richtig planen kann. Aber das ist ein kurzer Ärger und dann sage ich mir: Lohnt es sich, in diesem Ärger zu bleiben oder nutze ich die Zeit einfach, um mehr zu lesen, zu schreiben, für Gespräche und für andere Dinge?

Klassische Musik in der Coronazeit

Haben sich für Sie auch neue Chancen und Perspektiven in dieser Umbruchszeit ergeben?
Für mich selbst sicher die Perspektive, mehr Zeit zu haben. So habe ich abends auch manchmal Musik gehört und nicht immer nur gearbeitet, sondern mir die Musik gegönnt.

Was hören Sie denn gerne?
Klassische Musik wie Bach, Mozart und Händel. Ich höre eher selten moderne Musik.

Einfach morgens das Fenster öffnen

Noch eine Frage zu den Ritualen: Was würden Sie Menschen empfehlen, die eine Sehnsucht und Offenheit in Richtung Gott haben? Was wären erste Schritte?
Einfach den Morgen mit einem einfachen Ritual beginnen. Das Fenster öffnen, frische Luft hereinlassen und spüren: Da kommt neues Leben in mich hinein. Oder wenn wir duschen, bewusst sagen: Ich reinige mich von all den trüben Gedanken, sodass ich heute klar denken kann. Oder mich beim Zähneputzen zu erinnern: Die Worte, die ich heute sagen will, sollen reine Worte sein und keine Worte, die bewerten und verurteilen.

Achtsamkeit ist heute ein Schlagwort geworden. Aber die christliche Botschaft war ja schon immer Achtsamkeit: im Augenblick zu sein, einfach dankbar zu sein. Die Frage: Wofür bin ich dankbar? führt vielleicht zu der Ahnung, dass ich doch einem größeren Gott gegenüber dankbar bin.

Interview: Melanie Carstens

Anselm Grün ist Benediktinerpater in der Abtei Münsterschwarzach. Er ist Doktor der Theologie und hat Betriebswirtschaft studiert. 36 Jahre lang war er wirtschaftlicher Leiter der 20 Klosterbetriebe. Über 300 Bücher hat er geschrieben. Auch seine zahlreichen Vorträge haben ihn zum geistlichen Wegweiser für ein großes Publikum jenseits aller Konfessionsgrenzen gemacht.

Die Wohngemeinschaft im "Offnigs Huus", Foto: Privat

Wer Hilfe braucht – darf bleiben: Florida und Christian leben einzigartiges Wohnmodell

Florida und Christian Zimmermann öffnen ihr Haus seit 16 Jahren für Menschen in Not. Zeitweise leben dort bis zu elf Personen gleichzeitig.

„Gestern rief uns ein Bekannter an, der in einer Krise steckt. Sofort haben wir ihm angeboten, bei uns einzuziehen“, erzählt Florida. „Wir haben ihm gleich ein Zimmer hergerichtet“, ergänzt ihr Mann Christian mit einem Elan, der klarmacht: Genau dafür lebt das Ehepaar seit 16 Jahren sein „Offnigs Huus“: damit Menschen, die das Bedürfnis haben, in Gemeinschaft zu leben, aufgefangen werden und einfach sein können.

Eigentlich Einzelgänger

„Ich war immer davon überzeugt, dass ich ein Einzelgänger bin“, sagt Christian, der auf dem Land aufgewachsen ist und zum Studium nach Bern zog. Florida, die im Libanon geboren ist und die eine bewegte Vergangenheit von Krieg, Flucht und Entwurzelung prägt, trieb schon immer die große Sehnsucht nach einem Zuhause an. Das erlebte sie zum einen in ihrer Pflegefamilie in der Schweiz und bei einer Hausgemeinschaft, in der sie als junge Erwachsene mitlebte. „Aber erst bei Jesus kam ich wirklich an, bei ihm fand meine Seele Heilung, Ruhe und Heimat“, erzählt sie. Durch ihre eigene Geschichte verspürte sie immer mehr den Wunsch, anderen Menschen ein Zuhause zu bieten – Menschen, die genauso wenig Geborgenheit erlebt hatten wie sie selbst.

Doch in Christian musste dieser Wunsch erst reifen. Seine Vorstellung für die Zukunft sah eher ein Einfamilienhaus mit zwei eigenen Kindern und Katzen vor. Florida überließ es als überzeugte Christin Gott, sie gemeinsam zu führen. „Dann stellte ich eines Tages fest, dass Christian viel mehr Leute in unsere Berner Innenstadtwohnung brachte als ich.“ Darauf angesprochen, begann es in Christian zu arbeiten. Tatsächlich genoss er die Gemeinschaft sehr. Sie beschlossen, in der Sache auf Gott zu vertrauen und beteten: „Wir möchten gerne unsere Türen öffnen. Zeig du uns, wie. Bring die Menschen zu uns. Wir sind offen.“

Eine erste Mitbewohnerin zieht ein

Wenige Wochen später klingelte bei ihnen eine verzweifelte Bekannte, die mit einer solchen Wucht von ihrer erschütternden Vergangenheit eingeholt wurde, dass Alleinsein undenkbar war. Florida und Christian nahmen sie ohne zu zögern auf. Sie sollte so lange bei ihnen bleiben, wie sie es brauchte. Es würden Jahre werden.

Wenig später kam über eine Bekannte eine weitere Jugendliche, die Stabilität und Gemeinschaft brauchte. Gerade da wurde im Haus eine kleine Wohnung frei, die dazugemietet werden konnte. Vier weitere Personen kamen innerhalb der nächsten knapp zwei Jahre hinzu – darunter auch Floridas Mutter, die aus dem Libanon in die Schweiz gekommen war. Sie mieteten weitere Wohnungen an. In der größten, in der auch Zimmermanns und zwei Jugendliche wohnten, fand das gemeinsame Leben statt.

Frauen fassen Vertrauen zu Christian

Diejenigen, die einzogen, waren oft Menschen, die von klein auf schwere Lasten und viel Verantwortung getragen hatten, die seelisch litten und hier bei Zimmermanns einen Ort fanden, an dem sie sich fallen lassen konnten. Meist brachen innerhalb kurzer Zeit Wunden der Vergangenheit auf. Florida begleitete sie durch die akuten Krisen, versuchte als einfühlsame Ansprechpartnerin, aber dann auch als klares Gegenüber beim Überwinden von destruktiven Mustern zu helfen. Christian war für etliche der jungen, tief verletzten Frauen der erste Mann, zu dem sie überhaupt Vertrauen aufbauen konnten. Viele fanden in der verbindlichen Gemeinschaft die verlässliche Familie, die sie nie gehabt hatten.

„Wären gleich am Anfang fünf Leute bei uns eingezogen, hätte ich es nicht gepackt“, gibt Christian zu. „Doch so, Schritt für Schritt, sind wir reingewachsen.“ Mit ihrer sprühenden Art ergänzt Florida: „Ja, wir hatten keinen Plan, kein Konzept. Wir haben es Gott überlassen, wen er zu uns bringt und ihm vertraut, dass dann immer Platz ist und wir die Menschen gut begleiten können.“

Nicht alle kommen mit dem Konzept zurecht

2008 konnte die Gemeinschaft in ein begehrtes Haus mit neun Zimmern und einer zusätzlichen Einliegerwohnung im oberen Stock ziehen. „Wieder hat Gott uns versorgt“, berichten die beiden begeistert. Mit dem Geld, das alle zur Miete beitragen können, dank Freunden, die finanziell das „Offnigs Huus“ mittrugen, sowie Spenden, die oft genau zur richtigen Zeit hereinkamen, konnte die Gemeinschaft ihren Unterhalt bestreiten. Zeitgleich fanden die ersten Wechsel der Besetzung statt: Einige der jungen Menschen verließen das Haus, um wieder auf eigenen Beinen im Leben zu stehen oder um zu heiraten.

Einzelne verließen das „Offnigs Huus“, weil sie sich der Gemeinschaft nicht mehr stellen wollten. „Wir leben schon einen hohen Anspruch an Kommunikation und Miteinander“, sagt Florida: Es gehe darum zu lernen, sich mitzuteilen, Konflikte auszutragen, für Fehler geradezustehen, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und Initiative zu ergreifen. Das bedeutet für jeden die Bereitschaft, an sich zu arbeiten, sich mit eingefahrenen Mustern auseinanderzusetzen und Korrektur anzunehmen. Ein Ja zu dieser Verbindlichkeit und Haltung ist Voraussetzung, um hier mitzuleben. Seit der Anfangsphase teilen alle Mitbewohner den Alltag intensiv miteinander, kochen gemeinsam, machen Filmabende und unternehmen Ausflüge oder Spaziergänge. Auch der Brunch am Sonntag gehört dazu und das samstagmorgendliche Putzen.

Glaube ist keine Voraussetzung

In den vergangenen 16 Jahren lebten 22 junge Frauen und Männer länger als ein Jahr in der Gemeinschaft. Weitere haben übergangsweise für einige Wochen oder Monate hier ein Zimmer bezogen. Seit 2009 gehört noch die eigene Tochter der Zimmermanns dazu. 2010, in der absoluten Hochphase des „Offnigs Huus“, lebten zeitweise elf Personen in der Gemeinschaft. Oft waren es Bekannte oder junge Frauen, mit denen Zimmermanns in der Jugendarbeit ihrer Gemeinde Beziehungen aufgebaut hatten, aber es stießen auch Menschen dazu, die über Mund-zu-Mund-Propaganda, über die Website und Artikel vom „Offnigs Huus“ hörten.

Der persönliche Glaube ist keine Voraussetzung zum Mitleben. „Aber man darf keine Abneigung gegen den Glauben haben, denn Jesus ist mittendrin“, erzählt Florida. Für sie selbst ist ihre Beziehung zu Gott nach wie vor eine große Motivation für das, was sie tut: „Ich blühe auf, wenn ich das Potenzial von Menschen sehe und dann mit Gott an der Seite helfen darf, es hervorzubringen. Ich möchte für Menschen da sein und es ist wunderschön zu erleben, wie ich mitten in meiner Berufung bin.“ Das bestätigt auch Christian mit Nachdruck. Während ich mit beiden rede und ihren Alltag miterlebe, staune ich, wie sehr sie im Gespräch, aber auch bei den alltäglichen Aufgaben harmonieren und sich als eingespieltes Team die Bälle zuwerfen.

Beziehung ist eine Herausforderung

Dass Dienen ihre Ausrichtung ist, zeigt sich auch in ihrer Beziehung. Mir wird klar, wie sehr sie für die Mitbewohner ein Vorbild im Miteinander und in der Kommunikation darstellen. „Dabei war und ist es eine der größten Herausforderungen, wie wir unsere Ehe pflegen“, sind sich die beiden einig. Gerade mal ein Jahr Zweisamkeit erlebte das junge Paar, bevor der erste Schützling einzog. Ab dann mussten sie sich regelmäßige Eheabende konsequent freikämpfen. Aber einfach mal ein Wochenende wegfahren war nicht drin. Auch sonst hatten sie keinerlei Privatsphäre, jeder Konflikt fand unter Beobachtung statt.

„Eine andere große Herausforderung ist, dass wir immer flexibel sein müssen, ständig ändert sich der Plan, den ich für eine Woche mache“, lacht Florida. Christian nickt. „Leben im dauerhaften Provisorium“ nennt er es. Die beiden geben schmunzelnd zu, dass sie eigentlich sehr strukturierte Menschen sind, die gerne planen. Aber wer mitten im Alltag offen sein will für Menschen, muss wohl bereit sein, Pläne auch wieder über den Haufen zu werfen.

Café schafft Gelegenheit für Gespräch

Menschen Zeit zu schenken, ist auch das Anliegen, das die beiden dazu motivierte, die Nachbarschaft zum Verweilen und Kaffeetrinken einzuladen – in ihrem „Kafi Uszyt“ (Café Auszeit). Es ist kein Café im klassischen Sinne, sondern an zwei Vormittagen und einem Nachmittag pro Woche ist einfach Zeit für Gespräche beim Kaffee, meist gibt es auch eine frische Waffel oder ein Stück Kuchen. Jeder aus Bremgarten ist willkommen – bislang wegen Corona nur in den Sommermonaten und draußen im Hof. Zusammen mit einer befreundeten Nachbarin und Mitbegründerin des Cafés bieten Florida und Christian einfach Gespräche an. „Es passiert viel zu selten, dass man zuhört und Zeit hat für sein Gegenüber“, ist Florida überzeugt, „und es ist unser Herz, genau das Menschen zu schenken.“

Andrea Specht arbeitet als Autorin und Lektorin und lebt mit ihrer Familie in Potsdam.

Floridas besondere Lebensgeschichte und den Weg zum „Offnigs Huus“ erzählen Florida Zimmermann und Andrea Specht im gerade erschienenen Buch „Durchbrecherin. Mein langer Weg nach Hause – mitten durch Terror, Selbstablehnung und Zerbruch“ (SCM Hänssler). Weitere Infos zum Projekt: offnigshuus.ch

Symbolbild: Getty Images / E+ / imaginima

Tiny House: Tims Familie wohnt auf 25 Quadratmetern

Tim (Namen geändert) und seine Familie können ihr Haus wortwörtlich durch die Gegend fahren. Das Zusammenleben auf kleinstem Raum empfinden sie als unproblematisch.

Tim wohnt seit 2020 mit Frau, Kleinkind und zwei Katzen auf 25 Quadratmetern im Tiny House. Bereits in ihrer vorherigen Drei-Zimmer-Wohnung in der Großstadt beschlossen sie: „Zeit für die Kinder und Familie ist uns wichtiger als Karriere.“ So verkürzten sie ihre Arbeitszeiten. Ein traditionelles Haus ist auf diese Weise allerdings schwer finanzierbar. Tims Frau Anna träumte schon lange von einem Tiny House – und nach einem Wochenende Probewohnen war auch Tim überzeugt.

Als das Angebot kam, am selben Ort einen eigenen Tiny House-Stellplatz zu bekommen, griffen sie zu: „Irgendwann gingen uns die Argumente aus, warum wir es nicht tun sollten“, erzählen sie und sehen viele Vorteile: „Wir mussten uns bei der Bauplanung nicht auf einen Wohnort festlegen, obwohl wir was Eigenes haben wollten. Wir zahlen keine Miete mehr und sind dennoch flexibel. Für unser Haus reichte ein kleinerer Kredit aus, als für ein normales Haus notwendig gewesen wäre.“

Jeder Quadratmeter gut genutzt

Außerdem mache es ihnen Spaß, klein zu wohnen und kreative Lösungen zu finden: „Es ist toll, wie klug jeder Quadratmeter des Hauses genutzt wird. Es fühlt sich ein bisschen nach dauerhaftem Campingurlaub an – nur besser.“ Tim und Anna lieben es, in der Natur zu leben, viel draußen zu sein, Lagerfeuer zu machen – „und weniger Kram zu besitzen!“

Eine Schreinerei baute ein mobiles Häuschen auf Rädern, mit dem die beiden mittlerweile sogar schon ihren Wohnort gewechselt haben. Ohne großen Aufwand konnte es an einen anderen Ort geschafft werden. Damit gelten für sie rechtlich sogar zwei verschiedene Verordnungen: Um in ihrem Tiny House wohnen zu können, mussten sie einen Bauantrag stellen und unterliegen wie bei einem normalen Wohnhaus der Bauordnung des jeweiligen Bundeslandes. Sobald sie ihr Haus transportieren wollen, fällt es unter die Straßenverkehrsordnung und muss – wenn es fest mit dem Anhänger verbunden ist – als Wohnwagen zugelassen werden, sonst als Ladung.

Baugenehmigung ist Hürde

Die größte Hürde zum Traum vom Tiny House liegt oft in der Genehmigung des Bauantrags. Wichtig sei es, das zuständige Bauamt möglichst frühzeitig in das Projekt mit einzubeziehen: „Es ist sehr schade, wenn von dem Grundstück, der Umgebung alles passt, aber das geplante Haus irgendwelche Details mit sich bringt, die dann einer Genehmigung im Wege stehen.“

Die Kosten für ein solch kleines Zuhause sind sehr verschieden. Tim und Anna haben 2020 für ihr schlüsselfertiges Haus aus hochwertigen Materialien etwa 75.000 Euro bezahlt. Fertigbausätze gibt es ab rund 10.000 Euro. Hinzu kommen dann Eigenleistungen, Kosten für Dämmung und Innenausbau.

Vierstellig zu haben

Wer sein Tiny House – vielleicht sogar aus recycelten Baumaterialien – selbst baut und mit wenig zufrieden ist, kann sogar mit einem vierstelligen Betrag zurechtkommen. Wichtig für den Bau eines Tiny Houses: ein passendes Heiz- und Lüftungskonzept. Denn Luftfeuchtigkeit und Schimmelbildung sind immer ein Thema.

Das Zusammenleben auf so kleinem Raum hingegen findet Tim unproblematisch: „Wenn einer telefoniert, geht er bei gutem Wetter raus oder wir nutzen Kopfhörer. Vielleicht haben wir aber auch die Persönlichkeiten für ein Tiny House: Um uns nach einem Streit aus dem Weg zu gehen, brauchen wir nicht mehrere Räume.“

Einen großen Wocheneinkauf verstauen oder mehrere Leute einladen? Auch im Tiny House für die beiden kein Problem. Die kurzen Wege innerhalb des Hauses und ihre Tochter immer im Blick zu haben, sind für sie sogar Pluspunkte. Wieder in ein Steinhaus zu ziehen, könnten sich die beiden nicht vorstellen – „allein schon aufgrund des Raumklimas“. Mehr Platz allerdings ist geplant: Für ihre Tochter und eventuell weitere Kinder wollen Tim und Anna zukünftig noch ein weiteres Tiny House anbauen und so ihr kleines Wohnparadies erweitern.

Von Lisa-Maria Mehrkens

Die Wohngemeinschaft der Familie Filker. Foto: Privat

Claudia öffnet ihre Wohnung radikal für Fremde – und bereut es nicht

Bei Claudia Filker wohnen jahrelang Geflüchtete in der Wohnung. Jetzt wendet sie sich mit einem Mutmach-Appell an alle, die Platz haben.

„Mama, ihr seid doch wohl verrückt!“. Klarer hätte unser Sohn Lukas sein Unverständnis nicht zum Ausdruck bringen können. Gerade hatte ich ihm am Telefon erzählt, dass wir einen jungen Afghanen als Mitbewohner in unser Haus aufgenommen haben und nun für drei Wochen in die Alpen fahren würden. „Ist das euer Ernst?! Ihr kennt ihn eigentlich gar nicht und dann überlasst ihr ihm einfach euer Haus?! Ich kann euch jetzt schon sagen, wie ihr es bei eurer Rückkehr vorfinden werdet!“ Zugegeben, unser Sohn wusste genau, wovon er sprach. Er leitete damals als Sozialarbeiter eine Wohngruppe für unbegleitete männliche Flüchtlinge. Er machte es mit viel Engagement, meistens großer Begeisterung und freute sich über die vielen Fortschritte der jungen Leute. Nur diese ungeputzten Badezimmer und die unaufgeräumten Küchen gingen ihm gehörig auf die Nerven. Und genau das prophezeite er uns – und vor allem mir mit meiner Vorliebe für eine saubere, aufgeräumte Küche, für geputzte Herde und weggeräumtes Geschirr.

Drei Menschen aus anderen Kulturen zu Gast

Szenenwechsel. Drei Wochen später. Wir betreten nach einem sehr erholsamen Urlaub mit einem etwas mulmigen Gefühl unser Haus. Unsere Wohnküche – top aufgeräumt. Der Tisch ist fein gedeckt und es riecht nach leckerem Essen. Samir, unser neuer Mitbewohner, strahlt zur Begrüßung, so wie auch alle Fenster strahlen, denn die hat er frisch geputzt. Der Rasen ist auch gemäht. Was soll ich sagen? Gut gegangen! Es hätte natürlich auch ganz anders aussehen können …

Zu gern erzähle ich diese verrückteste all unserer „Wir-lassen-Menschen-mit-uns-wohnen“-Storys. Zugegebenermaßen rate ich nicht zu ähnlicher Blauäugigkeit. Aber als sich damals der 23-jährige Samir bei uns vorstellte, hatten wir sofort ein sehr gutes Gefühl. Eigentlich sollte er nach unserer Rückkehr zu uns kommen. Aber wie praktisch: Er konnte sofort aus seiner Flüchtlingsunterkunft ausziehen und wir hatten damit einen Haus-Sitter während unserer Reise. Das war im Jahr 2017. Der Beginn einer langjährigen gemeinsamen Zeit. Ab 2020 wohnte auch noch seine Frau Rohina bei uns. Auf sie hatte er drei Jahre warten müssen, ehe die Familienzusammmenführung möglich war. Beide sind im Frühling 2021 in eine eigene kleine Wohnung gezogen. Das war einfach dran, traurig waren wir trotzdem alle. Seit 2019 wohnt zudem Wossen, ein 44-jähriger äthiopischer Flüchtling bei uns. Richtig mitgezählt? Ja, eine gewisse Zeit lang lebten drei freundliche Menschen aus anderen Kulturen mit uns gemeinsam. Und wir hatten und haben richtig viel Spaß zusammen.

Keine scheinheiligen Argumente

Das jüngste unserer Kinder zog 2013 aus unserer Doppelhaushälfte aus, da waren die anderen schon weg. Drei freie Kinderzimmer? Kein Problem: Erklären wir doch eins zum Nähzimmer. Schade nur, ich nähe nicht und auch die Modelleisenbahn können wir nicht bieten. „Ein Zimmer brauchen wir, wenn unsere Kinder oder andere Gäste sich anmelden“, hören wir es von Bekannten in ähnlichen Lebenssituationen, „und vielleicht kommen mal alle drei mit Anhang, dann braucht man doch drei Zimmer!“

Wir wollten es anders machen und keine Argumente anführen, warum wir „Fremde“ nicht aufnehmen können, obwohl unbestritten „genug Platz in der Herberge“ wäre. Seither fallen uns Mitbewohnerinnen und Mitbewohner irgendwie immer in den Schoß. Mal hängt in der Gemeinde ein Zettel an der Pinnwand, der einen Praktikanten als ersten Mitbewohner zu uns brachte, mal taucht eine Frage in der WhatsApp-Gruppe auf: „Meine Cousine sucht …“ Und dann kam dieser Notruf einer Sozialarbeiterin, die dringend für einige Tage einen Schlafplatz für einen Flüchtling suchte. Daraus wurde dann eine jetzt dreijährige gemeinsame Geschichte. Sogar eine ganz enge. Heute Morgen haben wir Wossens 44. Geburtstag gefeiert. Er vermisst seine Heimat und seinen alten Vater sehr. Wir sind jetzt seine Familie in Deutschland.

Der Bedarf nach Wohnraum ist riesig

Ich finde es schade, wenn sich Paare auf ihren 100, 120, 150 Quadratmetern ausbreiten, wenn die Kinder aus dem Haus sind. In nur zwanzig Jahren hat sich die bewohnte Fläche pro Einwohner in Deutschland von 34,9 auf 47,4 Quadratmeter erhöht. Wohnungsknappheit entsteht auch, weil wenige Personen üppig viele Quadratmeter beanspruchen. Der Bedarf an zu vermietenden Zimmern ist riesengroß.

Das Zusammenleben lässt sich auch erst einmal ausprobieren. Für einige Zeit einen (meist jungen) Menschen als Mitbewohnerin oder Mitbewohner ins Haus oder die Wohnung aufzunehmen, ist schließlich kein Bund fürs Leben. Ein guter Start kann zum Beispiel eine Person sein, die ein vierwöchiges Praktikum in der Stadt machen möchte oder für ein Gastsemester ein Zimmer sucht. In solchen begrenzen Zeiten lassen sich Erfahrungen sammeln. Gerade wohnte für zwei Monate eine Hochschullehrerin aus dem Senegal bei uns, die einen Forschungsauftrag an der Humboldt-Universität hatte. Einfach ein grandioser Mehrwert. Wir haben viel von ihrem Land gelernt, viel gelacht, gut gegessen und rund um den Esstisch gespielt.

Klare Regeln fürs Zusammenleben

Hilfreich ist dabei, klare Regeln festzulegen. Wir sind keine Studierenden-WG, in der man über unterschiedliche Toleranzschwellen von Sauberkeit diskutiert. Klarheit erlebe ich als guten Weg für Konfliktvermeidung. Wichtig ist, gut zu erklären, wo Geräte und Putzmittel zu finden sind und was für den gemeinsamen Gebrauch bestimmt ist und was auch nicht. Natürlich dürfen unsere Mitbewohner beispielsweise alle Gewürze mitbenutzen. Im Kühlschrank wird ein Platz für die persönlichen Lebensmittel freigeräumt.

Wir verstehen uns nicht als Gastgeber. Es wird nicht bewirtet und umsorgt, sondern wir entscheiden, wie viel gemeinsames Leben wir zulassen möchten. Bei uns hat sich das gemeinsame Samstag-Frühstück mit allen eingebürgert. Und in der Lockdown-Zeit, als Sprachkurse online stattfanden, haben wir gemeinsam Mittag gegessen und reihum gekocht. Sonst gibt es am Wochenende oft ein gemeinsames Essen – und jeder ist mit dem Kochen dran. Vereinbart haben wir eine monatliche Miete. In Notfällen fiel sie auch mal aus.

Studierende zahlen mit Mithilfe

Freundinnen von mir haben ihren Wohnraum zur Verfügung gestellt, um sich ihre zu groß gewordene Wohnung noch weiter leisten zu können. So kann das Sinnvolle mit dem eigenen Nutzen verbunden werden. Es gibt vom Studierendenwerk eine wunderbare Initiative, die eine sehr viel größere Verbreitung verdient: „Wohnen für Hilfe“. Hier werden Zimmer gegen Unterstützung im Haushalt vermittelt. Ursprünglich für Seniorinnen und Senioren gedacht, nutzen inzwischen auch Alleinerziehende, Familien, Menschen mit Beeinträchtigungen diesen Service. Die Aufgaben werden individuell ausgehandelt. Es gilt die grobe Faustregel: Eine Arbeitsstunde gegen einen Quadratmeter Wohnfläche. Also für ein 15-Quadratmeter großes Zimmer werden 15 Arbeitsstunden pro Monat geleistet: Einkaufen, gemeinsames Kochen, Gartenarbeit … Pflege und medizinische Tätigkeiten sind ausgenommen.

Ich finde: Es gibt gute Gründe, die Türen zu öffnen und mit Menschen, die nicht zur Familie gehören, gemeinsames Wohnen auszuprobieren. Mein Mann und ich schauen auf acht bunte Jahre zurück und sind gespannt, wer bei uns noch anklingeln wird.

Claudia Filker ist Pfarrerin im Ehrenamt bei der Berliner Stadtmission. Zusammen mit Hanna Schott hat sie die Talk-Box-Reihe entwickelt (talk-box.de).

Der aktuelle Hof der Lebensgemeinschaft. Foto: VieCo

Diese Gruppe hilft psychisch kranken Menschen – mit einem ungewöhnlichen Modell

Sie zogen aus Berlin aufs hessische Land, versprachen sich lebenslange Gemeinschaft und kümmern sich um Menschen in Not. Stefan Kleinknecht hat die Lebensgemeinschaft VieCo besucht.

Es ist Dienstag, kurz vor eins. Mittagszeit. Auf dem großen Hofgelände in der Nähe von Marburg sitzen rund 30 Menschen jeden Alters auf Bierbänken zusammen und lassen sich das Mittagessen schmecken – eine leckere Gemüsesuppe und selbst gebackenes Brot. Zwischen den Bierbänken liegt Spike, einer der Hofhunde, und beobachtet seelenruhig das Geschehen um sich herum. Es wird sich angeregt unterhalten, Kinder lachen. Es herrscht eine fröhliche und entspannte Stimmung. Dass man hier willkommen ist, spüre ich bei meinem Besuch schnell.

Den Hof kennt im Dorf Kernbach jeder. Gut, das ist nicht schwer, bei gerade einmal 200 Einwohnern. Doch der Hof der VieCo Lebensgemeinschaft ist kein gewöhnlicher Bauernhof, wie es viele andere im Dorf gibt. Neben den 13 Erwachsenen und 14 Kindern der Gemeinschaft wohnen hier noch bis zu weitere elf Personen. Sie sind Teil des sozialen Wohnprojektes Kernbach für psychisch kranke Menschen. Sie werden professionell pädagogisch betreut – zum Teil von Leuten der VieCo-Gemeinschaft, zum Teil von weiteren pädagogischen Kräften, die außerhalb wohnen. Vor allem aber sind die elf Menschen einfach Mitbewohnerinnen und Mitbewohner und gehören mit zur Hofgemeinschaft.

Visionäre lernen sich auf Hochzeit kennen

Begonnen hat alles vor über 15 Jahren auf einer Hochzeit in Marburg. Die beiden Paare Paco und Tschul sowie Andi und Mareike sind gerade neu nach Berlin gezogen – lernen sich jedoch nicht dort, sondern auf einer Hochzeit gemeinsamer Freunde in Marburg kennen. „Wir fanden uns gleich sympathisch und haben uns anschließend in Berlin mehrmals getroffen – und dann schnell kennen und lieben gelernt“, erzählt Mareike. Sie ziehen als WG in Berlin zusammen, erste Kinder werden geboren. Sie merken, dass beide Familien ein Wunsch, eine Vision verbindet: Leben, Glauben und Gemeinschaft zu teilen und dabei immer eine offene Tür für Menschen in Not zu haben. Länger suchen sie nach dem passenden Ort. Über einen alten Schulkollegen landen sie schließlich 2012 im hessischen Kernbach. Der ehemalige Schweinestall war schon vor vielen Jahren zu Wohnungen ausgebaut worden, sodass die beiden Familien im mittleren Wohnhaus eines Dreiseitenhofes einziehen können.

Anfängliche Skepsis auf dem Land

„Braucht ihr frische Kartoffeln? Wir haben noch viele übrig“, fragt ein Gast am Nebentisch und streichelt Spike. Er ist heute zu Besuch, um die Gemeinschaft und das Wohnprojekt kennenzulernen und um seine Unterstützung anzubieten. Paco erzählt uns von den ersten Jahren in der Dorfgemeinschaft: „Anfangs war es nicht so leicht. Da kommen Leute aus der Großstadt ins Dorf, mieten einen Hof, leben dort als Gemeinschaft. Dazu kommen noch Menschen in seelischer Not.“ Für Landwirte aus traditionsreichen Höfen erst einmal ungewohnt. Doch die meisten Kernbacher ließen relativ schnell ihre Bedenken hinter sich, erinnert sich Tschul: „Wir haben gleich gezeigt: Wir haben nichts zu verbergen. Wir haben ein großes Hoffest gefeiert, Aktionen mit dem Dorf veranstaltet und immer wieder Gäste und Nachbarn zu unseren HofCafés eingeladen. Wir lebten von Anfang an eine große Willkommenskultur.“ Paco lacht und ergänzt: „Wir kamen von der Stadt aufs Land und hatten kaum einen Plan von Landwirtschaft und Tieren. Viele Kernbacher und Kernbacherinnen waren uns echt eine große Hilfe.“

Nach fast zehn Jahren ist nicht nur das landwirtschaftliche Wissen stark gewachsen – auch die VieCo-Lebensgemeinschaft an sich. Doro und Henning haben sich verbindlich angeschlossen und auch Steffi und Thorsten mit vier und Antje und Simon mit zwei Kindern gehören zur Gemeinschaft. Eva wohnt zudem seit 2020 als Gast in einem kleinen „Backhäuschen“ direkt gegenüber des Hofes. Doro und Matthias befinden sich mit ihren beiden Kindern noch im Besucherstatus und leben im Nachbardorf. Sie lernen VieCo und das Projekt Kernbach ganz intensiv vor Ort kennen und prüfen für sich, ob sie sich eine lebenslange Verbindung vorstellen können und sich einreihen wollen in den Schulterschluss der Gemeinschaft.

Lebenslang, wie bei einer Hochzeit

Die Entscheidung, ein Leben lang zusammenzubleiben, empfinden die VieCos als Geschenk. Paco beschreibt es als vergleichbar mit einer Hochzeit: „Da verspreche ich, ein Leben lang mit einer Person mein Leben zu teilen, aber gleichzeitig ist es ganz schwer, das Gefühl dieser besonderen Verbindung zu beschreiben. Genauso ist es auch bei unserer Gemeinschaft. Es ist ein Lebensmodell, sich freiwillig für eine lebenslange Gemeinschaft zu versprechen.“

Eine solche Entscheidung erfordere bestimmt Mut, frage ich nach. Ich fand schon den Schritt in die Ehe gewaltig … Mareike lächelt: „Bei mir war es definitiv eher Überzeugung als Mut. Denn ich würde mich nicht gerade als mutigen Menschen beschreiben. Ja, es war vor allem die Überzeugung, das Vertrauen: Wir stehen zusammen, egal, was kommt im Leben.“ Tschul nickt bestätigend: „Wenn wir andere in unser Leben lassen, dann profitieren wir alle so viel voneinander, können lernen und wachsen. Und klar, es ist nicht immer nur schön und einfach. Aber trotzdem ist es für mich und uns zu einer festen Überzeugung geworden, dass es die allerbeste Lebensweise ist, die zu uns passt.“

Paco erinnert sich: „Alles hinter sich zu lassen, von der Großstadt aufs Dorf ziehen, um dich herum überall nur Natur – schon ein ordentlicher Schritt! Aber sobald wir uns als VieCo diese lebenslange Gemeinschaft versprochen hatten, war auch klar: Hey, das ist fix, die Entscheidung getroffen. Wir stehen gemeinsam für ein größeres Ganzes. Wir möchten den Menschen in unserem Umfeld dienen und das geht gemeinsam deutlich einfacher als allein. Natürlich sind wir keine Sekte, alles ist freiwillig. Dieser Schulterschluss gibt uns viel Kraft: Wir sind eins, gehören zusammen. Da ruckelt so leicht nichts dran.“ Paco strahlt bei den Worten und es ist allen anzumerken, wie viel Sicherheit die Gemeinschaft gibt.

Der Garten hilft bei psychischen Krisen

Das Mittagessen ist beendet. Ein Teil der Hofgemeinschaft macht sich an den Abwasch. Wir schauen uns das Gelände an. Paco, Tschul und Mareike zeigen uns die „Rote Rübe“, den Garten auf der anderen Seite der Straße. Hier bauen sie zusammen mit den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern Obst und Gemüse an. Das wird in der Hofgemeinschaft aufgeteilt oder für die wöchentlich stattfindenden Mittagessen am Dienstag verwendet. „Es tut den Menschen in psychischen Krisen meist richtig gut, sich um etwas zu kümmern, wie hier zum Beispiel um den Garten“, berichtet Paco, der theologisch wie auch pädagogisch ausgebildet ist und wie Mareike, Andi und Tschul eine Anstellung im Wohnprojekt Kernbach hat. Alle anderen aus der Lebensgemeinschaft arbeiten ehrenamtlich im Projekt mit. Träger des ambulanten Wohnprojektes ist der St. Elisabeth-Verein e. V. Marburg, der zur evangelischen Diakonie gehört.

Auf dem Weg über den Hof kommen wir an den Tieren vorbei, an Hühnern, Hasen, Schafen und Ziegen. Mareike erzählt, das Ziel ihrer pädagogischen Arbeit sei immer, dass die Menschen in ihrer seelischen Not erst einmal auf dem Hof zur Ruhe kommen können und möglichst stabil werden. Bei einem großen Teil gelinge das auch. „Wir sehen unsere Arbeit so: Wir bestimmen nicht, sondern wir ermöglichen“, erklärt Paco. „Wir fragen die Leute, was sie brauchen, was ihr Ziel ist. Und dann unterstützen wir sie, so gut es nur irgendwie geht, auf ihrem Weg dahin.“ Tschul weiß, dass die Mitwohnenden auch andere Erfahrungen gemacht haben: „Vorher wurden viele nicht gefragt, was sie denn selbst wollen. Hier sollen sie erfahren: Ich darf mitreden, ein Teil der Gemeinschaft sein. Ich kann etwas. Andere sehen mich, schätzen mich und unterstützen mich. Das ist so viel wert. Nur so ist das Ziel, eines Tages wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen, überhaupt möglich.“

Es ist nicht alles Bullerbü

Wir laufen nun durch das Dorf. Sie wollen mir noch etwas zeigen. Einen großen Schritt, den sie als VieCo Lebensgemeinschaft gegangen seien. Ich bin gespannt, was das wohl sein wird. Mich erinnert die ländliche Idylle hier jedenfalls ein wenig an Bullerbü. Alle lachen. „Ja, im ersten Moment sieht es vielleicht danach aus“, sagt Paco, „doch die Gemeinschaft bedeutet jede Menge Arbeit – sowohl praktisch als auch inhaltlich.“

Mareike nickt: „Und wenn man Leben teilt, dann geht man sich auch mal auf die Nerven, reibt sich aneinander. Da bedeutet es, immer wieder Kompromisse zu finden. Zu schauen, dass niemand auf der Strecke bleibt.“ Tschul ergänzt: „Auch die richtige Balance ist ein Dauerthema. Balance zwischen Job und Ehrenamt, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Gemeinschaft und Zeit für sich selbst, für die Familie.“ Für Paco hat das Leben hier auch viel mit persönlicher Entwicklung zu tun: „Wir sehen uns als Lernende. Und Jesus als unseren Lehrer. Wir wollen immer besser im Umgang miteinander werden, wollen Konflikte ansprechen und Lösungen suchen. Wir wollen uns die Füße waschen, nicht die Köpfe.“

Ein neues Projekt entsteht – vor allem durch Spendengelder

„Da sind wir!“, sagt Tschul, als wir auf einem weiteren Hof angekommen sind. „Das ist unser nächster großer Meilenstein!“ Auf rund 2500 Quadratmetern Fläche stehen hier neben einem Wohnhaus zwei aneinander gebaute alte Scheunen. Dachziegel fehlen, ganze Wandteile sind eingestürzt. „Erst vor ein paar Tagen haben wir den Hof hier gekauft“, sagt Tschul mit leuchtenden Augen, „aber wie du siehst: es gibt noch unglaublich viel zu tun! Wir sind noch ganz am Anfang.“ Sie erzählen, dass sie schon lange zu wenig Räumlichkeiten haben, immerzu am Limit sind. Vor allem im Winter bekämen sie nicht einmal mehr die ganze Hofgemeinschaft in einem Raum unter, wie etwa dienstags zum gemeinsamen Mittagessen. Paco sprüht nur so vor Ideen: „Hier soll etwas ganz Tolles entstehen: Ein schöner, großer Aufenthaltsraum. Viele Räume für Gäste. Für Menschen mit Hilfebedarf. Ein schönes Café wäre noch ein Traum, eine große Küche und vielleicht auch eine Werkstatt. Auf jeden Fall viel Raum für Begegnungen.“

Auf dem Rückweg erzählen sie, dass sie lange gesucht und lange überlegt und gebetet hätten, ob der Kauf der richtige Schritt sei. Jetzt seien aber alle richtig froh, den mutigen Schritt gegangen zu sein. Für die insgesamt 2,5 Millionen Euro Investitionskosten werden sie hauptsächlich auf Spenden angewiesen sein. „Alleine würden wir den großen Betrag nicht stemmen können“, sagt Mareike, „aber wir sind voller Vertrauen: Es wird Menschen geben, die uns durch Spenden unterstützen werden. Die uns helfen, dass wir weiterhin unsere Türen für Menschen öffnen dürfen.“ Schon jetzt haben sie einen großen Freundeskreis, den sie regelmäßig mit Newslettern in ihre Geschichte und ihre Ideen hineinnehmen.

Gemeinsame Kindererziehung

Zurück auf dem Hof setzen wir uns in den Raum der Stille. Antje kommt mit ihrer kleinen Tochter Maartje hinzu, die noch etwas wackelig auf den Füßen unterwegs ist: „Es gibt den Spruch, dass man ein ganzes Dorf brauche, um ein Kind zu erziehen – das erlebe ich hier täglich“, erzählt Antje. „Unsere Kinder wachsen in der Gemeinschaft auf, haben immer viele unterschiedliche Kinder und Erwachsene um sich herum. Sie lernen das soziale Miteinander von klein auf.“ Schließlich lassen mich die VieCos noch teilhaben an der Liturgie, die sie als Gemeinschaft durch die wöchentlichen Treffen führt. Besonders hängen bleibt mir ein jüdisches Gemeinschaftsgebet. Es beschreibt sehr schön den Wert der Gemeinschaft, der hier auf dem Hof bei allen Begegnungen deutlich zu spüren ist. Wir stellen uns in den Kreis, halten die Hände und sprechen uns einen Segen zu. Und da ist sie wieder zum Greifen nah: die Kraft der Gemeinschaft, der Verbundenheit und des gemeinsamen Glaubens.

Stefan Kleinknecht ist Redakteur bei der Stiftung Marburger Medien und wohnt mit seiner Familie in Mittelhessen. Die Lebensgemeinschaft ist zu finden unter vieco.org

Der Co-Working-Space "Kairos13", Foto: Kairos13 / Evangelische Kirche in Karlsruhe

Kirchen eröffnen Co-Working-Spaces: Wie passt das zusammen?

Immer öfter erproben Kirchen, wie sie New Work anbieten können. Was wie ein Widerspruch klingt, ist eigentlich keiner.

Zwischen Shishabar und Parkhaus, keine fünf Minuten zu Fuß vom Karlsruher Schloss entfernt, liegt das Kairos13. Die Evangelische Kirche hat hier 2020 einen Social Co-Working-Space eröffnet für Menschen, die in einem Start-Up oder freischaffend an nachhaltigen und sozialen Themen oder Projekten arbeiten.

Große Teppiche liegen auf dem Betonfußboden des hellen Arbeitsraums, der mit viel Holz und Schwarz eingerichtet ist. Neben Schreibtischen dürfen Wohnzimmerecke und Kaffeebar nicht fehlen, denn Vernetzung ist ein wichtiges Anliegen. Aus der reduzierten Überhangsfläche eines Gemeindehauses soll ein Innovationscampus werden, der zwei Ziele verfolgt: sozialnachhaltiges Engagement fördern und einen kirchlichen Ort schaffen für Menschen, die sonst kaum oder keine Kontaktflächen zu Kirche haben. „Das geschieht sehr niederschwellig und ganz automatisch darüber, dass Co-Working unter dem Dach von Kirche stattfindet und ich als kirchlicher Mitarbeiter vor Ort und selbst Teil der Community bin“, erklärt der Leiter Daniel Paulus.

New Work passt zur Kirche

Die sich rasant verändernde Arbeitswelt, die immer globaler, digitaler und mobiler wird, wird gern mit dem Stichwort „New Work“ beschrieben. Das Konzept entwickelte in den 1970er-Jahren der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann. Er beschrieb die konventionelle Arbeit damals als eine Krankheit, die man aushalte bis zur Rente, und er prognostizierte stattdessen für die Zukunft eine positive Entwicklung: gemischte Teams statt homogener Abteilungen, Projektarbeit, Innovation statt Tradition und Kontrolle. Sein menschenfreundliches Zukunftsbild aus Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft passt gut zur biblischen Ethik.

Zu den wichtigen Formen neuer Arbeit zählt das Co-Working: Menschen, die ihren Arbeitsort frei wählen können, etwa Freelancer oder Gründerinnen, bilden eine Bürogemeinschaft und nutzen das Inventar gemeinsam. Als in der Pandemiezeit klar wurde, dass Arbeiten auch außerhalb des betrieblichen Büros gut funktionieren kann, erhöhte sich auch die Zahl derjenigen, für die ein solcher öffentlicher Arbeitsort infrage kommt.

Work-Life-Balance ist Hauptargument

Zu Beginn vor allem in wenigen Metropolen bekannt, breitet sich das Konzept nun weltweit aus. Rund 18.700 Co-Working Spaces nennt Statista für 2018. Etwa 1,65 Millionen Menschen haben sie genutzt.

Danach befragt, welche Vorteile sich Arbeitnehmende von neuen Arbeitsplatzkonzepten erhofften, stand die bessere Work-Life-Balance ganz oben. Es zeigte sich: Viele Menschen lieben ihre Freiheit und würden gern zeitlich und örtlich ungebundener, selbstbestimmter und vernetzter arbeiten.

Laut einer Umfrage des Online-Magazins Deskmag schätzen Menschen am Co-Working-Space vor allem die angenehme Arbeitsatmosphäre (59 %), die Kommunikation mit anderen (56 %) und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein (55 %).

Der Grad der Verbindlichkeit allerdings ist sehr unterschiedlich. Während manche Anbieter sich schlicht als Schreibtischvermieter verstehen, entsteht anderswo eine enge Gemeinschaft mit hoher Verbindlichkeit und gemeinsamen Werten und Anliegen. Dort entstehen Synergieeffekte, die häufig zu neuen Projekten führen.

Co-Working existierte bereits in Klöstern

Soziologen ordnen Co-Working-Spaces wie Cafés, Bibliotheken oder Kirchen den „dritten Orten“ zu, als wichtige Lebensmittelpunkte neben dem eigenen Zuhause und dem klassischen Arbeitsplatz im Betrieb. Auch Kirchen haben mittlerweile verschiedene Co-Working-Konzepte entwickelt. Die Theologin und Innovationsforscherin Maria Herrmann wirbt dafür, sich bewusst zu werden, dass Co-Working einerseits etwa in den Klöstern eine lange kirchliche Tradition hat und andererseits auch große Chancen bietet für die Zukunft.

Klöster mögen in der allgemeinen Wahrnehmung nicht mehr als Orte der Innovation präsent sein. Doch lange Zeit waren sie die Räume, in denen nicht allein für Einzelne, für eine Institution oder aus rein wirtschaftlichem Interesse geforscht und gearbeitet wurde. Auch Gemeinschaft und Ästhetik spielten wichtige Rollen. Genau das kann heute auch Co-Working-Spaces von anderen Kontexten der Arbeit unterscheiden: die Entdeckung und Erfahrung, dass es sowohl für ein gutes Arbeitsleben als auch für das Neue Verbündete und eine angemessene Atmosphäre braucht. Dass man nicht alleine an Innovationen arbeiten kann. Dass verschiedene Perspektiven, Fähigkeiten und Ressourcen notwendig sind. Dass Schönheit und Ästhetik Einfluss haben.

Alter Gemäuer, neuer Geist

Warum aber sollen sich Kirchen und Gemeinden mit dem Thema Co-Working-Space beschäftigen? Hansjörg Kopp, Generalsekretär des CVJM Deutschland, nennt dazu Folgendes: „Kirche hat den Auftrag, nah bei den Menschen zu sein. Und damit auch mitten in einer agilen Gesellschaft mit zunehmend mobilem Arbeitsverhalten. Wie wunderbar, wenn der Schatz unserer alten Gemäuer Neuland und Freiraum bietet.“

Mittlerweile haben etliche Gründer und Gründerinnen auch mit kirchlichem Hintergrund oder aus ihrem Glauben als Motivation Projekte rund um das Co-Working entwickelt. Für sie und ihre Generation ist das Thema New Work und im Speziellen das Arbeiten und Leben in den Co-Working-Spaces eine angemessene Form von Gemeinschaftserleben. Letztlich sehnt sich jeder Mensch nach einem Kreis von Verbündeten, einer tragenden Verbindung. Vor allem in einer Zeit, in der die Familienverbände kleiner werden und oftmals nicht durch Nähe verbunden sind. Um dieses Community-Building geht es den Pionieren und Pionierinnen in diesem Bereich.

„Hirschengraben“ in Luzern: Innovation in konservativer Stadt

Der Architekt Sandro Schmid nennt seinen „Hirschengraben“ ein „Kollektiv von Weltveränderern, ein Sparringspartner für deine Träume und ein Spielplatz für Unternehmen“. Zum Start hat er seine Mitstreiter gefragt: „Was hat Luzern davon, dass es euch gibt?“ Seine Frage zeigte Wirkung: Bislang haben die 35 Mitglieder 21 Projekte und Start-ups gegründet: Von der Wäscherei über Wertefinder bis zur Business-Community ist die Spanne groß. In einer Stadt, die eher konservativ geprägt ist, tragen sie zu einer Reformation der Arbeit bei. Sandro Schmid bringt dabei gern auch seinen christlichen Glauben ins Spiel: „Mein Vertrauen auf Gott gibt Menschen etwas. Gott hat mich versorgt, mich Geschichten erleben lassen, die mir als ein Wunder entgegenkommen.“

Gründergeist in Frankfurt: Villa in der Innenstadt

Als die Idee der Villa Gründergeist vor vier Jahren entstand, kämpfte das Bistum Limburg nicht nur mit den Folgen des schleppenden Umgangs mit den Missbrauchsskandalen, Relevanzverlusten und einem prognostizierten Einbruch der Kirchensteuereinnahmen. Man zweifelte auch an der eigenen Berufung. Das Bistum steckte nach dem durch den Papst angenommenen Rücktritt von Bischof Franz-Peter Tebartz von Elst in einer Leitungskrise. Nicht der beste Nährboden für gemeinsam getragene pastorale Ziele oder gar für kirchliche Innovationen. Oder vielleicht gerade doch?

Im Dezernat Kinder, Jugend und Familie wurde überlegt, was mit einer rund 100 Jahre alten Villa mit rund 600 Quadratmetern Fläche mitten in der Frankfurter Innenstadt passieren könnte. In einem kleinen Projektteam über verschiedene Hierarchieebenen hinweg entstand die Idee einer Plattform für Zukunftsfragen. Nicht die kirchlichen Mitarbeitenden sollten das Haus allein von sich aus mit Leben füllen, sondern Pioniere und Macherinnen aus möglichst vielen Bereichen. So entwickelten sich mit Gründer David Schulke mutige Ziele: die Welt täglich besser machen durch die Förderung von Social Entrepreneurship und Sozialinnovation. Die Learnings aus dieser Reise nutzbar machen für Menschen, die Kirche neu gründen und Glauben anders leben wollen – im Umfeld einer sinnstiftenden und durch das Villa-Team gut begleiteten Community.

Kaffeebar „Effinger“ wird zum Modell für andere

Der Bildungscoach und Entrepreneur Marco Jakob hat 2015 in Bern den Co-Working-Space mit Kaffeebar „Effinger“ mitgegründet, der ein Modell für viele andere geworden ist. Er sieht kirchlich orientiertes Co-Working allerdings auch kritisch. Die Kirche einfach zu einem Co-Working-Space umzubauen und zu meinen, dann kämen die Leute schon von selbst, sei ein fataler Irrtum. Wer beruflich die Möglichkeit dazu hat, den ermutigt er vielmehr dazu, einen bestehenden Co-Working-Space in der eigenen Umgebung aufzusuchen und selbst regelmäßiger Co-Worker zu werden, zuzuhören, wahrzunehmen, was Leute bewegt und ihre Träume und Projekte kennenzulernen.

Wer Herausforderungen wahrnimmt, kann überlegen, wie er mit den eigenen Fähigkeiten, Netzwerken und Ressourcen etwas zur Lösung beitragen kann. „Rechne mit Gottes Hilfe. Und wenn dein Beitrag mehr als zehn Prozent deiner Zeit beansprucht, so mache dich selbstständig und verlange einen angemessenen Preis für das, was du tust“, rät der Christ. „Falls es etwas ist, das die anderen nicht direkt bezahlen können, so suche mit ihnen nach einem Weg, wie es finanziert werden kann. So ist das, was du tust, wirksam, authentisch und nachhaltig.“

Byro Aarau: Mehr als Cappuccino-Beziehungen

Gründungen, die ein inhaltliches Ziel verfolgen und durch Projekte und Veranstaltungen auch positiv in ihre lokale Umgebung hineinwirken oder global etwas bewegen wollen, sind meist vom Gedanken einer engeren Community getragen, der man sich verbindlicher anschließt.

Daniel Hediger, Co-Gründer vom „Byro Aarau“ stellt fest, dass das nicht immer einfach ist und spricht von Beziehungsfähigkeit, die jemand mitbringen muss. „Das sind nicht nur lustige Cappuccino-Beziehungen. Community geht nur dann, wenn du bereit bist, dich auf Beziehungen einzulassen.“ Verbindliche Beziehungen müssten da wachsen und der Wille zur Veränderung vorhanden sein. „Hier beginnt die schwer quantifizierbare Wirkung eines Co-Working-Spaces.“ Es gelte, Vertrauenskultur aufzubauen auf und der Versuchung zu widerstehen, in alte, hierarchische Strukturen zurückzufallen.

Bei all diesen faszinierenden Projekten wird deutlich, dass es kein Grundmuster für den Start, den Aufbau und den Betrieb eines Co-Working-Spaces gibt. Sowohl bei der Ausrichtung auf die jeweilige Zielgruppe als auch in Bezug auf Kirchennähe gibt es verschiedene Ansätze. Es wird noch viel experimentiert werden – und den Königsweg vielleicht nie geben. Die Tendenz ist aber klar: Für viele Menschen und Milieus sind die klassischen Kirchen nicht attraktiv. Sie sehnen sich zutiefst nach Gemeinschaft, aber ohne Gemeindeordnung. Nach sinngebenden Angeboten, aber ohne Gottesdienstliturgie. Arbeit und Freizeit werden nicht mehr scharf getrennt. Und in diese Sehnsucht hinein lohnt es sich, Angebote zu setzen.

Jürgen Jakob Kehrer ist Referent der Evangelischen Landeskirche Württemberg und freiberuflicher Organisationsentwickler. Dorothea Gebauer betreibt ein eigenes Co-Working-Space, hat mehrere Gründungen begleitet und arbeitet im Bereich innovativer Bildung, PR und Fundraising.
In diesen Wochen erscheint ihr gemeinsames Buch: „Co-Working: aufbrechen, anpacken, anders leben – Herausforderung und Chance für Gemeinden und Organisationen“ (Vandenhoek und Ruprecht).

Die Geschwister Sharon und Kevin Keiderling kümmern sich um den landwirtschaftlichen Betrieb. Foto: Verena Schnitzhofer, Monika Faes

Ein Konto für alle: Diese Biohof-Bewohner teilen sich fast alles

Seit zwei Jahren lebt die kleine Lebensgemeinschaft des Bruderhofs in Niederösterreich. Gemeinsam betreiben sie Biogemüseanbau und teilen nicht nur ihren Alltag, sondern auch ihren gesamten Besitz.

Das Weinviertel in Niederösterreich, unweit der tschechischen Grenze, liegt eingebettet zwischen der letzten betriebsfähigen Windmühle Österreichs, idyllischen Weinbergen, malerischen Stadthäusern und den längsten Kellergassen Mitteleuropas. In diese seit der Ur- und Frühgeschichte besiedelte Gegend ist im Sommer 2019 eine kleine Lebensgemeinschaft gezogen, die ihr Eigentum teilt, für ihren Lebensunterhalt Gemüse anbaut und dabei nachhaltige Prinzipien anwendet.

Der erste Bruderhof entstand vor rund 100 Jahren in Deutschland. Nach dem Ersten Weltkrieg suchten viele Menschen Halt, lebensbejahende Werte und Arbeit. Das junge Ehepaar Eberhard und Emmy Arnold, das sich im Zuge der „Jugendbewegung“ in Halle an der Saale kennengelernt hatte, wollte wenigstens für einige Personen eine stabile Lebensgrundlage schaffen und sammelte Leute um sich. Diese freiwillig gewählte, im Vergleich zum allgemeinen Mainstream auffallend „andere“ Lebensweise der Gemeinschaft, stützte sich dabei auf ihre christliche Wertebasis und gemeinsamen Güterbesitz. So konnte mit vereinten Kräften ein deutscher Hof in der Rhön als erster Standort gekauft werden. Als „Brüder unter Brüdern“ machten sie unter härtesten Bedingungen den kargen Boden fruchtbar. In der Folge bürgerte sich landläufig der Name „Bruderhof“ ein.

Flucht vor dem NS-Regime

Kurz vor seinem Tod 1936 konstatierte Eberhard Arnold, seines Zeichens tatkräftiger Herausgeber gesellschaftsrelevanter Magazine, „wenn wir nicht mehr für alle Menschen da sein können, wenn wir uns nicht mehr mit der Not und dem Leiden der ganzen Welt befassen können, hat unser Bruderhof keine Existenzberechtigung mehr.“

Gegen die „lebenszerstörenden Strömungen unserer heutigen Gesellschaftskultur, aber auch gegen unsere eigenen Schwächen und den Egoismus, der uns immer wieder im Weg steht“ suchten die Bruderhofbewohner von Anfang an eine friedliche Alternative. Während des NS-Regimes beispielsweise entzog man sich in der hauseigenen Schule der aufoktroyierten Lehrerschaft, indem alle Schulkinder samt ihrer Erzieher kurzerhand nach Liechtenstein flohen, um ihre Prinzipien zu wahren.

Manch ein Bruderhof hat über 200 Mitglieder

Bis dato werden sie nicht müde, sich für Gerechtigkeit, Glaubens- und Gewissensfreiheit einzusetzen. Die Gemeinschaft wächst – auch dank großer Familien – stetig. In manchen Bruderhöfen leben heute über 200 Personen. Weltweit verteilen sich etwa 2500 Mitglieder auf Niederlassungen in England, den USA, Paraguay und anderen Ländern.

Mitglied kann man frühestens mit 21 Jahren werden und nur nach eigener, freier Entscheidung. Viele haben ursprünglich einen deutschen Hintergrund, aber man assimiliert sich, wächst mit Englisch und Deutsch gleichermaßen auf. Diese Zweisprachigkeit hilft dann auch bei internationalen Neugründungen und beschleunigt die Integration in eine neue Umgebung. Da sich jeder neu gegründete Bruderhof selbstständig für ein Business entscheidet, von dem er leben will, spannt sich der Bogen mittlerweile von Herstellung innovativer Tischlerware über Produktdesign und Marketing bis hin zur Landwirtschaft.

In den letzten Jahren streckte man die Fühler zurück in den deutschsprachigen Raum aus, pflegte Kontakte zu Christen verschiedener Konfessionen in Österreich. Letztlich eröffnete der Erzbischof von Wien, Christoph Kardinal Schönborn, persönlich vom tiefen Anliegen der Versöhnung geprägt, die Möglichkeit für den Kauf des Retzer Gutshofes. Damit schließt sich ein Kreis, denn genau aus diesem Gebiet wurden vor rund 500 Jahren die sogenannten „Täufer“ im Zuge der Gegenreformation aufgrund ihrer Glaubensüberzeugungen vertrieben. In ihren Überzeugungen können sie als geistliche Vorfahren des Bruderhofs gesehen werden.

Nur ein Bankkonto

Nachdem der Gutshof bereits früher biologisch geführt wurde, war die Art der Selbstversorgung für diesen Standort rasch geklärt: Biogemüseanbau mit Ab-Hof-Verkauf. Und so nährt heute der Boden diese „alten“ Wurzeln und lässt neues Leben erblühen.

Der Ort erwies sich von Anfang an als optimal: der Dreiseithof besteht aus mehreren Hof- und Wirtschaftsgebäuden, die für Gemeinschaftsräume, Großküche, Büros, Arbeits- und Kühlräume adaptiert werden konnten. Seit 2019 zogen einzelne Bruderhofleute und ganze Familien von anderen internationalen „Settlements“ hierher, im Moment sind es 25.

Kinder und Eltern leben im Familienverband, Singles nach Geschlechtern getrennt in Gemeinschaftszimmern. Dass die Gruppe „alles gemeinsam“ besitzt, ist vielleicht der ungewöhnlichste Aspekt des Zusammenlebens. Persönlicher Besitz sowie Erträge, die man für den gemeinschaftlichen Lebensunterhalt erwirtschaftet, wandern in die gemeinsame Kasse. Es existiert auch nur ein einziges Bankkonto pro Bruderhof. Für Kleidung, Unterkunft und Essen wird gesorgt. Der Einzelne bringt sich seinen Gaben und Interessen gemäß ein, erhält aber weder Lohn noch Taschengeld. Nur für Schüler gibt es der Einfachheit halber Wochengeld. „Das heißt aber nicht, dass man auf alles verzichten müsse, was Konsum angeht“, erklärt Andi Zimmerman, der Leiter der österreichischen Niederlassung. Will jemand beispielsweise ein Buch kaufen oder mit Besuchern eine kalte Jause mit heurigem Wein genießen, geht er zum lokalen Finanzverwalter und bekommt die benötigte Summe. Im Prinzip kann auch jeder kaufen, was er will. Die Gemeinschaft hält sich gegenseitig in der Mäßigung verbindlich.

Aus dem Weg gehen kann man sich nicht

Natürlich kommt es auch immer wieder zu Spannungen und Meinungsverschiedenheiten. „Das wichtigste ist, ehrlich mit- und untereinander zu sein. Egal welches mitmenschliche Problem auftaucht, es gilt, dieses anzusprechen“, meint Andi. Es sei wichtig, eine Lösung zu suchen: „Man kann sich schließlich auf engem Raum kaum länger aus dem Weg gehen.“ Gemeinsam mit seiner Frau Priscilla und den drei Kindern lebt er in einem ehemaligen Dominikanerkloster in der Nähe. Denn der Raum am Hof wurde bereits zu knapp. Ein im Kloster zur Verfügung gestellter Trakt beherbergt auch ein Gästehaus für Besucher wie uns, die in dieses „andere Leben“ hineinschnuppern wollen.

Wie andere junge Erwachsene erkunden auch Bruderhöfler gerne die Welt. Bewusst lässt man sie ziehen, ihre eigenen Wege gehen und Ausbildungen machen. So kam Terrence Meier, 21, vor etwa zehn Monaten alleine von einer englischen Niederlassung hierher, um bei diversen Bau- und Renovierungsaufgaben Hand anzulegen. Später will er im nahen Wien Musikwissenschaften studieren. „Wir haben bereits einiges umgesetzt: zwei Gästezimmer, ein Badezimmer und Büros. Nun bauen wir eine Werkstatt auf, um für weitere Bauvorhaben und kleine Tischlerarbeiten gerüstet zu sein.“ Dafür bietet das große Gelände genug Einsatzmöglichkeiten.

Aidan Manke, 18, hingegen zog mit seiner ganzen Familie von England hierher. Er schätzt die kleinere Community, die nach dem Abendessen viel spielt und singt. Nächstes Jahr will er gerne vor Ort als Rettungssanitäter mit dem Roten Kreuz aushelfen.

Bio-Anbau im Garten

Die Geschwister Kevin und Sharon Keiderling zeigen uns schließlich das Herzstück des Gutshofs: den Garten. Für Sharon war das der eigentliche Grund, von England nach Österreich umzusiedeln: „Ich bin sehr an regenerativer Landwirtschaft interessiert und möchte gern mehr darüber lernen.“ So geht es uns auch. Kevin, der wiederum mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern hier lebt, verwaltet den gesamten Ablauf der alternativen Versorgung. Fachmännisch führt uns der gelernte Landwirt in die für uns neue Welt des „Market Gardening“ ein, einer biointensiven Anbautechnik aus dem 19. Jahrhundert, bei der Gemüse auf kleinem Raum dicht gepflanzt wird.

Während uns draußen der Wind um die Ohren pfeift, erfüllt uns beim Betreten des Gewächshauses eine angenehme, warme Stille. Hier werden beispielsweise Paprika und Paradeiser, also Tomaten, vorgezogen. Alle zwei Wochen werden neue Salate gepflanzt – im Laufe des Jahres zehn verschiedene Sorten. Für die Wintersaison werden bereits Vitamin-C-reiche Kohlarten produziert. Der Folientunnel wurde selbst ausgeklügelt und gebaut. Über den Winter kann er beheizt werden, um ein dauerhaftes Sprießen der Sämlinge zu gewährleisten. In den kleinen Keimzellen, wo jeweils vier Samen eingelegt werden, entdecken wir die Beschriftung „Rubinetto“ und denken an Lieblingsapfel – aber damit liegen wir falsch, wie sich noch herausstellen wird.

Natürlicher Kompost hilft beim Wachsen

Vor dem Gewächshaus fasst Sharon in einen großen Behälter. Reiner, dunkler Kompost rieselt durch ihre Finger: So sieht also die wertvolle Umsetzung von Pflanzresten, Holzspänen, altem Heu und Pferdemist aus, die hier drin ein gutes Jahr unberührt ruhten. Aus diesen Resten wird Neues! Das Kompostierungssystem ist lediglich auf Luft und Wasser angewiesen („aerob“). „Optimal ist ein Wassergehalt von 70 Prozent“, erklärt uns Kevin. Wenn nicht gewendet wird, können sich zudem Bodenpilze und andere Mikroorganismen besser entwickeln. Das Endergebnis wird später als natürlicher Dünger in kleinsten Mengen dem Gießwasser beigemengt.

Auch zum Neuanpflanzen ist der Kompost wichtig: „Wenn man ein neues Beet anfängt, verteilt man einfach Kompost auf der Oberfläche, das unterdrückt erst einmal die Unkräuter“, sagt Kevin. Dadurch werde der Boden humoser und könne Wasser und Nährstoffe besser speichern. „Dann pflanzt man direkt in den Kompost rein. Reifes Gemüse wird abgeerntet, indem man es einfach an der Oberfläche abschneidet.“ Die Wurzeln werden im Boden belassen, darauf kommt eine kleine Schicht Humus, in die wiederum direkt gesät oder gepflanzt wird. Das Boden(innen)leben wird auf diese Weise bewahrt und kann sich optimal vermehren.

Ohne Chemie, dafür viel Handarbeit

Das „Market Gardening“ geht auf die Gärtner Jean-Martin Fortier und Eliot Coleman zurück. Es beschränkt sich auf die Größe, die noch in Handarbeit zu bewältigen ist. Der Traktor wird nur für den Abtransport der geernteten Schätze verwendet. Klug werden daher Gemüsearten ausgewählt, die den besten Ertrag pro Quadratmeter erzielen. Dabei achtet man besonders auf Diversität und Symbiosen von Pflanzen, die einander im Wachstum unterstützen.

„Landbau ohne Chemie kann nur funktionieren, wenn alle zusammen helfen und mit anpacken“, folgert Kevin. „So ist es öfter nötig, dass wir abends noch alle aufs Feld gehen und die Beete durchjäten.“ Die Gartenarbeit hat aber auch einen gemeinschaftsfördernden Aspekt, findet die 22-jährige Felicity Goodwin, die mit ihrem „grünen Daumen“ in diesem Metier heimisch ist.

Schließlich bewundern wir ein Beet mit allerlei Salaten. Kevin wählt einen Kopf aus und reicht ihn uns: „Das ist ein Rubinetto!“ Kein Apfel also, sondern ein kunstvoll gebildeter roter Eichblattsalat.

Im Gemüsewaschraum wird gerade das saisonal geerntete Gemüse gesäubert, Microgreens werden abgewogen und eingetütet sowie in die beliebten Abokisten verpackt. Auch selbstgemachte Aufstriche, Pies, Cookies, frische Hühnereier und Honig sind im Angebot.

Alle essen gemeinsam

Mittlerweile ist es Mittag geworden und uns knurrt der Magen. So kommen wir noch in den Genuss eines leckeren, frisch zubereiteten Essens. Und auch hier ist der Betrieb bestens eingespielt: Mehrere Köche der Gemeinschaft bereiten regelmäßig alle Mahlzeiten zu. Wer sich gerade im gemeinschaftlichen Essraum aufhält, deckt den Tisch. Wenn möglich, essen alle gemeinsam. Als Besucher erleben wir das als eine wohltuende Unterbrechung des Alltags und ein bewusstes Ruhen der Arbeit. Es wird Wert auf persönlichen Austausch gelegt. Zum Schluss stürzen sich besonders die Jungen lachend in den Wasserspaß und waschen den Geschirrberg händisch ab.

Uns fasziniert bei unserem Besuch immer wieder die authentische Freude von Jung und Alt. Eine Ausgeglichenheit und auch eine tiefe Wertschätzung füreinander sind zu spüren. Eberhard Arnolds Gedanken aus der Gründungszeit sind sichtbar lebendig geblieben: „Alles in unserem Leben sollte Ausdruck der gegenseitigen Liebe sein. So ist Arbeit nicht von unserem Leben getrennt, sondern wird aus Freude am Dienst füreinander getan. Dazu gehören auch die Arbeit in der Waschküche, die Zubereitung der Mahlzeiten, die Sorge für die Kinder und Alten, und nicht zuletzt die Arbeit in Feld und Garten.“

Verena Schnitzhofer vernetzt Vordenkende im Quo Vadis Institut in Salzburg. Monika Fees ist Lehrerin und stellvertretende Vorsitzende der Österreichischen Evangelischen Allianz.

Die Produkte des Gutshofs sind unter gutesvomgutshof.at zu finden, Infos zum Bruderhof gibt es unter bruderhof.com.