Familie Völkner, Foto: Gerdi Schlagner

Diese vierköpfige Familie kommt auf dem Land (fast) ohne Auto zurecht

Familie Völkner ist fast ausschließlich mit dem E-Bike unterwegs. Und das klappt auch außerhalb der Stadt erstaunlich gut.

Mit meinem Fahrrad und dem Anhänger dazu bin ich in unserem Ort eine Seltenheit. Wenn ich auf den Straßen und Feldwegen unterwegs bin, werden mir immer wieder überraschte Blicke und Kommentare zugerufen. Denn wir sind als vierköpfige Familie nahezu autofrei unterwegs. Wir glauben, dass das Leben auch anders geht. Dass vieles möglich ist. Dass es Wege gibt, wo es einen Willen gibt. Um es jedoch gleich vorweg zu nehmen: Ganz autofrei leben wir nicht. Wir wohnen neben meinen Schwiegereltern und können uns bei Bedarf ihr Auto leihen. Und falls sich für große Fahrten mal die Termine überschneiden, können wir immer noch ein Auto mieten. Allerdings ist das für uns eher die Ausnahme, nicht der Alltag.

Schneller als mit dem Auto

Das autofreie Leben begann eigentlich schon in unserer Ausbildung. Als mein heutiger Mann Michael und ich zusammenkamen, lebte er in der Schweiz und ich in Rostock. Neun Monate führten wir eine Fernbeziehung und verbrachten regelmäßig zehn bis zwölf Stunden in Zügen und auf Bahnhöfen. Die meisten Fahrten verliefen wirklich gut. Kurz nach unserer Hochzeit zogen wir dann nach Braunschweig, eine flache Stadt ohne Hügel und mit gut ausgebauten Fahrradwegen. So beschlossen wir schnell, auch weiterhin aufs Auto zu verzichten, als sich unser erster Nachwuchs ankündigte. In Braunschweig war alles sehr gut mit dem Fahrrad zu erreichen – teils sogar schneller als mit dem Auto. Wir kauften uns einen Fahrradwagen und entschieden uns für einen Einsitzer, weil wir den Wagen stets in den Keller verfrachten mussten. Schwieriger wurde das Thema, als wir nach Hessen zogen. Hier ist die Landschaft zwar nicht bergig, aber doch deutlich hügeliger. Außerdem kündigte sich unser zweites Kind bei unserem Umzug schon sehr deutlich an. Also fragten wir uns: Kann man als vierköpfige Familie auf dem Land autofrei leben? Wie aufwendig ist das? Und lohnt sich dieser Aufwand finanziell überhaupt?

Essensplan umfasst 16 Wochen

Das hessische Dorf, in dem wir wohnen, hat alles, was man zum täglichen Leben braucht, vor Ort: Kindergarten, Schule, Bahnhof, Einkaufsmöglichkeiten – alles ist vorhanden. Mein Mann arbeitet zehn Kilometer von unserem Wohnort entfernt als Allgemeinmediziner. Ich bin gelernte Erzieherin und Religions- und Gemeindepädagogin und arbeite zurzeit zu Hause mit unseren beiden Jungs. Michael fährt morgens mit dem Rad zur Arbeit und ich bringe normalerweise unseren Großen im Anhänger – mittlerweile ein Zweisitzer – zum Kindergarten. Der Kleine kommt dabei natürlich mit. Ein- bis zweimal die Woche holen wir meinen Mann von der Arbeit ab. Einfach aus Spaß. Ich bekomme Bewegung, die Jungs frische Luft. Bisher haben die Kinder das auch genossen, einträchtig nebeneinandergesessen und die vorbeiziehende Landschaft beobachtet. Aber natürlich gibt es auch mal Streitigkeiten auf dem Rücksitz.

Unseren Einkauf versuchen wir einmal in der Woche zu erledigen. Wir haben einen Essensplan über 16 Wochen festgelegt, der sich drei- bis viermal im Jahr wiederholt. So weiß ich sehr genau, was ich einkaufen muss, und kann planen, ob ich nur den Rucksack, zusätzlich die Fahrradtaschen oder sogar noch einen Anhänger zum Einkaufen mitnehmen sollte. Für größere Feiern, bei denen wir viele Getränke brauchen, leihen wir uns das Auto meiner Schwiegereltern. Liefern lassen ist auch eine Option, die wir bisher aber nur selten nutzen.

Bahnreisen ohne Pipi- oder Stillpausen

Für Reisen haben wir beide eine Bahncard 50. Unsere Kinder fahren kostenlos mit. Wir planen unsere Reisen immer sehr frühzeitig, da bei Reisen mit Kindern eine Reservierung mit Zugbindung gewünscht ist. Mittlerweile geht auch das Packen sehr gut. Für eine zweiwöchige Urlaubsreise nehmen wir einen Koffer, eine Kraxe (Anm.: ein Rückentragekorb für Kinder), einen großen Rucksack, einen Kinderwagen und je einen kleinen Rucksack für die Kinder und für Reiseproviant mit. So hat jeder von uns eine Rückenbeladung, Michael schiebt den Wagen, ich ziehe den Koffer. Beim Umsteigen werden Kinder und kleine Rucksäcke in den Wagen verfrachtet. Was das Reisen betrifft, sind wir Fans der Deutschen Bahn. Wir buchen uns häufig das Kleinkindabteil und sind beispielsweise mit nur zweimal Umsteigen an unserem Zielort in der Schweiz. Dabei müssen wir keine Pipi- oder Stillpausen machen und können uns beide um die Kinder kümmern.

Ohne Vorüberlegungen geht es nicht

Natürlich erfordert das Reisen mit der Bahn etwas Planung. Ich muss rechtzeitig Tickets besorgen und bin abhängig davon, dass die Züge pünktlich kommen. Außerdem muss ich klären, wie ich vom Bahnhof zum Zielort komme, falls es – wie bei meinen Eltern – keinen Bahnhof direkt im Ort gibt. Auch beim Packen muss ich sehr genau darauf achten, was ich mitnehme und ob wir das wirklich brauchen. Andererseits machen sich auch Autofahrer viele Gedanken: Parkplätze, Parktickets, Tanken, Versicherungen, TÜV, Werkstatt, Reifenwechsel. Um all das brauchen wir uns nicht zu kümmern. Wer Auto fährt, macht sich das häufig nur gar nicht mehr bewusst, weil es eben dazugehört. An manchen Stellen müssen andere unseren Lebensstil mittragen. Meine Eltern beispielsweise müssen uns vom Bahnhof abholen, wenn wir sie besuchen. Und meine Schwiegereltern müssen ab und an ein bis zwei Wochen auf ihr Auto verzichten, wenn wir es ausleihen. Ich betrachte mich mittlerweile als Vegetarierin der Mobilität. Auch da muss das Umfeld mitziehen. Wenn manche Familienmitglieder da sind, kocht meine Mutter beispielsweise vegetarisch. Dann macht sie sich Gedanken über mögliche Rezepte und Essenspläne. Und bei uns überlegt sie eben, wie sie uns vom Bahnhof nach Hause bekommt.

Natürlich haben wir mit der Bahn auch schon abenteuerliche Fahrten erlebt. Aber die hatten wir mit dem Auto auch. Nur lässt sich vom „im Stau stehen, während die Kinder schreien“ nicht so gut erzählen wie von der Bahnfahrt, bei der ein Laster in die Oberleitung gekracht ist und wir von Bahnhof zu Bahnhof schauen mussten, ob wir an dem Tag noch nach Hause kamen.

Auto vs. E-Bike: Die Kosten im Vergleich

Als wir umgezogen sind und entscheiden mussten, ob wir uns ein Auto kaufen oder uns zwei E-Bikes zulegen, um unsere Wege zurückzulegen, haben wir eine Tabelle aufgestellt. Diese Tabelle ist natürlich nur ein Modell. Wir haben lange hin und her überlegt, wie man die Kosten für beide Lebensweisen möglichst realistisch aufzeigen kann. Ein Blick in Rechnungsbeispiele vom ADAC sowie auf greenstorm.eu ergeben, dass eine Kilometer-Pauschale für die laufenden Kosten sinnvoll ist. Dabei wird für das Auto mit 40 Cent pro Kilometer gerechnet, die E-Bikes mit 10 Cent. Darin sind enthalten: Anschaffungskosten, Werkstattkosten, Kraftstoff/Strom, Wertverlust, Versicherung, etc. Als Beispiel wurde hier mit einem Skoda Octavia Combi gerechnet. Gegenüber diesem Modell sparen wir im Jahr über 2.000 Euro. Und wir haben entschieden, dass sich das für uns momentan durchaus lohnt. Bei einem VW Touran läge die Pauschale bei 56 statt 40 Cent und unsere Ersparnis schon bei über 4.000 Euro. Insofern ist diese Rechnung nicht ganz eindeutig, da man je nach Automodell und Versicherung zu verschiedenen Ergebnissen kommen kann. Hinzukommt, dass wir die E-Bikes über Michaels Arbeit leasen können und dadurch steuerliche Vergünstigungen haben. Somit kosten uns die Räder faktisch sogar deutlich weniger.

Ökologisch sinnvoll

Was ich gerne zugebe: Im Winter kostet es mich manchmal wirklich Überwindung, aufs Fahrrad zu steigen und loszuradeln. Aber wenn wir mitten im Regen zurückfahren und ich die ganze Schlange an Autos überhole, in denen jeweils ein einzelner Mensch im Feierabendverkehr feststeckt, fühlt sich das wiederum ziemlich gut an. Und auch ökologisch ist es natürlich sinnvoll, aufs Auto zu verzichten. Bei oben genannter Kilometerleistung sparen wir je nach Automodell rund 1,5 Tonnen CO2 pro Jahr ein.

Es ist, wie vieles im Leben, eine Frage des Wollens: Will ich diesen Lebensstil führen? Will ich die Spontaneität und Freiheit, die ein Auto bieten kann, aufgeben? Wir jedenfalls vermissen sie momentan nicht. Für uns ist der Aufwand sehr überschaubar und wir genießen dafür andere Vorteile, wie zum Beispiel die Bewegungsfreiheit in den Zügen. Das bedeutet nicht, dass sich unsere Lebensumstände nicht ändern könnten und wir uns dann möglicherweise doch irgendwann ein Auto zulegen. Doch bis dahin leben wir mit unserem Modell sehr gut.

Almut Völkner ist gelernte Erzieherin und Religions- und Gemeindepädagogin, arbeitet zurzeit zu Hause mit ihren beiden Jungs und veröffentlicht Texte unter almut-wortkunst.de

Foto: ArtMarie / E+ / gettyimages

Weitergeben statt Wegwerfen: Wie Kreislaufwirtschaft Müllprobleme lösen will

Die Kreislaufwirtschaft soll helfen, Müll zu vermeiden und Produkte so lange wie möglich zu gebrauchen. Damit der Systemwandel gelingt, benötigt es jedoch ein Umdenken.

Unsere herkömmliche Wirtschaftsform funktioniert linear. Das heißt: Es werden Ressourcen abgebaut, zu einem Produkt verarbeitet, es wird verkauft, verwendet und entsorgt – wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Die problematischen Folgen davon sehen wir überall: Abfall, Umweltbelastungen, Rohstoffverknappung.

Produkte möglichst lange gebrauchen

Die Kreislaufwirtschaft oder Circular Economy geht von endlichen Ressourcen aus und möchte Materialkreisläufe möglichst schließen. Ziel dieses ganzheitlichen Ansatzes ist, Müll zu vermeiden, Lebenszyklen von Material und Produkten zu verlängern und Ressourcen so lange wie möglich und mit dem höchstmöglichen Wert in Gebrauch zu halten.

Die gemeinnützige Ellen MacArthur Foundation, die Kreislaufwirtschaft fördert, beschreibt sie als ein System mit dem Ziel, „Wachstum neu zu definieren und sich auf den positiven Nutzen für die gesamte Gesellschaft zu konzentrieren. Dazu gehört die schrittweise Entkopplung der Wirtschaft vom Verbrauch endlicher Ressourcen und die Reduzierung von Abfall.“ Vorbild ist die Natur, etwa wenn abgestorbene Pflanzen zu Humus werden und wiederum Nährstoffe für neue Pflanzen liefern.

Wert eines Produkts schützt vor Entsorgen

Ein Grundprinzip der Kreislaufwirtschaft ist es, Material und Produkten einen Wert beizumessen, statt sie als Abfall zu deklarieren. Dinge, die einen Wert haben, werden wir nicht einfach entsorgen. Wenn wir so denken, dann ist beispielsweise ein Kleidungsstück plötzlich so wertvoll, dass Wegwerfen nur im äußersten Notfall eine Option ist. Vorher kann Weitergeben, Flicken, Upcyceln, Wiederaufbereiten oder als letzte Möglichkeit auch Recyceln erwogen werden, um die Ressourcen daraus für neue Kleidungsstücke zu verwenden.

Die Kreislaufwirtschaft beginnt bereits beim Designen und Entwickeln von Produkten. Wie sie reparaturfähig und dauerhaft einsatzfähig sind, muss beispielsweise von Anfang an mitgedacht werden. Fehlt dieser Gedanke beim Entwickeln der Produkte und Dienstleistungen, dann kratzen wir nur an Symptomen.

Systemwandel nötig, damit Kreislaufwirtschaft gelingt

Verschiedene Aspekte sind wichtig:

  • Verwendung nachwachsender, klima- und umweltfreundlich gewonnener Rohstoffe
  • Einsatz erneuerbarer Energien
  • Auf Langlebigkeit angelegte Waren
  • Reparaturfähigkeit (z. B. Elektronikgeräte)
  • Wiederverwendbarkeit (z. B. Pfandflaschen)
  • Trennbarkeit der enthaltenen Rohstoffe für das Recycling
  • Anbindung an Recycling-Systeme

Im linearen Wirtschaftssystem werden einzelne Produkte und Dienstleistungen isoliert behandelt. Die Baumwollernte für eine Jeans hat beispielsweise nichts mit ihrem Verkauf zu tun. Im zirkularen Denken hingegen gilt jeder Schritt als Teil eines Systems, an dem verschiedene Akteure beteiligt sind: Jemand designt ein Kleidungsstück mit dem Ziel einer langen Nutzungsdauer, andere übernehmen die umwelt- und sozialverträgliche Herstellung, weitere Akteure kümmern sich um Verkauf und schließlich den möglichst langen Gebrauch, etwa durch Reparatur, Weitergabe im Secondhandshop oder einen Verleih. Jeder einzelne Schritt wird wertgeschätzt, weil er zum Gelingen der Kreislaufwirtschaft beiträgt.

Text: Debora Alder-Gasser

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Im Kloster lernte Sebastian Entschleunigung – So setzt er sie im Alltag um

Für Sebastian Steinbach flog der Alltag nur so dahin. Doch bei den Mönchen lernte er mit einem einfachen Ritual eine neue Achtsamkeit.

Mit der Zeit ist das eine seltsame Sache. Einer meiner geflüchteten Freunde hatte über zwei Jahre hinweg viel zu viel davon. Während er auf seinen Asylbescheid wartete, zogen sich die Tage schier endlos. Es gab keine Abwechslung, keine Aufgaben, keinen klaren Tag X, auf den er warten konnte. Nur Zeit. Beinahe unendlich viel Zeit. So viel, dass sie zu einem einheitlichen Brei verschmolz. Er hat an diese Zeit kaum mehr detaillierte Erinnerungen.

Ich selber leide eher unter dem entgegengesetzten Phänomen. Meine Zeit reicht nie aus. Meine Tage sind immer zu kurz. Zu viele Pflichten, Möglichkeiten und Interessen, dazu die eigene (wunderbare) Familie, Freundschaften und das Bedürfnis nach ein wenig Zeit für mich selbst. Jahr für Jahr, Woche für Woche, Tag für Tag rauschen nur so durch. Spätestens nach dem Frühstück saugt mich der Tag ein und spuckt mich erst am Abend wieder aus – oft mit dem nagenden Gefühl, wieder mal nicht genug geschafft zu haben. Meine Tage sind laut, voll und schnell. Und auf eine eigentümliche Weise verschmilzt die Zeit auch bei mir zu einer Art Einheitsbrei (wenn auch mit viel Abwechslung zwischendurch).

Leben in Klosterruinen

Jetzt habe ich das Glück, mitten in einem Kloster zu wohnen, denn das Pfarrhaus, in dem wir leben, steht innerhalb der Mauern des alten Klosters Hirsau. Das Kloster selbst besteht beinahe nur noch aus Ruinen, aber ein Dreischalenbrunnen plätschert vor meiner Haustür und wenn ich langsam über das Gelände spaziere, spüre ich eine heilsame Unterbrechung dieses Dahinfliegens. Etwas wird langsamer in mir. Ich erlebe Zeit in diesen Momenten für eine kleine Weile nicht als etwas, das mir fehlt oder wovon ich ständig zu wenig habe.

Seit meinen ersten Spaziergängen durch diese alten Klostermauern fasziniert mich deshalb das Mönchtum und ich war über die Jahre in verschiedenen Klöstern für Einkehrtage und Zeiten der Stille. Am stärksten berührt und geprägt haben mich dort die Tagzeitengebete, also die regelmäßigen Gebetszeiten, die sich über den Tag verteilen. Ich habe gestaunt: Selbst für Mönche und Nonnen verfliegt die Zeit, wenn sie nichts dagegen unternehmen. Auch im Kloster gibt es genug zu tun, genügend Aufgaben und Herausforderungen, die immer bis zum Abend reichen. Aus diesem Grund haben Mönche gelernt, sich zu unterbrechen: regelmäßig und mehrfach am Tag. Sobald die Glocken zum Gebet rufen, legen sie Stift oder Küchenmesser oder Gartenschaufel aus der Hand, eilen zum gemeinsamen Gebet … und werden dort still. Langsam. Kommen zur Ruhe. Lassen sich umhüllen und tragen von den alten, starken Worten der Psalmen. Empfangen neu Stille, Kraft, Fokus und Ermutigung. Und kehren dann anders in ihren Tag zurück.

Mir gefällt, was Anselm Grün in seinem Buch „Vom Burnout zum Flow“ schreibt: „Rituale schaffen eine heilige Zeit. Heilig ist das, was der Welt entzogen ist, worüber die Welt keine Macht hat. Heilig ist das, was Gott gehört: In der heiligen Zeit kann niemand über mich verfügen.“

Die Kraft der Rituale

Rituale wie die Tagzeitengebete haben die Kraft, mich aus dem Hamsterrad der Arbeit immer wieder herauszureißen. Sie bilden einen Ruhepunkt mitten in der Hektik des Alltags und befreien mich von dem Druck, dem ich mich ausgesetzt fühle. In den Tagzeitengebeten habe ich den Eindruck, dass ich selber lebe, anstatt von außen gelebt zu werden. Sie schenken mir kleine, aber kostbare und wirksame Räume der Freiheit. Sie geben meinem Tag Rhythmus, Tiefe und Qualität.

Bleiben zwei Herausforderungen. Zum einen haben es die Mönche und Nonnen mit solch heiligen Unterbrechungen leichter, weil sie in einer Gemeinschaft leben. Sie geben ihrem Tag gemeinsam einen Rhythmus. Die Zeiten sind vorgegeben, alle tun zur selben Zeit das gleiche. Ich als Nicht-Mönch muss mir diese Zeiten selbst geben und selbst einhalten. Und zum anderen muss ich diese Zeiten auch selbst gestalten. Klösterliche Tagzeitengebete sind komplex und alt und lang und auf gemeinsames Singen und Beten angelegt. Sie passen einfach nicht in meinen Alltag.

Meditation to Go

Aus diesem Bedürfnis heraus haben wir hier bei uns im alten Kloster Hirsau in den letzten Jahren einige moderne Tagzeitengebete für den Alltag entwickelt – zum Lesen und zum Hören. Sie wollen helfen, dem Tag einen Rhythmus zu geben und uns regelmäßig zu unterbrechen: am Morgen, am Mittag und am Abend. Es sind einige „Basic-Tagzeitengebete“ entstanden und der Tagzeitengebet-Podcast „Lebens-Liturgien für den Alltag“. Über unsere Website (amen-atmen.de) kann sich jeder und jede Einzelne das Kloster mit seinen Tagzeitengebeten und mit der Möglichkeit, eine Kerze zu entzünden, nach Hause holen.

Eine ganze Weile habe ich regelmäßig meine Tagzeitengebete gehalten und dabei viel für meinen Lebensrhythmus gelernt. Aktuell bin ich wieder freier unterwegs. Beibehalten habe ich jedoch die heilsamen Unterbrechungen am Morgen, am Mittag und am Abend. Während ich morgens viel mit den Tagzeitengebeten bete, lege ich mich nun mittags ein paar Minuten hin und praktiziere das alte orthodoxe Jesus-Gebet: Beim Einatmen spreche ich still in Gedanken „Jesus“, beim Ausatmen „Christus“. Abends lege ich mich oft für einige Minuten zu meinen Kindern, wenn ich sie ins Bett bringe und reflektiere dabei den Tag auf eine Weise, wie ich es in den Tagzeitengebeten gelernt habe. Ich spüre: Ich brauche diese Unterbrechungen. Sie verwandeln, wie ich Zeit erlebe, und schenken mir eine innere Ruhe und einen Frieden, die mir und anderen wohltun.

Sebastian Steinbach ist Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Hirsau.

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Nachhaltige Mode: Mit diesen Tipps finden Sie sich im Fairtrade-Dschungel zurecht

Umweltsiegel, Second Hand und Capsule Wardrobe: Fairtrade-Mode kann überfordern. Dabei helfen schon kleine Tricks beim nachhaltigen Kleiderschrank.

Wie viele Kleidungsstücke besitze ich eigentlich? Diese Frage stellte ich mir vor ein paar Wochen, als ich mit der frisch gefalteten Wäsche vor meiner Kommode stand und erfolglos versuchte, alle Klamotten darin zu verstauen. Egal, wie sehr ich versuchte, zu quetschen und zu puzzeln: Meine Kommode ging nicht mehr zu. Der Stapel mit Pullis passte einfach nicht hinein.

5,8 Millionen Tonnen Kleidung landen im Müll

Etwa 60 neue Kleidungsstücke kaufen wir hierzulande jährlich, sagt die Umweltorganisation Greenpeace. Ich würde mich in Sachen Kleidung eigentlich als eher sparsam bezeichnen, und trotzdem haben sich in meinem Schrank 116 Teile angesammelt, von denen ich die Hälfte im letzten Jahr nicht einmal getragen habe. Nimmt man Socken und Unterwäsche dazu, wird die Zahl noch viel größer. 5,8 Millionen Tonnen Kleidung landen in Europa im Müll – pro Jahr. Nur ein kleiner Teil davon wird recycelt, weil die Fasern für die Wiederaufbereitung nicht geeignet sind oder die Kleidungsstücke aus Fasergemischen bestehen, die sich nicht sauber voneinander trennen lassen. Das meiste landet deshalb auf der Müllkippe oder wird verbrannt.

Wie genau es in der Fashion-Industrie aussieht, habe ich bei Sandra Dusch Silva erfragt. Sie ist Expertin für nachhaltige Lieferketten bei der Christlichen Initiative Romero (CIR), einem Verein, der sich mit Kampagnen- und Bildungsarbeit für ein gerechtes Wirtschaftssystem engagiert. Die Zahlen sind gigantisch: Die Fashion-Industrie verbraucht weltweit pro Jahr 98 Millionen Tonnen Erdöl, 79 Milliarden Kubikmeter Wasser – etwa anderthalb Mal so viel, wie der Bodensee fasst – und stößt fast 1.500 Tonnen CO2 aus. Zudem werden mehrere Millionen Tonnen umweltschädlicher Materialien produziert.

Die Angestellten seien diesen Chemikalien oft ohne ausreichende Schutzkleidung ausgesetzt, ihre Löhne reichten kaum zur Existenzsicherung und wer sich für bessere Arbeitsbedingungen in Gewerkschaften organisieren wolle, verlöre leicht seinen Job, erzählt Sandra Dusch Silva. Und in der Coronazeit habe sich diese Situation noch verschärft: „Es zeichnet sich ab, dass viele während der Pandemie dort nicht arbeiten konnten und damit auch nicht entlohnt wurden. Das hat die ökonomische Abhängigkeit noch verstärkt – die Schere zwischen Arm und Reich geht so global immer weiter auseinander.“

Welches Nachhaltigkeitssiegel ist passend?

Wenn ich das so höre, vergeht mir die Lust auf neue Kleidung. Aber gar nichts zu kaufen, ist natürlich keine Lösung, schließlich sind Kleidungsstücke Verbrauchsgegenstände – irgendwann gehen sie kaputt und müssen ersetzt werden. Auch wenn das bei meiner vollen Kommode womöglich noch ein Weilchen dauert. Was aber kann ich tun, um meinen Kauf möglichst nachhaltig zu gestalten? Weil ich als Endverbraucherin kaum selbst herausfinden kann, wo und wie Kleidung produziert wurde, sind Siegel eine gute Hilfe. Sie werden von Prüforganisationen vergeben, die die Herstellungsbedingungen der Kleidung überwachen.

Meist konzentriert sich ein Siegel nur auf einen Aspekt der Herstellung, zum Beispiel die Herkunft der Rohstoffe oder die faire Bezahlung. „Ein Siegel bedeutet nicht, dass es gar keine Probleme mehr in der Wertschöpfungskette gibt“, sagt Sandra Dusch Silva, „aber es stellt sicher, dass einige soziale oder ökologische Knackpunkte angegangen werden und dort nach Verbesserungsmöglichkeiten gesucht wird.“ Deshalb hält sie Siegel grundsätzlich für einen guten Hinweis auf fairere Mode. Allerdings gibt es viele verschiedene und nicht alle sind gleich aussagekräftig.

„Einige Unternehmen setzen sie ein, haben aber nicht wirklich ein Interesse an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen im globalen Süden“, gibt Sandra Dusch Silva zu bedenken. Manchmal gehe es nur darum, Imageschäden zu reduzieren oder den Ruf aufzuhübschen. „Da fließt dann viel Geld, aber am Ende verspricht so ein Siegel dann nur die Einhaltung nationaler Gesetze – was ja eigentlich ohnehin Standard sein sollte“, findet sie und gibt mir ein paar Tipps mit auf den Weg, woran ich gute Siegel erkenne. Um einen Blick auf die jeweiligen Webseiten komme ich nicht herum: „Wichtig ist die Transparenz. Wenn mir nicht gesagt wird, wie man die Einhaltung der Kriterien überprüft und durch wen, dann sollte man das Siegel mit Vorsicht genießen.“ Außerdem sei die Frage wichtig: Wer setzt den Standard, den das Siegel vorgibt? Wer trifft die Entscheidungen dafür?

Webseiten helfen bei der Siegel-Suche

Sandra Dusch Silva wirbt für Siegel-Initiativen, bei denen verschiedene Akteure mit am Tisch sitzen und Probleme in der Wertschöpfungskette aus verschiedenen Perspektiven angehen. Auf Webseiten wie siegelklarheit.de und labelchecker.org werden die wichtigsten Siegel erklärt und eingeordnet. Dort kann man auch nach bestimmten Initiativen suchen.

Wer sich neben den Siegeln für die allgemeine Nachhaltigkeitsbilanz einzelner Modemarken interessiert, kann einen Blick auf das Projekt „Good on You” werfen: Dort werden Marken aufgrund ihrer ökologischen und sozialen Produktionsbedingungen bewertet. Die zugehörige App funktioniert gut, um im Laden kurz einzelne Marken abzuchecken. Allerdings stammt sie aus den USA, die erklärenden Texte gibt es nur auf Englisch und nicht jede deutsche Marke findet sich dort. Ein Angebot zum Checken der Löhne ist fashionchecker.org. Dort wird erklärt, welche Bekleidungsunternehmen existenzsichernde Löhne zahlen und wo produziert wird. Auch wer nach fair produzierenden Marken sucht, wird auf diesen Seiten fündig.

Wie sinnvoll ist der „Grüne Knopf“?

Schon lange haben Umweltorganisationen die Einführung eines umfassenden Siegels gefordert. Mit dem „Grünen Knopf” existiert nun seit zwei Jahren das erste staatliche deutsche Textilsiegel, das sowohl Unternehmen als auch deren Produkte auf ihre soziale und ökologische Nachhaltigkeit überprüft. Allerdings gibt es auch Kritik: „Der Grüne Knopf ist nicht weitreichend genug“, findet Sandra Dusch Silva. „Zum Beispiel werden existenzsichernde Löhne und das Recht auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen nicht aktiv gefördert. Außerdem sind die Prüfverfahren viel zu intransparent – gerade bei einem staatlichen Siegel sollte es eigentlich das absolute Minimum sein, Kontrollberichte und Ähnliches zu veröffentlichen.“

Wie nachhaltig ist meine Jeans?

Neben Siegeln helfen auch ein paar Grundregeln beim Einkauf. Zum Beispiel sind natürliche Stoffe wie Baumwolle umweltfreundlicher als synthetische Materialien wie Polyester, bei denen sich beim Waschen Mikrofasern lösen und in den Wasserkreislauf gelangen. Aber auch Baumwolle ist nicht gleich Baumwolle: Genetisch veränderte Monokulturen gefährden die natürlichen Ökosysteme und brauchen deutlich mehr Wasser als Pflanzen aus biologischem Anbau. Deshalb ist Bio-Baumwolle immer die bessere Wahl.

Bei Jeansstoffen gilt die Faustregel: Je heller, desto schlechter. Denn für die Bleichvorgänge kommen häufig umwelt- und gesundheitsschädliche Chemikalien zum Einsatz. Das gilt nicht für alle Marken, ist aber eine gute Orientierung für Jeansartikel, bei denen über die Herkunft nicht viel bekannt ist.

Diese Regeln helfen beim Kleiderkauf

Ganz grundlegend muss sich aber vor allem unsere Einstellung zu Kleidung ändern. Denn egal, ob bio oder nicht, ausgebeutet oder fair bezahlt: Die Masse an Kleidung, die wir konsumieren, ist einfach zu groß. Unser Planet ist überfordert mit den Ressourcen, die wir für unseren aktuellen Lebensstil verbrauchen und dem Müll, den wir hinterlassen. Deshalb sollten wir einen anderen Weg einschlagen, weg von Fast Fashion und hin zu einem bewussteren Modekonsum. Ein erster Schritt könnte zum Beispiel sein: keine Impulskäufe mehr. Bevor ein Teil an der Kasse landet, stelle ich mir die Fragen: Brauche ich das wirklich? Welchen Mehrwert bringt es in meinen Kleiderschrank? Welches Kleidungsstück erfüllt die Rolle dieses Neuzugangs momentan? Manchmal hilft es auch, den Laden nach der Anprobe wieder zu verlassen und erst später zurückzukommen und über den Kauf zu entscheiden. Oder – wie beim Wocheneinkauf im Supermarkt – vorher festzulegen, was ich eigentlich brauche und mich dann von Schnäppchen und Trends nicht beirren zu lassen.

Ein beliebtes Konzept ist die sogenannte „Capsule Wardrobe“. Die Londoner Boutiquenbesitzerin Susie Faux prägte den Begriff in den 1970er Jahren, als sie einige klassische Basics zusammenstellte, die bewusst zeitlos gehalten waren und mit einigen jahreszeitlichen Stücken ergänzt werden konnten. Heute suchen sich viele für eine bestimmte Zeit aus ihrer eigenen Kleidung eine Anzahl an Teilen aus, die sich gut kombinieren lassen. Die restliche Kleidung wird für diese Zeit weggepackt. Die christliche Social Media Managerin und Sinnfluencerin Larissa McMahon organisiert ihre Garderobe schon seit mehreren Jahren auf diese Weise. Sie findet, dieser bewusste Minimalismus kann das eigene Verhältnis zu Mode verändern: „Eine Capsule Wardrobe kann helfen, den eigenen Stil zu finden und entspannter mit Kleidung umzugehen.“ Sie hat gute Erfahrungen damit gemacht, ein Board bei Pinterest anzulegen und dort Kleidungsstücke zu pinnen, die ihr gefallen. „Daran konnte ich meinen eigenen Stil ganz klar erkennen und daran orientiere ich mich nun. Denn auch, wenn ich das ein oder andere Trendteil toll finde, oder den Stil von anderen, fühle ich mich doch in meinem Stil am wohlsten. Und das sind die Kleidungsstücke, die wir am Ende wirklich tragen.“

Wo kann ich nachhaltig einkaufen?

Soll der Kleiderschrank aber doch mal erweitert werden, lassen sich Jeans oder T-Shirts sehr gut in Second-Hand-Läden, über Ebay oder die Plattform vinted.de finden. Je länger Kleidung getragen wird, umso besser, denn das spart Material, Wasser und Energie. Dass gebrauchte Stücke meist auch günstiger sind, ist da ein netter Nebeneffekt.

Durch unsere Kaufentscheidungen nehmen wir Einfluss darauf, dass sich in der Modeindustrie etwas wandelt: Wenn Billigmodemarken auf ihren Klamotten sitzenbleiben, müssen sie etwas ändern. Häufig haben nachhaltig produzierte Kleidungsstücke aber ein großes Manko: Sie kosten deutlich mehr als die Konkurrenzprodukte aus der Fast-Fashion-Industrie. Nicht für alle ist es eine Option, 40 Euro für ein T-Shirt oder 120 Euro für eine Jeans auszugeben. Deshalb muss das langfristige Ziel sein, faire Kleidung zum normalen Standard und damit für alle zugänglich zu machen. T-Shirts für zwei und Hosen für acht Euro werden aber zu umweltverträglichen Bedingungen und fairen Löhnen nicht zu machen sein.

Diese Schwachstellen hat das Lieferkettengesetz

Die Arbeit in den Nähereien der Kleidungsindustrie bildet für einen Großteil der Bevölkerung von Bangladesch und benachbarten Ländern die Lebensgrundlage. Gleiches gilt für diejenigen, die auf den Baumwollfarmen schuften, Garne spinnen, Stoffe färben und Reißverschlüsse einsetzen. All diese Menschen sind auf eine sozial und ökologisch faire und vor allem transparente Lieferkette angewiesen. Mit dem neuen Lieferkettengesetz ist dafür ein erster Grundstein gelegt. In den Augen von Sandra Dusch Silva hat das Gesetz allerdings noch erhebliche Schwachstellen. „Es ist toll, dass Unternehmen jetzt für Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in gewissem Maße haftbar gemacht werden können, dass das jetzt kein gesetzesfreier wilder Westen mehr ist. Allerdings hat die Wirtschaft dafür gesorgt, dass es Abschwächungen gibt, zum Beispiel Ausnahmeregelungen bei Sorgfaltspflichten. Deshalb greift das Gesetz am Ende nicht weit genug.“

Die Entscheidungen zum Lieferkettengesetz haben gezeigt, dass der Einsatz vieler Initiativen und Einzelpersonen gewirkt hat, aber auch, dass der Druck auf die Wirtschaft größer werden muss. Kritische Nachfragen an der Kasse oder – noch besser – in einem Brief ans Unternehmen machen klar, dass Produktionsbedingungen für uns als Kunden und Kundinnen ein wichtiges Thema sind. „Von Betriebsräten aus größeren Modeunternehmen bekommen wir die Rückmeldung, dass solche Fragen nochmal auf einer ganz anderen Ebene auf das Unternehmen wirken“, sagt Sandra Dusch Silva.

Außerdem gibt es immer wieder Aktionen, um auf Probleme in der Kleidungsindustrie aufmerksam zu machen, zum Beispiel von der Kampagne für saubere Kleidung. Der oder dem Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises zu schreiben, ist zum Beispiel ein leichter Weg, Anliegen direkt in die tagesaktuelle Politik einzubringen. Auf jeden Fall gilt: hartnäckig bleiben. Die Modeindustrie ist riesig und die aktuellen Profiteure haben kaum Gründe, ihr Verhalten zu ändern. Deshalb müssen wir unsere Chance nutzen, ihnen diese Gründe zu liefern. Und Sandra Dusch Silva ermutigt, auch das eigene Umfeld für das Thema zu sensibilisieren – durch Gespräche oder auch Aktionen wie eine Kleidertauschparty, bei der alle ausrangierte Kleidung mitbringen, tauschen und über Probleme der Modeindustrie nachdenken – und darüber, wie sie nachhaltiger werden kann.

Marie Gundlach studiert Wissenschaftsjournalismus in Dortmund und liebt Second-Hand-Onlineshopping.

Symbolbild: Getty Images / E+ / LordHenriVoton

Kommentar: Paradoxe Querdenker – Die Demokratie ist nicht in Gefahr

Jetzt das Ende der Demokratie zu verkünden, ist absurd. Trotzdem dürfen wir gegen Entscheidungen aufbegehren, sagt Uwe Heimowski, politischer Beauftragter der Evangelischen Allianz im Bundestag.

Mein Berliner Büro als politischer Beauftragter der Evangelischen Allianz in Deutschland hat eine exponierte Lage. Unser direkter Nachbar ist die US-Botschaft, wir sind knapp drei Minuten vom Brandenburger Tor und fünf Minuten vom Reichstagsgebäude entfernt. Wir arbeiten direkt am Puls der Republik, könnte man sagen.

Wenn in der Bundeshauptstadt demonstriert wird, sitzen wir buchstäblich in der ersten Reihe. Und demonstriert wird fast immer. Seien es stille Mahnwachen, bei denen Lebenslichter an die Opfer der Staatsgewalt in Belarus erinnern. Oder seien es große Demonstrationszüge wie der von Fridays for Future im Herbst 2019, bei dem Zehntausende vor allem junge Menschen mehrere Stunden friedlich die Straße unter unserem Fenster entlangliefen.

Querdenker vor der Haustüre

Auch die Querdenker demonstrierten rund um das Regierungsviertel. Ich musste nur zur Tür hinaustreten, um mir ein eigenes Bild zu machen. Das tat ich bei einigen Gelegenheiten (als einer von wenigen, die einen Mundschutz trugen, was mir eine Reihe spitzer Bemerkungen eintrug). Über die Querdenker-Demos wurde viel berichtet. Die Bilder von Aktivisten, die mit Reichskriegsflaggen in den Händen die Treppenstufen zum Reichstagsgebäude hinaufstürmten, gingen um die Welt. Ein unvergleichlicher Vorgang in unserer jüngeren Geschichte.

Manche wiegeln ab: Es sei nur eine Handvoll Leute gewesen, und zu wirklicher Gewalt ist es nicht gekommen. Ich war vor Ort an diesem Wochenende. Mein Eindruck: Es gab Tausende friedliche Demonstranten. Einige schräge Vögel sicher, ein paar Sektierer, die meisten waren ziemlich ungefährlich. Aber: Die Reichstagsstürmer waren nur der Gipfel des Eisbergs. Viele fragwürdige Gestalten tummelten sich gemeinsam mit friedlichen Kritikern der Corona-Maßnahmen auf den Straßen. Ich sah Ehepaare in QAnon-Shirts und kahlrasierte Männer mit spärlich verborgenen Runentattoos. Ich hörte einen Mann in sein Megafon brüllen, dass es den Abgeordneten „jetzt endlich an den Kragen“ gehe. Plakate sprachen der Bundesrepublik ihr Existenzrecht ab. Mehrere Redner behaupteten, die Meinungsfreiheit sei in Deutschland faktisch abgeschafft. Andere sprachen von „Corona-Diktatur“.

Die Demonstration ist Beweis für die Demokratie

Ironischerweise geschah das alles auf einer durch das Demonstrationsrecht geschützten Veranstaltung. Das Verwaltungsgericht hatte noch am Vortag entschieden, dass der Berliner Senat die Demo nicht verbieten dürfe. Den offensichtlichen Widerspruch nahmen die Querdenker nicht wahr: In welcher Diktatur wäre es möglich gewesen, dass ein Gericht gegen die Regierung entscheidet? Damit singen gerade die Verächter der Demokratie, ohne es zu merken, unserem Rechtstaat ein (paradoxes) Loblied.

Tief eingeprägt hat sich mir ein Interview aus dem Jahr 2014. Eine griechische Boulevardzeitung hatte eine Karikatur veröffentlicht, in welcher die Kanzlerin eine Armbinde mit einem Hakenkreuz trug. Darauf angesprochen antwortete Merkel sinngemäß: „Wissen Sie, ich komme aus der ehemaligen DDR, Sie können sich gar nicht vorstellen, was es mir bedeutet, dass wir heute Meinungsfreiheit haben. Da gehören solche Karikaturen wohl mit dazu.“

Paradoxe Populisten

Populisten (von lateinisch populus, das Volk) betonen oft: Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Das ist in der Tat ein wesentlicher Aspekt! Nur: Sie, die Populisten, geben vor, im Namen dieses Volkes zu sprechen. Was für eine Hybris, für die eigene Position eine angebliche (schweigende) Mehrheit zu reklamieren! Und: Demokratie ist viel mehr als nur „Volksherrschaft“.

„Wir sind das Volk“ war 1989 der richtige Ruf auf den Straßen in Leipzig oder Plauen. Er erinnerte die Führung eines Unrechtsstaat an die (Freiheits-)Rechte der Bürger. Dass ich eine solche friedliche Revolution (wenn auch aus Westperspektive) miterleben durfte, wird mich mein Leben lang zum Staunen bringen. Umso mehr erschüttert mich, wenn Menschen heute beklagen, dass die Zustände schlimmer seien „als in der DDR oder in Kuba“.

Zum Glück ein Rechtsstaat

Das Wesensmerkmal einer modernen Demokratie ist eine starke Verfassung, eine Demokratie ist nicht nur ein Mehrheits-, sondern vor allem ein Rechtsstaat. Eine Volksherrschaft ohne die Basis des Rechts wäre Anarchie oder „Demokratur“ – die dann zu einer Diktatur führen kann. Das haben wir Deutschen in unserer Geschichte leidvoll erfahren müssen, als die Weimarer Verfassung von Adolf Hitler mit „demokratischen“ Mitteln ausgehebelt wurde. In jüngster Vergangenheit haben wir das beim „arabischen Frühling“ gesehen, der so hoffnungsvoll begann, und dann etwa in Ägypten die Muslimbruderschaft an die Macht gespült hat.

Rechtstaatlichkeit ist zentral für Demokratien. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland spiegelt sich die Erfahrung der Naziherrschaft. Gleich zu Beginn schließt es aus, dass es in Zukunft wieder eine überlegene „Rasse“ geben dürfe, Menschenrechte gelten allen. Danach wird die Verantwortung für den Frieden in der Welt betont: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Grundgesetz, Artikel 1). Ähnlich sind andere Europäische Verfassungen aufgebaut, etwa in Österreich und der Schweiz: Die Freiheitsrechte des Einzelnen werden gesichert, das schließt die Verantwortung für das Ganze der eigenen Gesellschaft und der übrigen Welt mit ein. Die Rechte des Einzelnen erreichen da ihre Grenze, wo sie die Rechte eines anderen einschränken.

Demokratie muss wehrhaft sein

Auf dieser Rechtsgrundlage fußt die Demokratie. Sie bindet den einzelnen Bürger ebenso wie die Regierungen. Wo eine Regierung gegen die eigene Verfassung verstößt, hat der Bürger das Recht, dagegen aufzubegehren. Um es mit einem alten Graffiti-Spruch zu sagen: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Wenn der Staat Menschenrechte verletzt, dann gilt es dem Gewissen zu folgen, und sich dem Staat zu widersetzen.

Aber ist das die heutige Situation? Die Querdenker dürfen ihre Inhalte verbreiten, sie dürfen für Veranstaltungen werben und Demonstrationen anmelden. Das ist ihr demokratisches Recht. Wenn auf der Demo aber Menschen gefährdet sind, weil Auflagen zum Gesundheitsschutz nicht eingehalten werden oder wenn zu Gewalt aufgerufen wird, dann muss die Versammlung aufgehoben werden. Das ist nicht etwa ein Angriff auf die Demokratie selbst, sondern ein Ausdruck davon, dass die Demokratie auch wehrhaft sein muss und sein kann. Es geht in diesen Zeiten um nicht weniger als um die Demokratie selbst. Wir müssen sie verteidigen gegen ihre Verächter.

Es braucht Vertrauen in die Demokratie

Dafür müssen wir der Demokratie vertrauen. Vertrauen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Vertrauen setzt Mut frei. Gerade in einer Krise. Als Vertreter der Evangelischen Allianz behaupte ich außerdem, dass gerade Christen angehalten sind, als verantwortliche Bürger alles zu tun, um das Vertrauen in unsere Verfassungs-Demokratie zu stärken. Gerade jetzt gilt es, unsere Institutionen zu stärken, die unabhängige Justiz und die Leitmedien zu unterstützen, statt sie abzuwerten.

Dazu gehört natürlich, dass wir uns kritisch zu Wort melden. Demokraten sind eben gerade keine Schlafschafe. Als politischer Beauftragter der Evangelischen Allianz habe ich in der Pandemie früh darauf hingewiesen, dass eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit (und damit der Religionsausübungsfreiheit) immer nur vorübergehend sein darf. Ich habe an die einsamen alten Menschen in Pflegeheimen erinnert, auf die Missstände in Schulen und Universitäten hingewiesen, die Korruptionsaffäre um Schutzmasken öffentlich angeprangert – gerade weil ich nicht bereit bin zu resignieren, sondern dieser Demokratie so sehr vertraue, dass ich mich an ihr beteilige.

Nicht beim allgemeinen Politiker-Bashing mitspielen

Genauso gilt es, denen entgegenzutreten, die mit einfachen Parolen versuchen, die Regierenden in ein falsches Licht zu stellen, den Staat und seine Organe zu schwächen und das Recht umzudeuten. Es gilt Fake-News zu entlarven und nicht beim allgemeinen Politiker-Bashing mitzuspielen. Wenn wir kritisieren, dann nicht pauschal, sondern konkret, konstruktiv und ohne persönliche Angriffe.

Ein Beispiel: Eine Politikerin hat ihren Lebenslauf ungenau veröffentlicht und den Bezug von Weihnachtsgeld zu spät dem Bundestag gemeldet. Das sind Fehler. Es ist richtig, sie als solche zu benennen. Man kann auch über einen Rücktritt diskutieren (den ich persönlich nicht für angemessen hielte). Populistisch ist, nun Halbwahrheiten in die Welt zu setzen und die Politikerin persönlich anzugreifen. Das hat mit einem politischen Diskurs nicht das Geringste zu tun. Es ist menschenverachtend und demokratiefeindlich. Als Christ möchte ich mich daran nicht beteiligen.

Etwas anders ist die Situation bei Parlamentariern, die über ihre Firmen mehrere Hunderttausend Euro an Provisionen für Corona-Schutzmasken eingestrichen haben. Angesichts der Schwere der Vorwürfe waren Rücktritte notwendig. Strafrechtliches Fehlverhalten und auch die Vorteilsnahme von Politikern dürfen nicht folgenlos bleiben. Doch auch in diesem Fall schießen persönliche Beleidigungen über das Ziel hinaus.

Demokratie heißt mitgestalten

Demokratie lebt vor allem davon, dass wir sie (mit-)gestalten. Dafür gibt es unzählige Möglichkeiten (um die uns übrigens viele Menschen rund um den Erdball beneiden). Wir können an Debatten teilnehmen, in den neuen Medien oder mit dem „altmodischen“ Leserbrief. Wir können im sogenannten „vorpolitischen Raum“ als Elternsprecher und in Vereinen aktiv werden. Wir können in Parteien eintreten und allein schon durch unsere Mitgliedschaft ein Zeichen setzen. Und wem es möglich ist, der kann dort Inhalte prägen und dafür arbeiten, dass uns Meinungsfreiheit, Recht und Gerechtigkeit erhalten bleiben.

In unserer Gesellschaft ist das möglich. In Freiheit. Wir alle sind am Puls der Demokratie. Ein Hoch auf uns. Nutzen wir die Chancen.

Uwe Heimowski ist Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz am Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung in Berlin.

Symbolbild: Getty Images / E+ / nimis69

Ein Kraftwerk im eigenen Haus? Ingenieur erzählt, wie das geht

Heizöl ist zu kostbar, um damit nur zu heizen, fand Tom Schmieder vor 15 Jahren – und lässt seither sein kleines Kraftwerk im Keller gleichzeitig Strom und Wärme produzieren.

Wer ein neues, innovatives Haus baut, braucht auch eine neue, innovative, klimafreundliche Heizanlage. Das war mein Grundgedanke damals. Ich entschied mich für ein Mini-Blockheizkraftwerk (BHKW) und habe gute Erfahrungen gemacht: Immer hatte ich eine optimale effiziente Brennstoffnutzung, Wärme und eine Stromausbeute, die meinen Strombedarf umweltfreundlich deckte.

Wie funktioniert ein Blockheizkraftwerk?

Ein BHKW ist eine Heizungsanlage, in der ein Motor einen elektrischen Generator antreibt. Wertvoller Brennstoff wie Gas oder Öl wird nicht nur in Wärme, sondern durch Kraft-Wärme-Kopplung in Wärme und Strom zugleich umgewandelt. Der Strom wird mit einem hohen Wirkungsgrad erzeugt und vorwiegend vor Ort verbraucht. Mit der (Ab-)Wärme wird die eigene Immobilie beheizt. BHKWs werden meist „wärmegeführt“ betrieben. Das heißt: Ist ein Wärmebedarf vorhanden, startet die Anlage und liefert Wärme und Strom. Denkbar wäre auch, allein mit einer Wärmepumpe ohne Kraft-Wärme-Kopplung zu heizen. Doch das hat den Nachteil, dass der dafür verwendete Strom beim jetzigen Energiemix überwiegend aus Kohle stammt und damit einen hohen CO2-Ausstoß verursacht. Auch in einem Kohlekraftwerk entsteht Abwärme. Doch die wird durch den Kühlturm des Kohlekraftwerks geblasen. Die Kraft-Wärme-Kopplung nutzt die Abwärme ideal vor Ort zum Heizen.

Mit welchen Brennstoffen arbeitet ein Blockheizkraftwerk?

Mini-Blockheizkraftwerke gibt es heute für verschiedene Brennstoffe. Aus Klimasicht kommen vor allem Holz-Pellets, Pflanzenöl und Gas in Betracht.

Öl: Da es in meinem Baugebiet vor 15 Jahren keine Gasversorgung gab, entschied ich mich für einen Dieselmotor in Verbindung mit Heizöl. Ich plane gerade, ihn auf Pflanzenöl aufzurüsten. Das ist ein nachwachsender Rohstoff und gilt damit als CO2-neutral: Bei der Verbrennung wird so viel CO2 ausgestoßen, wie die Pflanzen beim Wachstum gespeichert haben. Zwar schmälern Dünger und Pestizide den Effekt und man kann darüber diskutieren, ob landwirtschaftliche Flächen für die Produktion von Kraftstoff genutzt werden sollten, aber unterm Strich erscheint es mir für meine ölbetriebene Anlage eine sinnvolle, weil klimafreundlichere Alternative zu sein.

Holz: Auch Holz-Pellets verbrennen CO2-neutral. Allerdings stößt eine Pellet-Heizung mehr Feinstaub aus als etwa eine Ölheizung. Zudem kann der Pellet-Bedarf nicht mehr durch Holzabfälle allein gedeckt werden und Wälder werden dafür abgeholzt. Wer sich für Holzpellets entscheidet, sollte deshalb auf Siegel wie den „Blauen Engel“ achten, die für eine nachhaltige Forstwirtschaft stehen.

Gas: Von den fossilen Brennstoffen ist Gas der effizienteste, deshalb gilt der Erdgasbetrieb als empfehlenswerte Überbrückungstechnologie.

Brennstoffzellen-Heizung wird gefördert

Besonders hervorheben muss man die Technik der Brennstoffzellen-Heizung, die stark gefördert wird und sehr umweltfreundlich ist. Brennstoffzellen werden entweder direkt mit Wasserstoff oder mit Erdgas betrieben. Bei der Verbrennung von Wasserstoff wird kein CO2 ausgestoßen, das Abfallprodukt ist Wasserdampf. Energieseitig erzeuge ich wie beim motorischen BHKW Strom und Wärme.

Wasserstoff kann man bis zu einem gewissen Prozentsatz (heute etwa zehn Prozent) auch dem Erdgasnetz zuführen. Wird der Wasserstoff mithilfe von Kohlenstoffdioxid zu Biomethan (sogenanntem „grünen Gas“) aufbereitet, kann es unbegrenzt ins Erdgasnetz eingespeist werden. Das Gas aus dem Erdgasnetz wird dann für die Variante motorisches BHKW (Otto-Motor) oder in der Brennstoffzelle verbrannt.

In jedem Fall ist es sinnvoll, die Kraft-Wärme-Kopplung eines BHKWs einzusetzen, um den wertvollen Brennstoff mit hohem Wirkungsgrad zu nutzen. Seit Anfang des Jahres gilt in Deutschland die CO2-Bepreisung. Pro Tonne CO2, die fossile Brennstoffe im Verbrauch verursachen werden, fallen derzeit 25 Euro an, bis 2025 soll der Preis auf 55 Euro steigen. Durch diese Mehrkosten werden die Weichen für die Art der Brennstoffnutzung neu gestellt.

Sparen beim Strom

Mini-BHKWs sind aus meiner Sicht eine gute Investition gegen steigende Energiekosten. Mit einer ergänzenden Akku-Anlage lassen sich die über den Tag verteilten Heizpausen, in denen kein Strom erzeugt wird, überbrücken. Diese Kombination bringt die größte Kosteneinsparung, weil einem als Selbsterzeuger der hohe Strompreis der Anbieter erspart bleibt. Die Stromausbeute ist für einen normalen Haushalt gut ausreichend.

Der Sommer-Strom-Bedarf kann natürlich über eine Fotovoltaik Anlage ergänzt werden, die selbstverständlich den gleichen Akku nutzt. So erreicht man über das Jahr betrachtet einen Autarkiegrad von rund 90 Prozent. Die letzten Prozente bezieht man sinnvollerweise vom Energieversorger, da es sich weder wirtschaftlich noch ökologisch lohnt, dafür einen größeren Akku anzuschaffen.

Anschaffung nie bereut

In meinen Augen sind BHKWs eine tolle Technik, die sich ökologisch auszahlt, weil Strom im Winter, wenn der Solarstrom rar ist, deutlich effizienter erzeugt wird. Der Wartungsaufwand ist zugegebenermaßen etwas höher als bei einer konventionellen Heizung, aber es kommt durch die Strom-Eigennutzung und -Einspeisung auch viel mehr rein.

Mein Resümee: Ich habe zu keinem Moment die Anschaffung meines Mini-BHKWs bereut. Es ist so ein gutes Gefühl, den wertvollen Brennstoff in der kalten Jahreszeit Kraft-Wärme-gekoppelt zu nutzen und damit einen Beitrag zur CO2-Minderung zu leisten.

Text: Tom Schmieder, ist Elektroingenieur, verheiratet und seit Jahrzehnten interessiert an regenerativen Energien und nachhaltiger Umwelttechnik.

Thomas und Mirjam Junginger, Foto: Privat

Nachhaltigkeit: Dieses Paar betreibt eine Foodsharing-Station im Keller

In ihrem NachhaltigkeitsNetzwerk wollen Mirjam und Thomas Junginger nicht nur Lebensmittel teilen, sondern auch Ideen und Know-How. 350 Kilogramm an Essen geben sie jede Woche ab.

Angefangen hat alles mit einer kleinen Frage im Bioladen: „Habt ihr Salat, der sich nicht mehr verkaufen lässt?“ Mirjam und Thomas Junginger suchten ihn ursprünglich als Futter für ihre Kaninchen und Hühner. Zum Salat bekamen sie nach und nach Heidelbeeren, Spargel und anderes, das sich nicht mehr verkaufen ließ. Einige Gespräche und Anfragen später stand die Familie mit Bergen von Obst und Gemüse da.

Foodsharing-Station im Keller

Zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel wandern jedes Jahr in Deutschlands Mülltonnen. Laut einer Studie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft stammen davon mehr als die Hälfte aus unseren privaten Haushalten. Aber auch im Handel wird eine halbe Million Tonnen vernichtet: Lebensmittel, die noch genießbar wären, sich aber nicht mehr verkaufen lassen – wie Gemüse und Obst mit Druckstellen, verpackte Lebensmittel mit ablaufendem Mindesthaltbarkeitsdatum oder scheinbaren Mängeln.

Solche Lebensmittel landen nun bei Thomas und Mirjam in einem kleinen Dorf in der Nähe von Stuttgart, in dem ich sie für ein Gespräch besuche. Als sie privat so viele Lebensmittel erhielten, dass sie mit dem Verarbeiten nicht mehr hinterherkamen, stolperten sie über die Internetplattform Foodsharing.de, über die mittlerweile 200.000 registrierte Ehrenamtliche noch genießbare Lebensmittel retten und verteilen. Jungingers fanden: Das ist die Lösung! 2016 schlossen sie sich der Foodsharing-Community an und aus ihrem kleinen Kellerraum wurde ein sogenannter Fairteiler. In diese Stationen können gerettete Lebensmittel gebracht und von allen kostenlos mitgenommen werden.

350 Kilogramm Essen pro Woche

Mittlerweile ist aus ihrem Fairteiler der „NetzwerkLaden“ geworden. Rund 350 Kilogramm Lebensmittel geben sie von dort pro Woche weiter. Dahinter steht zudem ein Netzwerk, das noch mehr will als Lebensmittel retten: „Wir wollen Menschen verbinden“, erzählt Thomas. „Nachhaltigkeit ist uns wichtig, aber es geht uns auch darum, mit dem Laden einen Raum zu schaffen, in dem Menschen sich begegnen können.“ Und auch ihr Glaube an Gott ist ihnen wichtig. So wichtig, dass sie letztendlich nicht mehr zur religions- und werteneutralen Foodsharing-Plattform passten. Hinter dem Konzept stehen sie nach wie vor, doch sie möchten auch über den Glauben ins Gespräch kommen. „Wir sind Christen, das ist unsere Motivation und das möchten wir auch kommunizieren“, sagt Mirjam.

Wer Teil der Gruppe ist, packt mit an

Neben dem Laden starten sie immer wieder verschiedene Aktionen, die die Menschen miteinander verbinden und auf das Thema Nachhaltigkeit aufmerksam machen. Es gibt Arbeits- und Ideengruppen, aber normalerweise auch ein monatliches Feierabendgrillen und Flohmärkte im April und Juni.

Das alles bedeutet eine Menge Arbeit: Lebensmittel müssen abgeholt, verarbeitet und sortiert, der Laden muss sauber gehalten werden. Deshalb gilt der Grundsatz: Alle helfen mit! Wer fester Teil des Netzwerkes ist und regelmäßig über Lebensmittellieferungen informiert werden will, ist auch Teil einer Arbeitsgruppe, die beispielsweise den Transport der Lebensmittel oder das Putzen übernimmt. „Manchmal sitzen wir auch zusammen und sortieren körbeweise Erdbeeren oder verarbeiten gerettete Lebensmittel“, erzählt Thomas. Arbeiten und Gemeinschaft, beides gehört hier zusammen.

Nachhaltigkeit heißt Wertschätzung

Nachhaltig leben kostet viel Zeit und bedeutet einen Mehraufwand, da sind sich Mirjam und Thomas einig – aber auch darin, dass es sich lohnt: „Nachhaltigkeit hat ganz viel mit dem Thema Wertschätzung zu tun“, meint Thomas. „Wir haben kein Verhältnis mehr zum Aufwand, der hinter den Dingen steckt.“ Es gehe darum, hinzuschauen und den Preis zu sehen, den andere Menschen und die Umwelt für unseren Konsum zahlen. Wir wollen heute alle Produkte möglichst billig und dauerhaft verfügbar haben. „Wenn man das wahrgenommen hat, kann man schrittweise nach einer Alternative suchen, die den Menschen und den Schöpfer in seiner Arbeit wertschätzt und damit auch ehrt“, sagt Thomas. Lebensmittel nicht einfach wegzuwerfen, sondern so gut es geht weiterzuverwenden, ist für ihn einer dieser praktischen Schritte.

Das Paar stößt an Grenzen

Eine besondere Idee waren ihre Monats-Challenges, die sie in einem Jahr angeboten haben. Was sie als kleine Familienaktion begonnen hatten, sprang aufs Netzwerk über: kleine Anregungen, von denen man sich jeweils einen Monat lang herausfordern lassen kann, nachhaltiger zu leben.

Dass Mirjam und Thomas dabei auch schnell an ihre Grenzen stoßen, geben sie gerne zu. Gerade auf Plastik und Verpackungsmüll zu verzichten, ist mit geretteten Lebensmitteln schwer. Aber das nehmen sie gelassen: „Wenn nur Nachhaltigkeit unser Ding, unsere Ideologie, wäre, würden wir an unseren Grenzen verzweifeln“, sagt Thomas. Immer wieder würden sie ihrem eigenen Maßstab nicht gerecht oder rutschten zurück in alte Gewohnheiten. Das kenne ich auch gut. Trotz aller vorbildlicher Vorsätze kaufe ich dann doch immer wieder mal billig und schnell ein, einfach aus Bequemlichkeit, obwohl ich weiß, dass Umwelt oder Menschen darunter leiden. Für Mirjam wird an dieser Stelle ihr Glaube lebendig: „Wir müssen uns für Rückschläge oder eigene Grenzen nicht selbst fertig machen, sondern können damit in aller Freiheit zu Gott kommen und sagen: Ich habe es nicht geschafft.“ Bei aller Motivation für den Einsatz im Alltag ist bei ihnen so auch ganz viel Platz für Gnade. Als ich am Mittag den Hof des Netzwerkladens verlasse, gehe ich voll bepackt und reich beschenkt: Gerettete Schokolade, eine Packung Feldsalat, eingemachte Ananas und selbst gebackenen Brotpudding packe ich in mein Auto. Außerdem nehme ich praktische Ideen und vor allem die Motivation mit, kleine Dinge nach und nach zu verändern.

Mirjam und Thomas vergleichen das Nachhaltigkeitsnetzwerk gerne mit einem Büfett: „Es deckt einen Tisch mit leckeren Ideen, die Lust machen auf Nachhaltigkeit, Gemeinschaft und Glaube!“ Alle packen sich auf den Teller, was sie möchten – und dann wird gemeinsam gegessen und gefeiert.

Anne Gorges ist Theologin, Schrebergärtnerin, Mama und Bloggerin (kleineweggedanken.de).

Zwei Vertreter des Yanesha-Volkes, das seit Jahrtausenden das Land bewohnt, aber nun mehrere Generationen lang verdrängt und versklavt wurde. Jens Bergmann und sein Verein Chance e. V. haben mit mehreren Yanesha-Gemeinschaften Kooperationen begonnen. Foto: Chance e. V.

Wie ein deutscher Verein den Regenwald und Indigene schützt

Der Verein Chance e. V. unterhält eines der größten privaten Naturschutzgebiete in Peru. Dort kämpft die Organisation gegen Monokulturen und die Ausrottung indigener Völker.

Wenn Jens Bergmann von seiner Reise in die südliche Amazonasregion Madre de Dios erzählt, hört man noch sein Entsetzen: „Es war so schrecklich, was wir dort gesehen haben. Ich war schon vorher dort gewesen und damals war es noch ein unberührter, artenreicher Teil Amazoniens – heute ist diese Gegend von mafiamäßig organisierten Goldgräbern völlig zerstört worden.“

Peru ist der größte Goldproduzent in Lateinamerika. Neben den legalen Minen sind hier schon seit Langem auch illegale Goldgräbertrupps am Werk. Mithilfe von hochgiftigem Quecksilber wird das Gold vom Gestein getrennt. Zurück bleiben vergiftete Schlammlöcher und abgeholzte Mondlandschaften, von denen sich die Ökosysteme ein Menschenleben lang nicht erholen werden. „Allein in dieser Gegend gibt es 20.000 Quadratkilometer quecksilberverseuchte Sandflächen, wo vor 15 Jahren noch Primärregenwald war“, erzählt Jens Bergmann, Gründer und erster Vorsitzender des Vereins Chance e. V. mit Sitz in Köln.

Waldhüter mit Satellitentechnik

Er und Elizabeth Luque, die Leiterin der peruanischen Partnerorganisation, waren 2013 in Peru unterwegs, um neue Einsatzmöglichkeiten für ihren Verein zu finden, den sie 2003 gegründet hatten. Nach dieser Reise beschlossen sie, sich in Amazonien für den Schutz von Regenwald zu engagieren und ließen sich fortbilden vom ehemaligen Leiter dreier großer Naturschutzgebiete.

Heute überwacht der Verein mit einer staatlichen Lizenz und 25 Mitarbeitenden wahrscheinlich das größte von einer christlichen Organisation betriebene Naturschutzgebiet der Welt. Mit Waldhütern, Kontrollposten und Satellitentechnik sichern sie ein 200 Quadratkilometer großes Gebiet vor Wilderern und Landräubern. Eine halb so große Fläche steht nochmals in Aussicht. „Mittlerweile haben wir eine sehr gute Arbeitsbeziehung zur Forstbehörde“, sagt Jens Bergmann. „Wenn sie von freien Flächen erfährt, weist sie uns darauf hin.“

20 Prozent des Landes soll Wildnis bleiben

Fast die gesamte Landesfläche in Peru ist konzessioniert: Der Staat bleibt immer Eigentümer, vergibt aber verschiedene Nutzungsrechte – für Erdöl, Erdgas, Tourismus, Bergbau, Landwirtschaft und auch für den Naturschutz. Mindestens zwanzig Prozent der Landesfläche will die Regierung auch langfristig als Wildnis erhalten. Zum Vergleich: In Deutschland sollen in Zukunft zwei Prozent unbewirtschaftet bleiben, nicht einmal das wird aber aktuell erreicht.

Damit eine Naturschutzkonzession beantragt werden kann, müssen Bedingungen erfüllt sein: Keine indigene Bevölkerung darf dort leben, kein Bergbau darf betrieben werden. Eine Konzession wird für vierzig Jahre übertragen und kann bei gutem Management verlängert werden.

Im Behördendschungel

Für die Antragstellung war viel Ausdauer erforderlich. Als Jens Bergmann und sein Verein von einem freien Stück Regenwald erfahren hatten, begannen zweieinhalb Jahre schwieriger Verhandlungen. Die Mitarbeitenden der Forstbehörde gelten als schlecht ausgebildet, sind fast immer unterbezahlt und nicht selten korrupt. Hinzu kommt in Peru ein Zuständigkeitswirrwarr: Gesetze und Verordnungen widersprechen sich mitunter, selbst die Mitarbeitenden steigen oft nicht durch. Nachdem der Verein den ersten Antrag mit allen Unterlagen und Unterschriften für die Naturschutzkonzession gestellt hatte, wurde ein neues Forstgesetz verabschiedet. Nun war zusätzlich ein Dekret des Staatspräsidenten notwendig und konnte erst nach dem Zusammenschluss mit anderen NGOs erwirkt werden. „Dann wurde plötzlich der Leiter der Behörde in einer Nacht- und Nebel-Aktion festgenommen, weil er Chef einer illegalen Holzmafia war“, erinnert sich Jens Bergmann, „und daraufhin lag der Antrag erstmal rum.“ Der Verein schaltete bekannte Umweltanwälte aus Lima ein. Sie arrangierten ein Treffen mit der Chefin der nationalen Forstbehörde, drohten mit juristischen Schritten – und erhielten zwei Tage später die unterzeichneten Verträge.

Die Regenwaldfläche wurde auf die peruanische Partnerorganisation übertragen und die Arbeiten konnten beginnen: Die Grenzen des Gebiets mussten markiert und Bestandsaufnahmen gemacht werden. Lokale Waldhüter wurden ausgebildet, Kontrollposten an den Zugangswegen eingerichtet. Überwacht wird alles von der gut finanzierten Kontrollbehörde der Forstbehörde.

Ananas in der Monokulturwüste

Im Süden grenzt das Regenwaldgebiet an das staatliche Waldschutzgebiet Pui Pui, auf der anderen Seite an ein kleineres privates Schutzgebiet. So beschirmen sie sich nicht nur gegenseitig, sondern vergrößern auch den biologischen Korridor für die Tier- und Pflanzenarten.

Im Norden und Nordwesten liegen zehn Walddörfer, die vom Kaffeeanbau leben. Jenseits dieses Grüngürtels beginnt die Ananaszone: Monokulturwüste, wo vor dreißig Jahren noch dichter Regenwald wuchs. Ananas brauchen Vollsonne und reagieren sehr empfindlich auf Schädlinge und Nährstoffmangel. Deshalb wird der Dschungel bis auf den nackten Boden brandgerodet, der Lebensraum der Pflanzen und Tiere vernichtet. Die endlosen Reihen stachliger Gewächse werden mit Kunstdünger vollgepumpt und mit Pestiziden behandelt, die durch die häufigen Regenfälle weggespült werden und das Trink- und Grundwasser der umliegenden Region vergiften. Gegen die Fruchtfliege werden sie zudem in weiße Plastikfolie verpackt. „Das sind apokalyptische Landschaften“, sagt Jens Bergmann.

Umso wichtiger ist es, mit den Kaffee-Kleinbauern zusammenzuarbeiten, ihnen den Wert des Regenwaldes zu zeigen und sie darin zu bestärken, ihn zu schützen. Ein eigener Kaffeespezialist des Vereins schult sie zudem in nachhaltigem und hochqualitativem Anbau von Bio-Kaffee, für den geringere Anbauflächen nötig sind und der dennoch ein höheres Einkommen erzielt als eine konventionelle Erzeugung.

Indigene Gemeinschaften drohen auszusterben

Gute Kontakte unterhält der Verein auch zu etlichen indigenen Gemeinschaften des Yanesha-Volkes, die rund 50 Kilometer entfernt leben. Nachdem sie Generationen lang vertrieben, entrechtet, vergewaltigt und versklavt worden sind, drohen Kultur und Sprache dieses Volkes nun auszusterben. Noch etwa 40 Gemeinschaften gibt es, nur in etwa zehn wird die Sprache noch an die Kinder weitergegeben. Manche Gemeinschaften sind dem Drogenhandel erlegen. Es gibt große Zerfallserscheinungen. Die Zusammenarbeit von Chance e. V. mit den indigenen Gemeinschaften unterscheidet sich mittlerweile von der Arbeit anderer NGOs. „Wir wollen indigene Gemeinschaften von innen stark machen“, erklärt Jens Bergmann, „also nicht Straßen, Schulen oder Spitäler bauen, sondern die Menschen begleiten, die in eine Welt geworfen sind, die sie gar nicht verstehen.“

Die Vereinten Nationen haben 2007 eine Erklärung über die Rechte indigener Völker verabschiedet, der sich Peru angeschlossen hat. Dazu gehört das Recht, eigene Institutionen, Kulturen und Traditionen zu bewahren und sich an allen Angelegenheiten, von denen sie betroffen sind, wirksam zu beteiligen. „Die Autonomie, die ihnen zugesprochen wird, ist erstaunlich groß. Die Regierung muss den indigenen Gemeinschaften beispielsweise zweisprachige Lehrer zur Verfügung stellen, tut das aber nicht“, erläutert Jens Bergmann.

Kampf für die Rechte der Indigenen

Doch eigene Rechte kann nur einfordern, wer sie kennt – nicht selbstverständlich für eine Kultur, die sich schon darin unterscheidet, dass sie nicht schriftbasiert ist. In diese Lücke springt der Verein durch Kooperationen mit jenen indigenen Gemeinschaften, die dafür offen sind. „Das ist eine komplizierte Arbeit, die langen Atem erfordert. Viele Workshops und Gespräche sind dafür nötig“, beschreibt Jens Bergmann. Sie feiern Feste der kulturellen Identität, veranstalten Kochwettbewerbe mit einheimischem Essen und starten Arbeitsgruppen, etwa zum Thema Schule oder Dorfgesetze. „Wir begleiten diese Gemeinschaften dabei, sich selbst eine politische Verfassung zu geben, um sich nach innen und außen zu definieren und zu festigen und ihre Rechte verteidigen zu können. Und wir geben viel Geld für Anwälte aus, die die Indigenen befähigen, ihre Territorialrechte zu verteidigen. Und in der zweiten Phase unserer Begleitung entwickelt jede Gemeinschaft für sich einen nachhaltigen Entwicklungsplan.“

Und da schließt sich der Kreis: Denn wenn die indigenen Gemeinschaften ihre Territorien schützen, verstärken sie damit auch den Schutz für die großen staatlichen Regenwaldgebiete, die an ihre Gebiete grenzen.

Mit Gott im Regenwald

In Deutschland ist der Verein eng mit Kirchen und Gemeinden aus ganz verschiedenen Richtungen verbunden, bietet Workshops und Predigten in Gottesdiensten an, etwa zum Thema „Schutz der Schöpfung in der Bibel“. „Unser christlicher Glaube steht im Zentrum unserer Motivation und auch unserer Identität als Organisation“, sagt Jens Bergmann. „Was unsere Methoden angeht, spielt das eine weniger große Rolle. Wenn ein Christ Mathelehrer ist, ändert sich der Matheunterricht dadurch nicht. Der muss einfach fachlich gut sein. Und so sehen wir das für unsere Arbeit auch.“

Durch spanische Missionarsmönche, die im Lauf der Kolonialgeschichte nach Peru kamen, und auch pfingstchristliche Missionare, die seit den 70er Jahren aktiv waren, sind viele Yanesha christlich geprägt. „Aber da wurde nicht immer das positive und im ganzheitlichen Sinne erlösende Potenzial gepredigt“, formuliert Jens Bergmann vorsichtig. „Wenn wir mit ihnen Gottesdienste feiern, versuchen wir, das ganz anders zu machen, stärker in ihrer Kultur verortet. Und man muss ja auch nicht zwingend Kirchen bauen, sondern kann im Wald Gottesdienst feiern – der wurde schon von Gott gemacht.“ Alles hängt zusammen: Das Bewusstsein für die Schöpfung, Bildung, Gemeinschaft und ein gelingendes Leben. „Wir versuchen, in unserem ganzen Arbeiten, die Adlerperspektive einzunehmen“, sagt Jens Bergmann deshalb. Es geht darum, dass Menschen innerlich gestärkt werden und Verantwortung übernehmen können für sich selbst, für ihre Familien und für einen intakten, geschützten Lebensraum, der wiederum die Grundlage ist für das Wohlergehen aller Menschen – nicht zuletzt von uns, auf der anderen Seite der Erdkugel.

Text: Anja Schäfer

Der Verein
Mit Freunden aus Deutschland und Peru gründete Jens Bergmann 2003 den Verein Chance e. V. Nach Projekten in Peru kamen 2010 Projekte in abgelegenen Maasai-Dörfern in Kenia hinzu. 2013 wurde die Arbeit in Peru nach Amazonien verlagert, um Regenwald und damit die Lebensgrundlage für Menschen und Dorfgemeinschaften zu schützen. Der Verein bietet die Möglichkeit, Waldpatenschaften zu übernehmen. Auch ein Patenkinderprogramm wurde aufgebaut, in dem die Kinder nicht nur praktisch unterstützt werden, sondern in Waldprojekten und bei Ausflügen lernen, soziale und ökologische Verantwortung zu übernehmen.
Infos:
mein-regenwald.de
chance-international.org
Der Kaffee aus der Region ist erhältlich über: kuuna-kaffee.de

Symbolbild: Getty Images / E+ / Bartosz Hadyniak

Großprojekt: „Afrikas grüne Mauer“ soll Fluchtursachen und Klimaerwärmung bekämpfen

Mitten in Afrika entsteht gerade ein riesiger Grünstreifen. Seine Wirkung wäre enorm. Das Projekt kommt jedoch nur schleppend vorwärts.

Quer durch den afrikanischen Kontinent soll über eine Länge von 8.000 Kilometern ein Grünstreifen durch die gesamte Sahelzone gepflanzt werden: die „Great Green Wall“, auf deutsch auch „Afrikas grüne Mauer“ genannt.

Perspektive für viele

2005 wurde das Projekt von der Afrikanischen Union beschlossen und elf Nationen starteten damit. Inzwischen ist die Unterstützung auf 21 afrikanische Staaten angewachsen, zusätzlich fördern es unter anderem Weltbank, UN und EU.

Wenn dieses Menschheitsprojekt verwirklicht wird, kommt es dem Klima des ganzen Planeten zu Gute. Vor allem aber soll es die Ausbreitung der Sahara nach Süden stoppen und damit den Verlust fruchtbarer Böden. Vor Ort entstehen Arbeitsplätze, Landwirtschaft wird möglich und die ganze Region stabilisiert. Rund 50 Prozent der Bevölkerung in der Sahelzone sind unter 15 Jahre alt. 60 Millionen von ihnen könnten laut Schätzungen bis 2045 aus mangelnder Zukunftsperspektive die Flucht nach Europa antreten. Viel besser wäre es, ihnen zu Hause eine Perspektive zu verschaffen. Aufforstung, Bodenverbesserung, Arbeitsplätze vor Ort sind dafür entscheidende Mittel.

Bisher ein Mosaik

Soweit die Vision. Oder der Traum? Denn die Erfolge sind bisher bescheiden. Gerade einmal 15 bis 20 Prozent der angedachten Fläche sind nach nunmehr 15 Jahren bepflanzt worden. Sichtbare Aufforstung gibt es bisher vor allem im Senegal, dem ganz im Westen am Atlantik gelegenen Start des gedachten gigantischen Grünstreifens. Grüner wird es zudem in Burkina Faso, Nigeria und in Äthiopien, das der Aufforstung politisch große Priorität einräumt. In anderen Staaten hindern unter anderem Terrorismus und Korruption die Fortschritte.

Verantwortliche sprechen daher zurzeit weniger von einer Mauer, sondern lieber von einem großen grünen Mosaik. Und das mag in der Verwirklichung einer großartigen Vision auch sinnvoll sein: An vielen verschiedenen Stellen das Machbare tun, damit es sich stabilisiert und entwickelt. Zudem könnte eine durchgehende Mauer an solchen Orten gar nicht sinnvoll sein, wo niemand lebt, der die Bäume pflegt. Diese und weitere Lernerfahrungen gehören auch zu einem Mammutprojekt wie diesem dazu.

Text: Johannes Fähndrich. Weitere Infos: greatgreenwall.org 

Symbolbild: Getty Images / The Image Bank / Joos Mind

Bio oder Fairtrade? Veronika verzweifelt beim nachhaltigen Einkauf

Für Veronika Smoor ist der Wocheneinkauf eine Qual. Denn die beste Lösung gibt es beim Thema Nachhaltigkeit oft nicht.

Gerade bricht im Obstgang die Welt eines Zweijährigen zusammen. Tim, so heißt er. Das erfahre ich aus der gepressten Stimme der Mutter: „Tim, nein, ich kaufe keine Ananas! Die kommt aus Südafrika. Das ist ganz schlecht für unser Klima.“ Tim ist nicht überzeugt und heult und schreit, was das Zeug hält. Die einheimischen Äpfel, mit der die Mutter ihn locken will, entschärfen die Situation keineswegs. Tim liegt nun auf dem Boden. Ich mache einen Bogen um ihn und lächle der Mutter aufmunternd zu. Es ist noch nicht lange her, da lagen meine Töchter auch auf Supermarktböden rum, weil ich ihnen gezuckertes Müsli verweigert hatte.

Wer ist wichtiger: Umwelt oder Bauer?

Auf meiner Einkaufsliste steht unter anderem: Bananen, Birnen, Salat, Zwiebeln und Möhren. Letztere gibt es in vier Variationen und die Wahl wird mich drei Minuten meines Lebens kosten: Bio, in Plastik verpackt. Die Krummen Dinger, nicht Bio, unverpackt. Möhren mit Möhrengrün, nicht bio, unverpackt. Konventionelle Möhren im Plastiksack. Letztendlich entscheide ich mich aus Mitleid für die Krummen Dinger. Niemand will euch, nur weil ihr etwas zu kurz oder lang geraten seid und die hier hat sogar zwei Beine. Wie niedlich. Kommt her zu Mama! 

Nun auf zu den Bananen, wobei ich wieder einen Bogen um Tim mache, der den Apfelstreik auf dem Boden fortführt. Ich widme mich dem Bananendilemma: Fairtrade-Banane in Plastik verpackt, unfaire Bio-Bananen unverpackt, konventionelle Bananen unverpackt. Ich wäge ab. Ist mir der Bauer in Lateinamerika wichtiger oder die Umwelt? Ich will mich für das kleinere Übel entscheiden, wenn ich nur wüsste, welches das ist. Am liebsten möchte ich mich schreiend neben Tim auf den Boden legen. Ich greife nach den Fair-Trade-Bananen. Die Zwiebeln lassen mich fast in Tränen ausbrechen, denn meine Lieblingssorte (rot, klein, süß) gibt es weder in Bio noch unverpackt. Die einzige Variante, die noch in Frage käme, sind die Zwiebeln eines Bio-Lebensmittel-Anbieters, deren Preis man mit Gold aufwiegen könnte. Seit wann sind Zwiebeln bitteschön Luxusartikel? Beim Salat und den Birnen gebe ich auf und greife nach plastikverpackter konventioneller Ware. Energisch schiebe ich den Wagen zum nächsten Schlachtfeld: der Wursttheke. Die inneren Gewissenskämpfe erspare ich dir an dieser Stelle. Es sei nur soviel gesagt: Ich habe heute viel Plastik gespart, aber dafür keine Bio-Wurst im Wagen.

Wir können es nie ganz richtig machen

An der Kasse treffe ich Tim und seine Mutter wieder. Seine Hand steckt in einer Tüte Erdnussflips, die er Richtung rotfleckiges, verquollenes Gesicht wandern lässt. Die Mutter hat im Snackgang kapitulieren müssen.

Sacht lege ich meine Einkäufe aufs Band und bin wie so oft unglücklich. So gerne würde ich bewusst einkaufen, dabei aber auch meinen Geldbeutel nicht überstrapazieren und mit einem Gefühl von moralischer Überlegenheit nach Hause fahren. Aber solange es noch keine verbindlichen Standards für Supermärkte hinsichtlich von Plastikvermeidung und Bioprodukten und Zweite-Wahl-Ware gibt, wird unserem Gewissen viel Flexibilität abverlangt. Wir können es momentan nie ganz richtig machen. Aber es ist die Annäherung, die so wichtig ist. Vielleicht können wir im Wechsel eine Woche lang Plastik vermeiden, in der anderen nur Bio kaufen? Und Supermarktketten mit Protestmails fluten! Oder wir steigen um auf die Ökokiste, welche bereits in vielen Regionen von Biohöfen angeboten wird.

Ein bisschen was möchte ich aber auch von Tims Mama lernen. Zu den einheimischen Äpfeln greifen und mir öfter mal die Bananen verkneifen.

Text: Veronika Smoor