Gründer kommt selbst von der Straße: In Hamburg tourt der Duschbus für Obdachlose

Im Hamburger Duschbus GoBanyo können Obdachlose ihrer Körperpflege nachkommen. Gründer Dominik Bloh weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig das ist.

Waschen ist ein menschliches Grundbedürfnis, doch nicht alle haben die Chance dazu. In Hamburg schafft „GoBanyo“ seit zwei Jahren Abhilfe: Der Duschbus mit drei vollausgestatteten Badezimmern – eines davon barrierefrei – tourt immer von Mittwoch bis Montag durch die Großstadt und bietet jeweils zwischen 9 und 15 Uhr Duschen im Halbstundentakt an. Ein Team aus vier Hauptamtlichen und über 100 ehrenamtlich Mitarbeitenden koordiniert das mobile Badezimmer. Seit der Gründung von GoBanyo im Dezember 2019 konnten bereits 12.000 Duschen angeboten werden. Zudem bekommen die Gäste Hygieneprodukte und Handtücher, manchmal ergänzen Friseure, Ärztinnen oder eine Kleiderausgabe das Angebot.

Gründer Dominik kennt die Problematik

Mittels leicht verständlicher Flyer und Plakate, vor allem jedoch über Mund-zu-Mund-Propaganda werden Menschen auf die Standorte des Busses aufmerksam gemacht. „Einen Ort, wo ein Mensch sich wohlfühlt, wo er noch Mensch sein darf – den teilt man gerne!“, erzählt mir GoBanyo-Gründer Dominik Bloh. Aus eigener Erfahrung weiß er, wie groß die Scham ist, wenn man ungewaschen unter Leute gehen muss: Er lebte selbst zehn Jahre auf der Straße. Ihm ist es auch wichtig, das Thema Obdachlosigkeit mal aus einer anderen Perspektive in die Öffentlichkeit zu rücken. Aus diesem Grund kommt der Duschbus in knallig bunten Farben daher statt in tristem Grau, das man vielleicht sonst mit dem Thema Obdachlosigkeit in Verbindung bringt.

Duschen dank Spenden

Beim Crowdfunding der gemeinnützigen GmbH 2019 konnten innerhalb von vier Wochen 168.000 Euro gesammelt werden. Den Bus selbst gab’s vom Verkehrsunternehmen „Hamburger Hochbahn“ geschenkt, ausgebaut wurde er mit Mitteln aus dem Funding. 3.000 Einzelspenderinnen haben dies ermöglicht. „Eine Idee entsteht vielleicht im Kopf eines Einzelnen, doch eine gute Sache wird es erst, wenn viele Menschen daran mitarbeiten“, sagt Dominik Bloh. „Nichts ist wichtiger als ein gutes Team.“ Inzwischen gibt es zusätzlich zum Bus noch ein fest installiertes Duschdorf mitten im Kiez auf St. Pauli. Darüber hinaus berät „GoBanyo“ Städte von Berlin bis Kapstadt bei der Einrichtung von eigenen Duschbussen. „Wir wollen auf keinen Fall systemerhaltend arbeiten“, betont Bloh. „Die Abschaffung der Obdachlosigkeit ist das oberste Ziel. Housing first!“

Text: Catharina Bihr

Kirchen eröffnen Co-Working-Spaces: Wie passt das zusammen?

Immer öfter erproben Kirchen, wie sie New Work anbieten können. Was wie ein Widerspruch klingt, ist eigentlich keiner.

Zwischen Shishabar und Parkhaus, keine fünf Minuten zu Fuß vom Karlsruher Schloss entfernt, liegt das Kairos13. Die Evangelische Kirche hat hier 2020 einen Social Co-Working-Space eröffnet für Menschen, die in einem Start-Up oder freischaffend an nachhaltigen und sozialen Themen oder Projekten arbeiten.

Große Teppiche liegen auf dem Betonfußboden des hellen Arbeitsraums, der mit viel Holz und Schwarz eingerichtet ist. Neben Schreibtischen dürfen Wohnzimmerecke und Kaffeebar nicht fehlen, denn Vernetzung ist ein wichtiges Anliegen. Aus der reduzierten Überhangsfläche eines Gemeindehauses soll ein Innovationscampus werden, der zwei Ziele verfolgt: sozialnachhaltiges Engagement fördern und einen kirchlichen Ort schaffen für Menschen, die sonst kaum oder keine Kontaktflächen zu Kirche haben. „Das geschieht sehr niederschwellig und ganz automatisch darüber, dass Co-Working unter dem Dach von Kirche stattfindet und ich als kirchlicher Mitarbeiter vor Ort und selbst Teil der Community bin“, erklärt der Leiter Daniel Paulus.

New Work passt zur Kirche

Die sich rasant verändernde Arbeitswelt, die immer globaler, digitaler und mobiler wird, wird gern mit dem Stichwort „New Work“ beschrieben. Das Konzept entwickelte in den 1970er-Jahren der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann. Er beschrieb die konventionelle Arbeit damals als eine Krankheit, die man aushalte bis zur Rente, und er prognostizierte stattdessen für die Zukunft eine positive Entwicklung: gemischte Teams statt homogener Abteilungen, Projektarbeit, Innovation statt Tradition und Kontrolle. Sein menschenfreundliches Zukunftsbild aus Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft passt gut zur biblischen Ethik.

Zu den wichtigen Formen neuer Arbeit zählt das Co-Working: Menschen, die ihren Arbeitsort frei wählen können, etwa Freelancer oder Gründerinnen, bilden eine Bürogemeinschaft und nutzen das Inventar gemeinsam. Als in der Pandemiezeit klar wurde, dass Arbeiten auch außerhalb des betrieblichen Büros gut funktionieren kann, erhöhte sich auch die Zahl derjenigen, für die ein solcher öffentlicher Arbeitsort infrage kommt.

Work-Life-Balance ist Hauptargument

Zu Beginn vor allem in wenigen Metropolen bekannt, breitet sich das Konzept nun weltweit aus. Rund 18.700 Co-Working Spaces nennt Statista für 2018. Etwa 1,65 Millionen Menschen haben sie genutzt.

Danach befragt, welche Vorteile sich Arbeitnehmende von neuen Arbeitsplatzkonzepten erhofften, stand die bessere Work-Life-Balance ganz oben. Es zeigte sich: Viele Menschen lieben ihre Freiheit und würden gern zeitlich und örtlich ungebundener, selbstbestimmter und vernetzter arbeiten.

Laut einer Umfrage des Online-Magazins Deskmag schätzen Menschen am Co-Working-Space vor allem die angenehme Arbeitsatmosphäre (59 %), die Kommunikation mit anderen (56 %) und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein (55 %).

Der Grad der Verbindlichkeit allerdings ist sehr unterschiedlich. Während manche Anbieter sich schlicht als Schreibtischvermieter verstehen, entsteht anderswo eine enge Gemeinschaft mit hoher Verbindlichkeit und gemeinsamen Werten und Anliegen. Dort entstehen Synergieeffekte, die häufig zu neuen Projekten führen.

Co-Working existierte bereits in Klöstern

Soziologen ordnen Co-Working-Spaces wie Cafés, Bibliotheken oder Kirchen den „dritten Orten“ zu, als wichtige Lebensmittelpunkte neben dem eigenen Zuhause und dem klassischen Arbeitsplatz im Betrieb. Auch Kirchen haben mittlerweile verschiedene Co-Working-Konzepte entwickelt. Die Theologin und Innovationsforscherin Maria Herrmann wirbt dafür, sich bewusst zu werden, dass Co-Working einerseits etwa in den Klöstern eine lange kirchliche Tradition hat und andererseits auch große Chancen bietet für die Zukunft.

Klöster mögen in der allgemeinen Wahrnehmung nicht mehr als Orte der Innovation präsent sein. Doch lange Zeit waren sie die Räume, in denen nicht allein für Einzelne, für eine Institution oder aus rein wirtschaftlichem Interesse geforscht und gearbeitet wurde. Auch Gemeinschaft und Ästhetik spielten wichtige Rollen. Genau das kann heute auch Co-Working-Spaces von anderen Kontexten der Arbeit unterscheiden: die Entdeckung und Erfahrung, dass es sowohl für ein gutes Arbeitsleben als auch für das Neue Verbündete und eine angemessene Atmosphäre braucht. Dass man nicht alleine an Innovationen arbeiten kann. Dass verschiedene Perspektiven, Fähigkeiten und Ressourcen notwendig sind. Dass Schönheit und Ästhetik Einfluss haben.

Alter Gemäuer, neuer Geist

Warum aber sollen sich Kirchen und Gemeinden mit dem Thema Co-Working-Space beschäftigen? Hansjörg Kopp, Generalsekretär des CVJM Deutschland, nennt dazu Folgendes: „Kirche hat den Auftrag, nah bei den Menschen zu sein. Und damit auch mitten in einer agilen Gesellschaft mit zunehmend mobilem Arbeitsverhalten. Wie wunderbar, wenn der Schatz unserer alten Gemäuer Neuland und Freiraum bietet.“

Mittlerweile haben etliche Gründer und Gründerinnen auch mit kirchlichem Hintergrund oder aus ihrem Glauben als Motivation Projekte rund um das Co-Working entwickelt. Für sie und ihre Generation ist das Thema New Work und im Speziellen das Arbeiten und Leben in den Co-Working-Spaces eine angemessene Form von Gemeinschaftserleben. Letztlich sehnt sich jeder Mensch nach einem Kreis von Verbündeten, einer tragenden Verbindung. Vor allem in einer Zeit, in der die Familienverbände kleiner werden und oftmals nicht durch Nähe verbunden sind. Um dieses Community-Building geht es den Pionieren und Pionierinnen in diesem Bereich.

„Hirschengraben“ in Luzern: Innovation in konservativer Stadt

Der Architekt Sandro Schmid nennt seinen „Hirschengraben“ ein „Kollektiv von Weltveränderern, ein Sparringspartner für deine Träume und ein Spielplatz für Unternehmen“. Zum Start hat er seine Mitstreiter gefragt: „Was hat Luzern davon, dass es euch gibt?“ Seine Frage zeigte Wirkung: Bislang haben die 35 Mitglieder 21 Projekte und Start-ups gegründet: Von der Wäscherei über Wertefinder bis zur Business-Community ist die Spanne groß. In einer Stadt, die eher konservativ geprägt ist, tragen sie zu einer Reformation der Arbeit bei. Sandro Schmid bringt dabei gern auch seinen christlichen Glauben ins Spiel: „Mein Vertrauen auf Gott gibt Menschen etwas. Gott hat mich versorgt, mich Geschichten erleben lassen, die mir als ein Wunder entgegenkommen.“

Gründergeist in Frankfurt: Villa in der Innenstadt

Als die Idee der Villa Gründergeist vor vier Jahren entstand, kämpfte das Bistum Limburg nicht nur mit den Folgen des schleppenden Umgangs mit den Missbrauchsskandalen, Relevanzverlusten und einem prognostizierten Einbruch der Kirchensteuereinnahmen. Man zweifelte auch an der eigenen Berufung. Das Bistum steckte nach dem durch den Papst angenommenen Rücktritt von Bischof Franz-Peter Tebartz von Elst in einer Leitungskrise. Nicht der beste Nährboden für gemeinsam getragene pastorale Ziele oder gar für kirchliche Innovationen. Oder vielleicht gerade doch?

Im Dezernat Kinder, Jugend und Familie wurde überlegt, was mit einer rund 100 Jahre alten Villa mit rund 600 Quadratmetern Fläche mitten in der Frankfurter Innenstadt passieren könnte. In einem kleinen Projektteam über verschiedene Hierarchieebenen hinweg entstand die Idee einer Plattform für Zukunftsfragen. Nicht die kirchlichen Mitarbeitenden sollten das Haus allein von sich aus mit Leben füllen, sondern Pioniere und Macherinnen aus möglichst vielen Bereichen. So entwickelten sich mit Gründer David Schulke mutige Ziele: die Welt täglich besser machen durch die Förderung von Social Entrepreneurship und Sozialinnovation. Die Learnings aus dieser Reise nutzbar machen für Menschen, die Kirche neu gründen und Glauben anders leben wollen – im Umfeld einer sinnstiftenden und durch das Villa-Team gut begleiteten Community.

Kaffeebar „Effinger“ wird zum Modell für andere

Der Bildungscoach und Entrepreneur Marco Jakob hat 2015 in Bern den Co-Working-Space mit Kaffeebar „Effinger“ mitgegründet, der ein Modell für viele andere geworden ist. Er sieht kirchlich orientiertes Co-Working allerdings auch kritisch. Die Kirche einfach zu einem Co-Working-Space umzubauen und zu meinen, dann kämen die Leute schon von selbst, sei ein fataler Irrtum. Wer beruflich die Möglichkeit dazu hat, den ermutigt er vielmehr dazu, einen bestehenden Co-Working-Space in der eigenen Umgebung aufzusuchen und selbst regelmäßiger Co-Worker zu werden, zuzuhören, wahrzunehmen, was Leute bewegt und ihre Träume und Projekte kennenzulernen.

Wer Herausforderungen wahrnimmt, kann überlegen, wie er mit den eigenen Fähigkeiten, Netzwerken und Ressourcen etwas zur Lösung beitragen kann. „Rechne mit Gottes Hilfe. Und wenn dein Beitrag mehr als zehn Prozent deiner Zeit beansprucht, so mache dich selbstständig und verlange einen angemessenen Preis für das, was du tust“, rät der Christ. „Falls es etwas ist, das die anderen nicht direkt bezahlen können, so suche mit ihnen nach einem Weg, wie es finanziert werden kann. So ist das, was du tust, wirksam, authentisch und nachhaltig.“

Byro Aarau: Mehr als Cappuccino-Beziehungen

Gründungen, die ein inhaltliches Ziel verfolgen und durch Projekte und Veranstaltungen auch positiv in ihre lokale Umgebung hineinwirken oder global etwas bewegen wollen, sind meist vom Gedanken einer engeren Community getragen, der man sich verbindlicher anschließt.

Daniel Hediger, Co-Gründer vom „Byro Aarau“ stellt fest, dass das nicht immer einfach ist und spricht von Beziehungsfähigkeit, die jemand mitbringen muss. „Das sind nicht nur lustige Cappuccino-Beziehungen. Community geht nur dann, wenn du bereit bist, dich auf Beziehungen einzulassen.“ Verbindliche Beziehungen müssten da wachsen und der Wille zur Veränderung vorhanden sein. „Hier beginnt die schwer quantifizierbare Wirkung eines Co-Working-Spaces.“ Es gelte, Vertrauenskultur aufzubauen auf und der Versuchung zu widerstehen, in alte, hierarchische Strukturen zurückzufallen.

Bei all diesen faszinierenden Projekten wird deutlich, dass es kein Grundmuster für den Start, den Aufbau und den Betrieb eines Co-Working-Spaces gibt. Sowohl bei der Ausrichtung auf die jeweilige Zielgruppe als auch in Bezug auf Kirchennähe gibt es verschiedene Ansätze. Es wird noch viel experimentiert werden – und den Königsweg vielleicht nie geben. Die Tendenz ist aber klar: Für viele Menschen und Milieus sind die klassischen Kirchen nicht attraktiv. Sie sehnen sich zutiefst nach Gemeinschaft, aber ohne Gemeindeordnung. Nach sinngebenden Angeboten, aber ohne Gottesdienstliturgie. Arbeit und Freizeit werden nicht mehr scharf getrennt. Und in diese Sehnsucht hinein lohnt es sich, Angebote zu setzen.

Jürgen Jakob Kehrer ist Referent der Evangelischen Landeskirche Württemberg und freiberuflicher Organisationsentwickler. Dorothea Gebauer betreibt ein eigenes Co-Working-Space, hat mehrere Gründungen begleitet und arbeitet im Bereich innovativer Bildung, PR und Fundraising.
In diesen Wochen erscheint ihr gemeinsames Buch: „Co-Working: aufbrechen, anpacken, anders leben – Herausforderung und Chance für Gemeinden und Organisationen“ (Vandenhoek und Ruprecht).

Ende der Plastik-Ära: Diese Beispiele zeigen, dass es vorangeht

Noch kann unsere Gesellschaft ohne Einweg-Verpackungen nicht leben. Aber es gibt gleich mehrere Hoffnungsschimmer.

Packung aufreißen, Folie abwickeln, Tetrapack leeren: Manchmal ist es zum Verzweifeln, wie schnell sich die Gelbe Tonne füllt. Von der eingeschweißten Gurke über abgepackten Käse bis zum Flüssigwaschmittel: kaum ein Produkt ohne Kunststoffhülle. Unser Planet ist plastifiziert. 4,3 Millionen Kunststoffverpackungen wurden 2020 in Deutschland produziert, die jährlichen Kunststoffabfälle haben sich seit 1995 mehr als verdoppelt. Vergangenes Jahr haben unsere Müllabfuhren wieder sechs Prozent mehr Plastik aus unseren Haushalten weggekarrt – insgesamt rund 40 Kilo pro Kopf jedes Jahr. Dabei landen die Becher, Folien und Behälter gar nicht immer in der Tonne. Allein die Elbe befördert jährlich 42 Tonnen Kunststoff in die Nordsee.

Dass die Menge an Plastikmüll steigt, hat verschiedene Gründe: Unsere Gesellschaft wird älter und mehr Menschen leben in Single-Haushalten. Senioren und Alleinstehende kaufen aber eher kleinere Portionen und die Verpackungen sind im Vergleich aufwändiger. Zudem nimmt der Trend zu Fertiggerichten, To-Go-Waren und sogenannten Convenience-Produkten zu: fertig geschmierte Sandwiches oder Salate etwa in Plastikboxen. Auch Einwegflaschen werden immer beliebter: Die Mehrwegquote ist seit 1997 von 72 auf 41 Prozent gesunken.

Pfandpflicht auch auf Energy-Drinks

Doch es tut sich was. Ideen zur Reduzierung und gesetzliche Änderungen für neue Rahmenbedingungen machen Hoffnung, dass der Abschied aus der Plastik-Ära zumindest denkbar ist. Ab 2022 wird beispielsweise die Pfandpflicht ausgeweitet. Für Saft, Smoothies, Apfelwein und Energy-Drinks galten bislang Ausnahmeregelungen, die nun entfallen. 25 Cent Pfand werden dann pro Flasche fällig. Darüber hinaus müssen ab 2025 Plastikflaschen mindestens zu einem Viertel aus recyceltem Kunststoff bestehen. Ab 2023 müssen größere Cafés und Restaurants Waren zum Mitnehmen auch in wiederverwendbaren Verpackungen anbieten.

Die Erwartung an solche gesetzlichen Bestimmungen ist immer auch, dass sie neue Entwicklungen auslösen wie etwa Mehrwegsysteme und verpackungsfreie Alternativen. Der durch seine Porter-Hypothese bekannt gewordene amerikanische Ökonom Michael E. Porter nennt in seinen Aufsätzen mehrere Fallstudien, die zeigen, wie umweltpolitische Maßnahmen sowohl zur Reduktion der Kosten wie auch zu Innovationen geführt haben. Er erwähnt beispielsweise japanische Recyclingbestimmungen, die beigetragen haben, den Produktionsaufwand bei Hitachi zu senken. Bei deutschen Unternehmen sieht er Wettbewerbsvorteile, weil Recycling-Gesetze einen Entwicklungsvorsprung ausgelöst hätten.

Start-ups gehen mit gutem Beispiel voran

Gerade kleinere Unternehmen gehen da oft mit guten Ideen voran. Das Hamburger Label Sea Me bietet beispielsweise Handseife, Spül- und Desinfektionsmittel in Pfandglasflaschen an. Sind sie leer, können sie über den Lebensmitteleinzelhandel zurück in den Mehrwegkreislauf gegeben werden. Das Start-up Repaq stellt seine Verpackungen aus pflanzlicher Zellulose, Wasser und Glyzerin her, die kompostierbar sind, ebenso wie die aus Jute hergestellte Versandkiste der Neugründung kompackt61. Das kleine Kieler Unternehmen Umtüten verkauft nachhaltige Brotbeutel und Lunchbags aus ökologischer Baumwolle aus Tansania und recycelten Jeansresten.

Doch auch große Unternehmen beginnen umzudenken. Der Konzern Henkel verwendet für die Flaschen mancher seiner Haarpflegeprodukte bis zu 98 Prozent Altplastik. Für seine Marke Nature Box verwendet er sogar sogenanntes „Social Plastic“, also Kunststoff aus Müll, der etwa vom Sozialunternehmen Plastic Bank an Stränden gesammelt wurde.

Auch dm geht voran: In 150 Filialen der Drogeriemarktkette können seit Oktober in einem Pilotprojekt leere Kunststoffflaschen von Pflege- und Reinigungsmitteln zurückgegeben werden. Damit will der Konzern testen, ob Kunden und Kundinnen dazu bereit sind.

Keine verpackten Gurken in Frankreich

Im August hat die Umweltorganisation WWF gerade ihre Studie „Verpackungswende jetzt“ vorgestellt. Fazit: „Eine kreislauforientierte und nachhaltigere Verpackungswirtschaft [ist] in Reichweite, wenn wir alle Hebel umsetzen und einen Systemwandel einleiten.“ Die Autoren schlagen etwa vor, einheitliche Richtlinien zu schaffen, um unnötige und überdimensionierte Verpackungen im Handel zu vermeiden, oder essbare Hüllen für Obst und Gemüse einzusetzen, um Schalen und Folien zu vermeiden, wenn die Sorten nicht ohnehin von Natur aus eine robuste Hülle haben.

In Frankreich dürfen schon ab 2022 rund 30 Obst- und Gemüsesorten nur noch ohne Plastikverpackung verkauft werden. Beispielsweise Äpfel, Gurken, Kartoffeln und Blumenkohl gibt es dann nur noch plastikfrei. Ab 2030 müssen dort Einzelhändler mit einer Ladenfläche von mehr als 400 Quadratmetern mindestens ein Fünftel ihrer Fläche für Mehrweg- und Nachfüllprodukte nutzen.

QR-Code macht Plastik sortierbar

M

Auch die Recyclingquote ließe sich erhöhen, wie die WWF-Studie zeigt. Wirtschaftliche Anreize für Verpackungen aus recyceltem Plastik könnten dabei helfen, denn die Produktion ganz neuer Kunststoffe sei immer noch zu billig.

Die EU hat beschlossen, dass bis 2030 Verpackungen zu 55 Prozent wiederverwertet werden sollen. Derzeit liegt die Quote EU-weit bei rund 40 Prozent. Helfen soll dabei auch ein digitales Wasserzeichen – eine Art QR-Code in Briefmarkengröße, der verschiedene Informationen enthält und aufgedruckt wird auf Joghurtbecher & Co. Im Recyclingunternehmen erkennt die Kamera daran die Materialzusammensetzung, sodass die Verpackungen sortenrein sortiert werden können. Derzeit wird das Projekt in Kopenhagen getestet, 2022 soll es auch in Recyclingbetrieben in Deutschland und Frankreich eingesetzt werden. Mehr als 130 Unternehmen, darunter Beiersdorf, Dr. Oetker und Lidl, sind beteiligt.

Ein solches Engagement der Industrie, gestützt von Vorgaben der Politik und befürwortet von Bürgerinnen und Bürgern, macht Hoffnung, dass eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft möglich sein wird.

Von Anja Schäfer

Hunderttausende handgeschriebene Mutmacher: Das ist die Geschichte hinter dem Brief-Wunder

Hannah Brencher zieht für ihren vermeintlichen Traumjob nach New York, aber die Einsamkeit der Großstadt erschlägt sie fast. Dann fängt sie an, Briefe zu schreiben …

Hannah wächst mit einer Mutter auf, die nicht mit dem Trend geht, wenn es um virtuelle Kommunikation geht. Ihre Mutter liebt das Briefeschreiben. Und als Hannah nach dem Studium ins große New York City zieht, ertappt sie sich oft dabei, wie sie hoffend am Briefkasten steht. Gibt es heute Post von daheim?

Sie durchlebt eine harte Zeit, ist überwältigt von der Großstadt-Mentalität, wird depressiv. Als sich eines Tages in der U-Bahn eine Frau ihr gegenübersetzt, hat sie den Drang, ihren Block herauszuholen und ihr einen Brief zu schreiben. Doch als sie wieder hochblickt, ist die Frau bereits ausgestiegen. Und Hannah ist überrascht: Zum ersten Mal seit langem fühlt sie sich nicht mehr einsam und traurig. Sie beschließt, weiterhin zu schreiben, weil es ihr selbst guttut. Sie schreibt Briefe an Fremde und versteckt sie in ganz New York City: in der Umkleidekabine, in der Metro, in Cafés – und erzählt davon auf ihrem Blog.

Wer will, bekommt einen Brief

Brief für Brief beginnt sie, endlich wieder Licht zu sehen. Sie wird beschenkt mit einem Sinn fürs eigene Leben, indem sie etwas von sich hergibt. Und sie begegnet auch Gott dadurch, dass sie seine Liebe zu den Menschen zu Papier bringt. Liebe, die nichts fordert, sondern dazu da ist, verschenkt zu werden.

Als sie auf ihrem Blog anbietet, jedem, der es braucht, einen Brief zu schreiben, wird sie überraschend überhäuft mit Anfragen. In den folgenden Wochen schreibt sie 400 Briefe. Mehr, als ihr Spaß gemacht hätten. Aber sie will ihr Versprechen halten. Das soll es dann aber auch gewesen sein. Doch ihre Familie und Freunde widersprechen: Was sie da angefangen habe, sei dringend nötig!

Alle können mitmachen

Schließlich willigt sie ein und startet das Projekt More Love Letters. Jeder weltweit kann mitmachen, der daheim ein Blatt Papier und einen Stift hat. Aus vielen über die Webseite eingereichten Vorschlägen werden jeden Monat fünf bis sechs Personen ausgesucht, die einen Stapel liebevoller Briefe bekommen sollen. Ein Monat lang ist Zeit zu schreiben, freiwillige Helfer und Helferinnen sichten und sortieren die Post und schließlich bekommen die Personen ihre Päckchen voller Ermutigungen zugeschickt. Mehrere Hunderttausend Briefe sind es inzwischen, die Hannah Brenchers Engagement initiiert hat. Am Ende war es der Entschluss, nicht in der eigenen Einsamkeit zu verharren, sondern andere zu ermutigen.

Constanze Bohg ist Autorin des Buches „Viereinhalb Wochen“ (Pattloch).

Wer bei More Love Letters mitmachen will, findet hier alle Infos (auf Englisch) unter moreloveletters.com. Auf YouTube ist außerdem ein berührender TED-Talk von Hannah Brencher zu sehen.

Ein Konto für alle: Diese Biohof-Bewohner teilen sich fast alles

Seit zwei Jahren lebt die kleine Lebensgemeinschaft des Bruderhofs in Niederösterreich. Gemeinsam betreiben sie Biogemüseanbau und teilen nicht nur ihren Alltag, sondern auch ihren gesamten Besitz.

Das Weinviertel in Niederösterreich, unweit der tschechischen Grenze, liegt eingebettet zwischen der letzten betriebsfähigen Windmühle Österreichs, idyllischen Weinbergen, malerischen Stadthäusern und den längsten Kellergassen Mitteleuropas. In diese seit der Ur- und Frühgeschichte besiedelte Gegend ist im Sommer 2019 eine kleine Lebensgemeinschaft gezogen, die ihr Eigentum teilt, für ihren Lebensunterhalt Gemüse anbaut und dabei nachhaltige Prinzipien anwendet.

Der erste Bruderhof entstand vor rund 100 Jahren in Deutschland. Nach dem Ersten Weltkrieg suchten viele Menschen Halt, lebensbejahende Werte und Arbeit. Das junge Ehepaar Eberhard und Emmy Arnold, das sich im Zuge der „Jugendbewegung“ in Halle an der Saale kennengelernt hatte, wollte wenigstens für einige Personen eine stabile Lebensgrundlage schaffen und sammelte Leute um sich. Diese freiwillig gewählte, im Vergleich zum allgemeinen Mainstream auffallend „andere“ Lebensweise der Gemeinschaft, stützte sich dabei auf ihre christliche Wertebasis und gemeinsamen Güterbesitz. So konnte mit vereinten Kräften ein deutscher Hof in der Rhön als erster Standort gekauft werden. Als „Brüder unter Brüdern“ machten sie unter härtesten Bedingungen den kargen Boden fruchtbar. In der Folge bürgerte sich landläufig der Name „Bruderhof“ ein.

Flucht vor dem NS-Regime

Kurz vor seinem Tod 1936 konstatierte Eberhard Arnold, seines Zeichens tatkräftiger Herausgeber gesellschaftsrelevanter Magazine, „wenn wir nicht mehr für alle Menschen da sein können, wenn wir uns nicht mehr mit der Not und dem Leiden der ganzen Welt befassen können, hat unser Bruderhof keine Existenzberechtigung mehr.“

Gegen die „lebenszerstörenden Strömungen unserer heutigen Gesellschaftskultur, aber auch gegen unsere eigenen Schwächen und den Egoismus, der uns immer wieder im Weg steht“ suchten die Bruderhofbewohner von Anfang an eine friedliche Alternative. Während des NS-Regimes beispielsweise entzog man sich in der hauseigenen Schule der aufoktroyierten Lehrerschaft, indem alle Schulkinder samt ihrer Erzieher kurzerhand nach Liechtenstein flohen, um ihre Prinzipien zu wahren.

Manch ein Bruderhof hat über 200 Mitglieder

Bis dato werden sie nicht müde, sich für Gerechtigkeit, Glaubens- und Gewissensfreiheit einzusetzen. Die Gemeinschaft wächst – auch dank großer Familien – stetig. In manchen Bruderhöfen leben heute über 200 Personen. Weltweit verteilen sich etwa 2500 Mitglieder auf Niederlassungen in England, den USA, Paraguay und anderen Ländern.

Mitglied kann man frühestens mit 21 Jahren werden und nur nach eigener, freier Entscheidung. Viele haben ursprünglich einen deutschen Hintergrund, aber man assimiliert sich, wächst mit Englisch und Deutsch gleichermaßen auf. Diese Zweisprachigkeit hilft dann auch bei internationalen Neugründungen und beschleunigt die Integration in eine neue Umgebung. Da sich jeder neu gegründete Bruderhof selbstständig für ein Business entscheidet, von dem er leben will, spannt sich der Bogen mittlerweile von Herstellung innovativer Tischlerware über Produktdesign und Marketing bis hin zur Landwirtschaft.

In den letzten Jahren streckte man die Fühler zurück in den deutschsprachigen Raum aus, pflegte Kontakte zu Christen verschiedener Konfessionen in Österreich. Letztlich eröffnete der Erzbischof von Wien, Christoph Kardinal Schönborn, persönlich vom tiefen Anliegen der Versöhnung geprägt, die Möglichkeit für den Kauf des Retzer Gutshofes. Damit schließt sich ein Kreis, denn genau aus diesem Gebiet wurden vor rund 500 Jahren die sogenannten „Täufer“ im Zuge der Gegenreformation aufgrund ihrer Glaubensüberzeugungen vertrieben. In ihren Überzeugungen können sie als geistliche Vorfahren des Bruderhofs gesehen werden.

Nur ein Bankkonto

Nachdem der Gutshof bereits früher biologisch geführt wurde, war die Art der Selbstversorgung für diesen Standort rasch geklärt: Biogemüseanbau mit Ab-Hof-Verkauf. Und so nährt heute der Boden diese „alten“ Wurzeln und lässt neues Leben erblühen.

Der Ort erwies sich von Anfang an als optimal: der Dreiseithof besteht aus mehreren Hof- und Wirtschaftsgebäuden, die für Gemeinschaftsräume, Großküche, Büros, Arbeits- und Kühlräume adaptiert werden konnten. Seit 2019 zogen einzelne Bruderhofleute und ganze Familien von anderen internationalen „Settlements“ hierher, im Moment sind es 25.

Kinder und Eltern leben im Familienverband, Singles nach Geschlechtern getrennt in Gemeinschaftszimmern. Dass die Gruppe „alles gemeinsam“ besitzt, ist vielleicht der ungewöhnlichste Aspekt des Zusammenlebens. Persönlicher Besitz sowie Erträge, die man für den gemeinschaftlichen Lebensunterhalt erwirtschaftet, wandern in die gemeinsame Kasse. Es existiert auch nur ein einziges Bankkonto pro Bruderhof. Für Kleidung, Unterkunft und Essen wird gesorgt. Der Einzelne bringt sich seinen Gaben und Interessen gemäß ein, erhält aber weder Lohn noch Taschengeld. Nur für Schüler gibt es der Einfachheit halber Wochengeld. „Das heißt aber nicht, dass man auf alles verzichten müsse, was Konsum angeht“, erklärt Andi Zimmerman, der Leiter der österreichischen Niederlassung. Will jemand beispielsweise ein Buch kaufen oder mit Besuchern eine kalte Jause mit heurigem Wein genießen, geht er zum lokalen Finanzverwalter und bekommt die benötigte Summe. Im Prinzip kann auch jeder kaufen, was er will. Die Gemeinschaft hält sich gegenseitig in der Mäßigung verbindlich.

Aus dem Weg gehen kann man sich nicht

Natürlich kommt es auch immer wieder zu Spannungen und Meinungsverschiedenheiten. „Das wichtigste ist, ehrlich mit- und untereinander zu sein. Egal welches mitmenschliche Problem auftaucht, es gilt, dieses anzusprechen“, meint Andi. Es sei wichtig, eine Lösung zu suchen: „Man kann sich schließlich auf engem Raum kaum länger aus dem Weg gehen.“ Gemeinsam mit seiner Frau Priscilla und den drei Kindern lebt er in einem ehemaligen Dominikanerkloster in der Nähe. Denn der Raum am Hof wurde bereits zu knapp. Ein im Kloster zur Verfügung gestellter Trakt beherbergt auch ein Gästehaus für Besucher wie uns, die in dieses „andere Leben“ hineinschnuppern wollen.

Wie andere junge Erwachsene erkunden auch Bruderhöfler gerne die Welt. Bewusst lässt man sie ziehen, ihre eigenen Wege gehen und Ausbildungen machen. So kam Terrence Meier, 21, vor etwa zehn Monaten alleine von einer englischen Niederlassung hierher, um bei diversen Bau- und Renovierungsaufgaben Hand anzulegen. Später will er im nahen Wien Musikwissenschaften studieren. „Wir haben bereits einiges umgesetzt: zwei Gästezimmer, ein Badezimmer und Büros. Nun bauen wir eine Werkstatt auf, um für weitere Bauvorhaben und kleine Tischlerarbeiten gerüstet zu sein.“ Dafür bietet das große Gelände genug Einsatzmöglichkeiten.

Aidan Manke, 18, hingegen zog mit seiner ganzen Familie von England hierher. Er schätzt die kleinere Community, die nach dem Abendessen viel spielt und singt. Nächstes Jahr will er gerne vor Ort als Rettungssanitäter mit dem Roten Kreuz aushelfen.

Bio-Anbau im Garten

Die Geschwister Kevin und Sharon Keiderling zeigen uns schließlich das Herzstück des Gutshofs: den Garten. Für Sharon war das der eigentliche Grund, von England nach Österreich umzusiedeln: „Ich bin sehr an regenerativer Landwirtschaft interessiert und möchte gern mehr darüber lernen.“ So geht es uns auch. Kevin, der wiederum mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern hier lebt, verwaltet den gesamten Ablauf der alternativen Versorgung. Fachmännisch führt uns der gelernte Landwirt in die für uns neue Welt des „Market Gardening“ ein, einer biointensiven Anbautechnik aus dem 19. Jahrhundert, bei der Gemüse auf kleinem Raum dicht gepflanzt wird.

Während uns draußen der Wind um die Ohren pfeift, erfüllt uns beim Betreten des Gewächshauses eine angenehme, warme Stille. Hier werden beispielsweise Paprika und Paradeiser, also Tomaten, vorgezogen. Alle zwei Wochen werden neue Salate gepflanzt – im Laufe des Jahres zehn verschiedene Sorten. Für die Wintersaison werden bereits Vitamin-C-reiche Kohlarten produziert. Der Folientunnel wurde selbst ausgeklügelt und gebaut. Über den Winter kann er beheizt werden, um ein dauerhaftes Sprießen der Sämlinge zu gewährleisten. In den kleinen Keimzellen, wo jeweils vier Samen eingelegt werden, entdecken wir die Beschriftung „Rubinetto“ und denken an Lieblingsapfel – aber damit liegen wir falsch, wie sich noch herausstellen wird.

Natürlicher Kompost hilft beim Wachsen

Vor dem Gewächshaus fasst Sharon in einen großen Behälter. Reiner, dunkler Kompost rieselt durch ihre Finger: So sieht also die wertvolle Umsetzung von Pflanzresten, Holzspänen, altem Heu und Pferdemist aus, die hier drin ein gutes Jahr unberührt ruhten. Aus diesen Resten wird Neues! Das Kompostierungssystem ist lediglich auf Luft und Wasser angewiesen („aerob“). „Optimal ist ein Wassergehalt von 70 Prozent“, erklärt uns Kevin. Wenn nicht gewendet wird, können sich zudem Bodenpilze und andere Mikroorganismen besser entwickeln. Das Endergebnis wird später als natürlicher Dünger in kleinsten Mengen dem Gießwasser beigemengt.

Auch zum Neuanpflanzen ist der Kompost wichtig: „Wenn man ein neues Beet anfängt, verteilt man einfach Kompost auf der Oberfläche, das unterdrückt erst einmal die Unkräuter“, sagt Kevin. Dadurch werde der Boden humoser und könne Wasser und Nährstoffe besser speichern. „Dann pflanzt man direkt in den Kompost rein. Reifes Gemüse wird abgeerntet, indem man es einfach an der Oberfläche abschneidet.“ Die Wurzeln werden im Boden belassen, darauf kommt eine kleine Schicht Humus, in die wiederum direkt gesät oder gepflanzt wird. Das Boden(innen)leben wird auf diese Weise bewahrt und kann sich optimal vermehren.

Ohne Chemie, dafür viel Handarbeit

Das „Market Gardening“ geht auf die Gärtner Jean-Martin Fortier und Eliot Coleman zurück. Es beschränkt sich auf die Größe, die noch in Handarbeit zu bewältigen ist. Der Traktor wird nur für den Abtransport der geernteten Schätze verwendet. Klug werden daher Gemüsearten ausgewählt, die den besten Ertrag pro Quadratmeter erzielen. Dabei achtet man besonders auf Diversität und Symbiosen von Pflanzen, die einander im Wachstum unterstützen.

„Landbau ohne Chemie kann nur funktionieren, wenn alle zusammen helfen und mit anpacken“, folgert Kevin. „So ist es öfter nötig, dass wir abends noch alle aufs Feld gehen und die Beete durchjäten.“ Die Gartenarbeit hat aber auch einen gemeinschaftsfördernden Aspekt, findet die 22-jährige Felicity Goodwin, die mit ihrem „grünen Daumen“ in diesem Metier heimisch ist.

Schließlich bewundern wir ein Beet mit allerlei Salaten. Kevin wählt einen Kopf aus und reicht ihn uns: „Das ist ein Rubinetto!“ Kein Apfel also, sondern ein kunstvoll gebildeter roter Eichblattsalat.

Im Gemüsewaschraum wird gerade das saisonal geerntete Gemüse gesäubert, Microgreens werden abgewogen und eingetütet sowie in die beliebten Abokisten verpackt. Auch selbstgemachte Aufstriche, Pies, Cookies, frische Hühnereier und Honig sind im Angebot.

Alle essen gemeinsam

Mittlerweile ist es Mittag geworden und uns knurrt der Magen. So kommen wir noch in den Genuss eines leckeren, frisch zubereiteten Essens. Und auch hier ist der Betrieb bestens eingespielt: Mehrere Köche der Gemeinschaft bereiten regelmäßig alle Mahlzeiten zu. Wer sich gerade im gemeinschaftlichen Essraum aufhält, deckt den Tisch. Wenn möglich, essen alle gemeinsam. Als Besucher erleben wir das als eine wohltuende Unterbrechung des Alltags und ein bewusstes Ruhen der Arbeit. Es wird Wert auf persönlichen Austausch gelegt. Zum Schluss stürzen sich besonders die Jungen lachend in den Wasserspaß und waschen den Geschirrberg händisch ab.

Uns fasziniert bei unserem Besuch immer wieder die authentische Freude von Jung und Alt. Eine Ausgeglichenheit und auch eine tiefe Wertschätzung füreinander sind zu spüren. Eberhard Arnolds Gedanken aus der Gründungszeit sind sichtbar lebendig geblieben: „Alles in unserem Leben sollte Ausdruck der gegenseitigen Liebe sein. So ist Arbeit nicht von unserem Leben getrennt, sondern wird aus Freude am Dienst füreinander getan. Dazu gehören auch die Arbeit in der Waschküche, die Zubereitung der Mahlzeiten, die Sorge für die Kinder und Alten, und nicht zuletzt die Arbeit in Feld und Garten.“

Verena Schnitzhofer vernetzt Vordenkende im Quo Vadis Institut in Salzburg. Monika Fees ist Lehrerin und stellvertretende Vorsitzende der Österreichischen Evangelischen Allianz.

Die Produkte des Gutshofs sind unter gutesvomgutshof.at zu finden, Infos zum Bruderhof gibt es unter bruderhof.com.

„Frost kannten wir nicht“ – Klimawandel trifft Kenia besonders hart

Hunger ist in Kenia ein großes Problem, das durch den Klimawandel noch verstärkt wird. Die Bäuerinnen und Bauern wissen mit den neuen Bedingungen nicht umzugehen. Aber es gibt Lösungen.

Energisch schieben die kleinen Weißkohlpflänzchen ihre grünen Blätter aus dem groben Ackerboden. Neben ihnen sind in regelmäßigen Reihen dünne, schwarze Schläuche mit kleinen Löchern verlegt und benetzen die Erde direkt an den Wurzeln. Gepumpt wird das Wasser ganzjährig mit Solarkraft aus 250 Metern Tiefe. Hier in Ilbisil, im trockenen Süden Kenias, wird durch die Umsetzung dieser Idee der Gemüseanbau möglich.

Projekte wie dieses vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanzierte Tröpfchenbewässerungssystem machen Hoffnung. Denn die Folgen des Klimawandels sind überall im Land zu spüren: Die Temperaturen sind in den letzten Jahrzehnten gestiegen, erstmals herrschen Bedingungen, in denen Wirbelstürme entstehen. Die Winde werden stärker, die Regenphasen kürzer, im Norden gibt es Überschwemmungen, im Süden bleiben die Niederschläge aus.

Bevölkerungswachstum wird zum Problem

Während meiner zweiwöchigen Reise durch Kenia begegne ich allen diesen Phänomenen und kann nun besser verstehen, welche Mühen sie den Menschen bereiten. Der Klimawandel ist nicht die einzige Ursache für viele Probleme im Land. Eine weitere ist das schnelle Bevölkerungswachstum, durch das die ohnehin begrenzten Ressourcen noch knapper werden. Doch der Klimawandel verstärkt eindeutig die Herausforderungen im Land.

Elvis Mutahi G. zeigt mir ein Projekt in Kinari, etwa 80 Kilometer nördlich von Nairobi, das hilfsbedürftige Bauernfamilien unterstützt. Auf einem halben Hektar Land bauen zehn landwirtschaftliche Gruppen aus jeweils 15 Personen Kohl, Spinat und Kartoffeln an. Von der Ernte wird jeweils ein Teil verbraucht, ein Teil verkauft und ein weiterer als Saatgut zurückbehalten.

Schädliches Pflanzenschutzmittel aus Verzweiflung

Es ist kalt und regnerisch, als ich die Menschen dort treffe. Während wir in einem Zelt zusammensitzen und süßen heißen Tee trinken, berichtet uns Fidelis D. von den klimatischen Herausforderungen in diesem Jahr. „Es ist mit 17 Grad Celsius viel zu kalt für diese Jahreszeit“, erzählt sie. „Es regnet entweder zu viel oder zu wenig. Derzeit macht der Frost die Pflanzen kaputt.“ Die anderen Mitglieder der Community bestätigen ihre Worte mit traurigem Nicken. Einer ergänzt: „Frost ist für uns ein neues Phänomen, das kennen wir nicht und wissen damit nicht umzugehen.“ Derzeit begegnen die Bauern der Kälte, indem sie mehr Pflanzenschutzmittel sprühen. „Wir wissen, dass das schädlich ist“, sagt Elvis. „Doch die Bauern sind verzweifelt. Sie möchten die Ernte retten, die Pflanzen schützen und denken, wenn sie die Blätter genügend einsprühen, werden sie umhüllt und bleiben vom Frost verschont.“

Mehr Pestizide verursachen weitere Probleme. Nachweislich befinden sich mehr Rückstände im Grundwasser. Elvis berichtet, dass mehr und mehr Kinder aus der Gegend rund um Kinari unter Magen-Darm-Erkrankungen leiden; Bauchschmerzen und Durchfall haben zugenommen. Auch Geschwüre und mehr Krebsleiden sind unter den Erwachsenen bereits aufgetreten. Ob das nur an den Pestiziden liegt, vermag Elvis nicht zu beurteilen. Ganz ausschließen will er es nicht.

„Die Menschen hungern“

Er und sein Kollege John Gitau N. haben es als lokale Projektverantwortliche gerade nicht leicht. Für über 400 Familien sind sie verantwortlich, viele Klagen und Hilferufe hören sie sich an. „Die Menschen hungern“, berichtet John. „Natürlich wenden sie sich dann an uns. Sie wollen Hilfe – und am besten, dass wir das Wetter ändern“, sagt er und sein Lachen klingt ein wenig resigniert.

Der Norden von Kenia war dank seines gemäßigten Klimas früher einmal sehr fruchtbar. Die Menschen konnten sich auf die beiden großen Regenzeiten im Frühjahr und Herbst ebenso verlassen wie auf die konstanten Tagestemperaturen zwischen 23 und 27 Grad. In guten Jahren wurde drei bis vier Mal geerntet. Diese Zeiten sind vorbei, erklärt Timothy J. Kai Banda. Der 54-Jährige arbeitet seit 1990 als Metereologe am Kenya Meteorological Department in der Region Kilifiund hat sich auf den Klimawandel spezialisiert. Er sagt: „Die Daten, die wir über Jahre gesammelt haben, belegen eindeutig, dass die Extreme weiter zunehmen. Die Tendenz ist nicht mehr aufzuhalten, das gemäßigte Klima geht seinem Ende entgegen.“

Nationaler Notstand

Die nächsten Tage verbringe ich im Süden des Landes. Der Kontrast zum kalten und feuchten Norden könnte kaum größer sein. Der Temperaturunterschied liegt bei 13 Grad Celsius. Heiß und trocken ist es in Ilbisil, etwa 120 Kilometer südlich der Hauptstadt Nairobi.

Der Staub legt sich auf die Haut, die Kleidung und die Haare. Das Volk der Massai lebt hier. Sein traditionelles Nomadenleben kann es schon seit Jahren nicht mehr führen. Von Wasserstelle zu Wasserstelle zu ziehen, ist unmöglich geworden. Seit sechs Monaten herrscht hier eine der schlimmsten Dürren, die es jemals gegeben hat. Ich bin gerade im Land, als der kenianische Präsident Uhuru Kenyatta am Abend des 9. September 2021 wegen der Trockenheit den nationalen Notstand ausruft. Alles sieht beige und braun aus, selbst die Akazien tragen kaum noch Grün in ihren Kronen. Die Flüsse sind ausgetrocknet. Der größte Strom der Gegend, der Sarimoi River, wirkt, als wäre nie Wasser durch ihn geflossen. Staubtrocken ist der Boden, die Flussufer sind nicht einmal mehr als solche zu erkennen. Die Menschen machen einen ausgezehrten Eindruck. In den Gesichtern der Kinder sitzen die Fliegen. „Auch die Insekten haben Durst“, erklärt mir John. „Die Fliegen und Moskitos setzen sich auf die Schleimhäute, damit sie trinken können. Die Kinder sind so daran gewöhnt, dass sie sie nicht einmal mehr vertreiben.“

Es braucht eine andere Ernährung

Seit zehn Jahren arbeitet der Agronom Peterson Kimathi Ngain (39) mit Bäuerinnen und Bauern aus Kenia zusammen. Die Tröpfchenbewässerung in Ilbisil ist eins seiner Pilotprojekte. Neben Solarpumpe und Bewässerungsanlage stehen hier zudem drei Gewächshäuser für den Gemüseanbau. In verschiedenen Regionen des Landes war er schon tätig und hat noch mehr Ideen, wie sich die Situation verbessern ließe: „Wir müssen wieder mehr einheimische Pflanzenarten anbauen: Pflanzen, die dürreresistenter sind wie zum Beispiel Amaranth, Kuhbohnen oder Muskraut.“ Eine Sortenvielfalt sorgt überdies für mehr Nährstoffe und verhindert Mangelernährung. Daneben plädiert der Agronom dafür, Wissen darüber zu vermitteln, wie Lebensmittel haltbar gemacht werden können: „Die Menschen müssen lernen, wie man Feldfrüchte lagert oder so verarbeitet, dass man viele Monate davon essen kann“, sagt er und benennt damit ein Problem, das mir immer wieder in Afrika begegnet: Wenn es etwas zu ernten gibt, gibt es etwas zu essen. Kann gerade nichts geerntet werden, bleiben die Teller leer.

Das kulturelle Wissen zur Konservierung von Lebensmitteln wie salzen, fermentieren, einkochen oder räuchern gibt es vielerorts nicht. Oft ist es durch Kriege, Naturkatastrophen oder Krankheiten verloren gegangen, weil es nicht von einer Generation an die nächste weitergegeben werden konnte. Die Folge: „Wir ernten nur, was wir heute essen“, erzählt mir Elvis. Hier in Ilbisil ist unsere Organisation ora Kinderhilfe gerade dabei, mit einfachen Mitteln etwas zu ändern: Neben den Gewächshäusern wird aus Holzgestängen ein Lager errichtet, wie es im Norden in Kinari schon eine Weile steht. Dort werden erfolgreich Kartoffeln gelagert und vor dem Schimmeln bewahrt. In Ilbisil sollen Tomaten aus dem Gewächshaus die ersten Früchte sein, die im Lager Platz finden. Im Dezember sind sie erntereif.

Carmen Schöngraf ist Geschäftsführerin von ora Kinderhilfe international e. V., einer christlichen Organisation, die unter anderem in Kenia Projekte entwickelt, die Einkommen für die Menschen schaffen.

Bio-Siegel oder Leih-Tanne: So finden Sie nachhaltige Weihnachtsbäume

Gibt es nachhaltige Alternativen zur klassischen Weihnachtstanne? Und ob: Sechs Ideen für umweltschonende Festtage.

Nordmanntannen sind die klassischen Weihnachtsbäume, wachsen aber meist in Monokulturen, werden mit Pestiziden behandelt und haben manchmal weite Wege aus dem Ausland hinter sich, bevor sie unsere Stube verschönern. Es gibt jedoch Alternativen.

Bio-Bäume: Sie wachsen in Mischkulturen auf und werden nicht mit Herbiziden behandelt. Zu erkennen sind sie an den Bio-Siegeln etwa von Bioland oder Naturland. Auch viele Baumärkte bieten sie mittlerweile an. Eine Liste mit Verkaufsstellen hat die Organisation Robin Wood zusammengestellt.

„Fair Tree“: Das dänische Siegel zeigt an, dass die Umwelt geschont, vor allem aber die georgischen Zapfenpflücker fair bezahlt und für ihre Kletteraktionen gut ausgerüstet werden.

Mieten Sie Ihren Baum

Vor Ort: Bäume aus regionaler Forstwirtschaft haben immerhin kurze Transportwege und über ihren Anbau kann man sich informieren.

Leih-Bäume: Einige Betriebe bieten Bäume auch zur Miete an. Sie sind eingetopft, werden nach den Feiertagen zurückgegeben und wieder in die Erde gepflanzt (z. B. über „Green Tree“).

Im Topf: Wer den Baum selbst im Topf kauft und nach Weihnachten draußen einpflanzt, kann in den kommenden Jahren gleich dort schmücken. Gartenbesitzer können ihren eigenen Baum natürlich schon als Setzling pflanzen und ein paar Jahre pflegen, bevor sie ihn ins Wohnzimmer holen.

Plastik rentiert sich nicht

Plastikbäume: Dabei sollte man nicht nur bedenken, dass sie in Fernost produziert werden und eine weite Strecke zurücklegen, sondern auch Rohstoffe verbrauchen und meist doch nach wenigen Jahren im Müll landen. Gegenüber einem gefällten Baum pro Jahr gleicht sich die Ökobilanz eines Plastikbaums erst nach etwa 20 Jahren aus.

Do it yourself: Wer auch ohne gewachsenen Baum auskommt, kann sich aus Ästen Schnur und natürlichen Dekomaterialien auch eine eigene, nachhaltige Kreation schaffen.

Ehrenamt für einen Tag: Dieses Hamburger Konzept feiert gerade Erfolge

Miriam Schwartz veranstaltet mit dem Verein „tatkräftig“ eintägige Hilfseinsätze in Hamburg. Ihre Arbeit macht Ehrenamt auch für Vollzeitjobber möglich, wie sie im Interview erzählt.

Melanie Carstens: Euer Motto bei „tatkräftig“ ist: „Ein Team, ein Tag, ein Ziel.“ Was bedeutet das konkret?
Miriam Schwartz: Das ist quasi Engagement in das kleinstmögliche Format gepresst. Wir möchten für Leute, die im normalen Leben sehr eingespannt sind, einen Einstieg ins Ehrenamt schaffen. Der Einsatz ist auf einen Tag beschränkt und man engagiert sich als Gruppe. So können wir Hemmschwellen bei den Freiwilligen abbauen: Wenn ich weiß, ich kann Freunde mitbringen oder ich treffe vor Ort auf Gleichgesinnte, die sich mit engagieren, ist es viel einfacher, den ersten Schritt zu wagen. Als „tatkräftig“-Team bereiten wir im Vorfeld alles sehr gut vor: Wir haben verschiedenste Einsatzpartner, mit denen wir vorher absprechen, was an dem Tag geschafft werden soll. Die Freiwilligen bekommen dann ein Projektdatenblatt mit den Aufgaben und wissen vorher genau: Das ist heute unser Ziel.

Du hast den Verein 2012 gegründet. Wie fing das alles an?
Der Impuls kam ursprünglich vom Hamburg-Projekt, einer Freikirche, die gerade relativ neu gegründet worden war. Den Pastoren war wichtig, dass Menschen praktisch anpacken und einen Beitrag leisten, damit es den Menschen in der Stadt besser geht. Zu dieser Zeit war ich selbst noch gar nicht in Hamburg. Als ich später dazukam, habe ich dann ein Konzept geschrieben, wie wir diese Idee umsetzen können. Einer aus der Gemeinde hat dieses Konzept dann einem Unternehmen vorgelegt und gesagt: „Ihr könnt Steuern sparen, wenn ihr uns regelmäßig Geld spendet.“ Das Unternehmen hat tatsächlich zugesagt und daraus wurde die erste Minijob-Stelle, nämlich meine. Nach einem Gottesdienst habe ich eine Ansage gemacht: „Wir wollen hier etwas Neues aufbauen, wir wollen eine Plattform für Freiwillige schaffen, die sich in der Stadt engagieren.“ Offenbar hatten viele darauf gewartet, denn nach dem Gottesdienst kamen 15 Leute auf mich zu und hatten Lust mitzumachen. Das war unser Gründungsteam und wir haben dann 2012 den Verein „tatkräftig“ gegründet.

Ehrenamt betrifft jeden

War dein Glaube für dich eine Motivation, dich in der Stadt zu engagieren?
Ja, für mich steht die Nächstenliebe im Glauben über fast allem. Ich hatte mich, bevor ich „tatkräftig“ gegründet habe, auch schon selbst viel engagiert, denn ich möchte dazu beitragen, dass es anderen Menschen besser geht. Wir haben aber schnell gemerkt, dass das Konzept auch nicht gläubige Menschen anspricht. Viele haben das Bedürfnis, anderen zu helfen.

Nach diesem Gottesdienst hattet ihr schon mal 15 Freiwillige. Wie habt ihr die Leute gefunden, denen ihr etwas Gutes tun wollt?
Wir haben uns in den Niederlanden das Projekt „Stichting Present“ angeschaut, das bereits etwas Ähnliches umsetzt. Das Konzept beruht darauf, dass man in den Austausch mit verschiedensten gemeinnützigen Einrichtungen geht und guckt, wo dort der Bedarf ist, um dann mit anzupacken. Also weniger, dass man einzelne Menschen ausfindig macht, denen man hilft, sondern sich eher auf Organisationsebene vernetzt.

Wie habt ihr dann losgelegt?
Wir sind voller Ideen und Begeisterung nach Hamburg zurückgekommen und haben uns umgeschaut: Welche gemeinnützigen Einrichtungen gibt es überhaupt in Hamburg? Was sind Zielgruppen, die man unterstützen könnte? Ich habe mich mit interessierten gemeinnützigen Organisationen getroffen, um ihnen von unserer Idee zu erzählen. Die meisten Organisationen dachten aber noch in den klassischen Ehrenamts-Strukturen und mussten erstmal davon überzeugt werden, dass man auch an einem Tag viel schaffen kann und dass es sich lohnt, sich auf so eine Gruppe einzulassen. Seit den ersten erfolgreichen Testprojekten fragen uns viele Organisationen an, ob sie nicht auch Hilfe bekommen können.

Unternehmen fragen fürs Team-Building an

Und wie findet ihr weitere Freiwillige, die bei den Einsätzen mitmachen?
Anfangs kamen sehr viele aus dem Hamburg-Projekt, viele Kleingruppen haben sich mit uns engagiert. Dann hat sich das so seinen Weg gebahnt: Diese Leute haben auf der Arbeit davon erzählt, daraufhin haben wiederum die ersten Firmen bei uns angefragt, die mit ihren Mitarbeitenden einen Einsatz zum Teambuilding machen wollten. Weil die Einsätze sehr viel Begeisterung bei den Freiwilligen ausgelöst haben, haben sie das wiederum in ihrem Freundeskreis weitererzählt und so hat es sich sehr schnell herumgesprochen.

Okay, jetzt gibt es also Organisationen, die einen Bedarf haben – und Teams von Freiwilligen, die sich für einen Tag einsetzen wollen: Wie kommen die zusammen?
Es gibt zwei Wege: Entweder meldet sich eine Einrichtung oder eine Organisation bei uns. Zum Beispiel arbeiten wir regelmäßig mit dem Ronald McDonald-Haus in Hamburg-Altona zusammen. Dort können Eltern schwerkranker Kinder wohnen, während ihre Kinder im Altonaer Kinderkrankenhaus behandelt werden. Das ist natürlich eine sehr belastende Situation für sie. Dieses Haus hatte sich gewünscht, dass wir dort einmal im Monat für die Eltern kochen, um sie mal ein bisschen zu verwöhnen. Bei vielen Sommerfesten werden Freiwillige gesucht, die helfen, Essen vorzubereiten oder die Hüpfburg und andere Spielstationen zu betreuen, damit die Mitarbeitenden frei sind, sich mit den Gästen zu unterhalten.

Und was ist der zweite Weg?
Der andere Weg ist, dass ein Team aus einem Unternehmen, eine Schulklasse oder eine private Gruppe sich bei uns meldet. Daraufhin nehmen wir mit einigen dazu passenden Einrichtungen Kontakt auf, stellen der Freiwilligen-Gruppe zwei bis drei Einsatzideen vor und die dürfen sich dann ihr Lieblingsprojekt auswählen. Dadurch ist auch gewährleistet, dass die Gruppe richtig Lust auf den Einsatz hat.

Und die anderen beiden Organisationen müssen damit leben, dass es dieses Mal nicht gepasst hat?
Die bleiben dann bei uns auf der Liste, bis die nächste passende Gruppe anfragt. Wir vergessen da niemanden.

„tätkräftig“ fördert Verständnis füreinander

Was motiviert Leute, sich bei euch als Freiwillige zu melden?
Diejenigen, die privat auf uns zukommen, wollen einfach mal helfen und etwas Gutes tun, wissen aber meist nicht, wo sie anfangen sollen. Durch uns können sie den ersten Schritt ins Ehrenamt schaffen. Häufig kommen sie wieder, machen mehrmals mit und bleiben manchmal sogar langfristig irgendwo.

Welches Feedback habt ihr nach Einsätzen schon bekommen?
Ganz oft entsteht die Erkenntnis: „Mann, mir geht’s eigentlich echt gut und ich müsste viel öfter helfen.“ Oder Leute sagen: „Ich hatte noch nie mit Menschen mit Behinderung zu tun, aber es war viel einfacher, als ich dachte.“ Oft organisieren wir auch Projekte mit dem christlichen Kinder- und Jugendwerk „Die Arche“. Dort erleben unsere Freiwilligen, unter welch schwierigen Lebensverhältnissen die Kinder leben, und wie beeindruckend es ist, was die Mitarbeiter leisten. Deshalb sage ich auch immer: Bei „tatkräftig“ geht es nicht darum, das Ehrenamt zu fördern, sondern wir stärken den Zusammenhalt zwischen den Menschen, indem wir Verständnis füreinander schaffen. Weil wir die Leute dahin bringen, wo sie sonst nicht hinkommen würden.

Herausforderung Spenden

Wer bezahlt euch für eure Arbeit? Die Einrichtungen vermutlich nicht, oder?
Nein, die Einrichtungen können sich das nicht leisten. Und wenn die Freiwilligen irgendwo hingehen und helfen, wollen sie natürlich nicht auch noch bezahlen. Das ist eine große Herausforderung für uns als organisierender Verein. Deshalb sind wir zum allergrößten Teil durch Spenden finanziert, damit wir diese ehrenamtliche Hilfe kostenlos anbieten können.

Was begeistert dich selbst am meisten bei eurem Projekt?
Wir versuchen immer, ehrenamtliche Projektbegleiter, die von uns ausgebildet wurden, zum Einsatz mitzuschicken, um vor Ort dafür zu sorgen, dass alles gut läuft. In dieser Rolle bin ich selbst auch ehrenamtlich bei Projekten dabei und erlebe diesen Spirit live vor Ort. Egal, wie die Umstände sind, die Stimmung im Team entwickelt sich immer sehr schnell sehr positiv. Da kann dann auch mal ein Regenguss kommen oder Material fehlen. Man schafft es irgendwie trotzdem als Team immer, das gut zu Ende zu bringen und fühlt sich hinterher bestätigt und bestärkt. Das liebe ich total.

„Wir verändern mit jedem Einsatz die Menschen, die sich einsetzen“

Und wie erleben die Hilfeempfänger das?
Die Bewohner einer Behinderteneinrichtung wünschten sich, beim „Hamburg-räumt-auf“-Tag mit Müll zu sammeln, brauchten aber Assistenz dabei. Das haben wir schon öfter organisiert. Durch die gemeinsame Arbeit auf Augenhöhe merkt man einfach, dass keiner über dem anderen steht. Ich bin nicht der Helfende und das ist der Hilfeempfänger, sondern man hat einfach gemeinsam eine gute Zeit. Das treibt uns auch als Team an: Dass wir nicht einfach nur irgendwo Hilfe hinschicken, sondern wir verändern auch mit jedem Einsatz die Menschen, die sich einsetzen. Wir machen nicht nur Hamburg ein bisschen besser, sondern auch die Freiwilligen bekommen eine neue Einstellung zum Ehrenamt oder zu anderen Gruppen, die sie sonst nicht kennenlernen würden.

Während der Corona-Zeit habt ihr noch einen neuen Arbeitszweig gegründet: „tatkräftig fürs Klima“, mit dem ihr Projekte im Bereich Natur- und Umweltschutz unterstützt. Wie kam es dazu?
Ich selbst habe eine sehr soziale Ader, daher ging es mir bisher immer um Menschen. Den Blick für Natur und Tiere hatte ich ganz lange nicht. Aber vor drei Jahren hat es auf einmal „klick“ gemacht. Ich begriff, wie schlimm es um die Welt steht, und dass sich wirklich etwas tun muss. Daraufhin habe ich angefangen, bei mir persönlich sehr viel zu verändern: Müllvermeidung, Gebrauchtes kaufen, weniger Fleisch – die ganze Palette. Das ging auch vielen in unserem Team so und wir dachten: Es wäre doch cool, wenn wir nicht nur persönlich an Stellschrauben drehen, sondern auch auf Organisationsebene einen Beitrag leisten könnten. So waren wir uns schnell einig, dass wir auch mit „tatkräftig“ dafür sorgen möchten, dass es der Welt besser geht.

Miriam Schwartz ist die Vorsitzende des Vereins „tatkräftig e. V.“, der 2012 gegründet wurde und eintägige Hilfseinsätze mit Freiwilligengruppen organisiert, um sich gemeinsam für die Mitmenschen und die Natur in ihrer Heimatstadt Hamburg einzusetzen. Dabei arbeiten sie mit gemeinnützigen Organisationen aus dem sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich zusammen. Das „tatkräftig“-Team besteht momentan aus neun festen Mitarbeitenden mit vier Teilzeitstellen und fünf Minijobs, die durch Spenden und Fördermitglieder finanziert werden. Weitere Infos: tatkraeftig.org

InterviewMelanie Carstens

Diese vierköpfige Familie kommt auf dem Land (fast) ohne Auto zurecht

Familie Völkner ist fast ausschließlich mit dem E-Bike unterwegs. Und das klappt auch außerhalb der Stadt erstaunlich gut.

Mit meinem Fahrrad und dem Anhänger dazu bin ich in unserem Ort eine Seltenheit. Wenn ich auf den Straßen und Feldwegen unterwegs bin, werden mir immer wieder überraschte Blicke und Kommentare zugerufen. Denn wir sind als vierköpfige Familie nahezu autofrei unterwegs. Wir glauben, dass das Leben auch anders geht. Dass vieles möglich ist. Dass es Wege gibt, wo es einen Willen gibt. Um es jedoch gleich vorweg zu nehmen: Ganz autofrei leben wir nicht. Wir wohnen neben meinen Schwiegereltern und können uns bei Bedarf ihr Auto leihen. Und falls sich für große Fahrten mal die Termine überschneiden, können wir immer noch ein Auto mieten. Allerdings ist das für uns eher die Ausnahme, nicht der Alltag.

Schneller als mit dem Auto

Das autofreie Leben begann eigentlich schon in unserer Ausbildung. Als mein heutiger Mann Michael und ich zusammenkamen, lebte er in der Schweiz und ich in Rostock. Neun Monate führten wir eine Fernbeziehung und verbrachten regelmäßig zehn bis zwölf Stunden in Zügen und auf Bahnhöfen. Die meisten Fahrten verliefen wirklich gut. Kurz nach unserer Hochzeit zogen wir dann nach Braunschweig, eine flache Stadt ohne Hügel und mit gut ausgebauten Fahrradwegen. So beschlossen wir schnell, auch weiterhin aufs Auto zu verzichten, als sich unser erster Nachwuchs ankündigte. In Braunschweig war alles sehr gut mit dem Fahrrad zu erreichen – teils sogar schneller als mit dem Auto. Wir kauften uns einen Fahrradwagen und entschieden uns für einen Einsitzer, weil wir den Wagen stets in den Keller verfrachten mussten. Schwieriger wurde das Thema, als wir nach Hessen zogen. Hier ist die Landschaft zwar nicht bergig, aber doch deutlich hügeliger. Außerdem kündigte sich unser zweites Kind bei unserem Umzug schon sehr deutlich an. Also fragten wir uns: Kann man als vierköpfige Familie auf dem Land autofrei leben? Wie aufwendig ist das? Und lohnt sich dieser Aufwand finanziell überhaupt?

Essensplan umfasst 16 Wochen

Das hessische Dorf, in dem wir wohnen, hat alles, was man zum täglichen Leben braucht, vor Ort: Kindergarten, Schule, Bahnhof, Einkaufsmöglichkeiten – alles ist vorhanden. Mein Mann arbeitet zehn Kilometer von unserem Wohnort entfernt als Allgemeinmediziner. Ich bin gelernte Erzieherin und Religions- und Gemeindepädagogin und arbeite zurzeit zu Hause mit unseren beiden Jungs. Michael fährt morgens mit dem Rad zur Arbeit und ich bringe normalerweise unseren Großen im Anhänger – mittlerweile ein Zweisitzer – zum Kindergarten. Der Kleine kommt dabei natürlich mit. Ein- bis zweimal die Woche holen wir meinen Mann von der Arbeit ab. Einfach aus Spaß. Ich bekomme Bewegung, die Jungs frische Luft. Bisher haben die Kinder das auch genossen, einträchtig nebeneinandergesessen und die vorbeiziehende Landschaft beobachtet. Aber natürlich gibt es auch mal Streitigkeiten auf dem Rücksitz.

Unseren Einkauf versuchen wir einmal in der Woche zu erledigen. Wir haben einen Essensplan über 16 Wochen festgelegt, der sich drei- bis viermal im Jahr wiederholt. So weiß ich sehr genau, was ich einkaufen muss, und kann planen, ob ich nur den Rucksack, zusätzlich die Fahrradtaschen oder sogar noch einen Anhänger zum Einkaufen mitnehmen sollte. Für größere Feiern, bei denen wir viele Getränke brauchen, leihen wir uns das Auto meiner Schwiegereltern. Liefern lassen ist auch eine Option, die wir bisher aber nur selten nutzen.

Bahnreisen ohne Pipi- oder Stillpausen

Für Reisen haben wir beide eine Bahncard 50. Unsere Kinder fahren kostenlos mit. Wir planen unsere Reisen immer sehr frühzeitig, da bei Reisen mit Kindern eine Reservierung mit Zugbindung gewünscht ist. Mittlerweile geht auch das Packen sehr gut. Für eine zweiwöchige Urlaubsreise nehmen wir einen Koffer, eine Kraxe (Anm.: ein Rückentragekorb für Kinder), einen großen Rucksack, einen Kinderwagen und je einen kleinen Rucksack für die Kinder und für Reiseproviant mit. So hat jeder von uns eine Rückenbeladung, Michael schiebt den Wagen, ich ziehe den Koffer. Beim Umsteigen werden Kinder und kleine Rucksäcke in den Wagen verfrachtet. Was das Reisen betrifft, sind wir Fans der Deutschen Bahn. Wir buchen uns häufig das Kleinkindabteil und sind beispielsweise mit nur zweimal Umsteigen an unserem Zielort in der Schweiz. Dabei müssen wir keine Pipi- oder Stillpausen machen und können uns beide um die Kinder kümmern.

Ohne Vorüberlegungen geht es nicht

Natürlich erfordert das Reisen mit der Bahn etwas Planung. Ich muss rechtzeitig Tickets besorgen und bin abhängig davon, dass die Züge pünktlich kommen. Außerdem muss ich klären, wie ich vom Bahnhof zum Zielort komme, falls es – wie bei meinen Eltern – keinen Bahnhof direkt im Ort gibt. Auch beim Packen muss ich sehr genau darauf achten, was ich mitnehme und ob wir das wirklich brauchen. Andererseits machen sich auch Autofahrer viele Gedanken: Parkplätze, Parktickets, Tanken, Versicherungen, TÜV, Werkstatt, Reifenwechsel. Um all das brauchen wir uns nicht zu kümmern. Wer Auto fährt, macht sich das häufig nur gar nicht mehr bewusst, weil es eben dazugehört. An manchen Stellen müssen andere unseren Lebensstil mittragen. Meine Eltern beispielsweise müssen uns vom Bahnhof abholen, wenn wir sie besuchen. Und meine Schwiegereltern müssen ab und an ein bis zwei Wochen auf ihr Auto verzichten, wenn wir es ausleihen. Ich betrachte mich mittlerweile als Vegetarierin der Mobilität. Auch da muss das Umfeld mitziehen. Wenn manche Familienmitglieder da sind, kocht meine Mutter beispielsweise vegetarisch. Dann macht sie sich Gedanken über mögliche Rezepte und Essenspläne. Und bei uns überlegt sie eben, wie sie uns vom Bahnhof nach Hause bekommt.

Natürlich haben wir mit der Bahn auch schon abenteuerliche Fahrten erlebt. Aber die hatten wir mit dem Auto auch. Nur lässt sich vom „im Stau stehen, während die Kinder schreien“ nicht so gut erzählen wie von der Bahnfahrt, bei der ein Laster in die Oberleitung gekracht ist und wir von Bahnhof zu Bahnhof schauen mussten, ob wir an dem Tag noch nach Hause kamen.

Auto vs. E-Bike: Die Kosten im Vergleich

Als wir umgezogen sind und entscheiden mussten, ob wir uns ein Auto kaufen oder uns zwei E-Bikes zulegen, um unsere Wege zurückzulegen, haben wir eine Tabelle aufgestellt. Diese Tabelle ist natürlich nur ein Modell. Wir haben lange hin und her überlegt, wie man die Kosten für beide Lebensweisen möglichst realistisch aufzeigen kann. Ein Blick in Rechnungsbeispiele vom ADAC sowie auf greenstorm.eu ergeben, dass eine Kilometer-Pauschale für die laufenden Kosten sinnvoll ist. Dabei wird für das Auto mit 40 Cent pro Kilometer gerechnet, die E-Bikes mit 10 Cent. Darin sind enthalten: Anschaffungskosten, Werkstattkosten, Kraftstoff/Strom, Wertverlust, Versicherung, etc. Als Beispiel wurde hier mit einem Skoda Octavia Combi gerechnet. Gegenüber diesem Modell sparen wir im Jahr über 2.000 Euro. Und wir haben entschieden, dass sich das für uns momentan durchaus lohnt. Bei einem VW Touran läge die Pauschale bei 56 statt 40 Cent und unsere Ersparnis schon bei über 4.000 Euro. Insofern ist diese Rechnung nicht ganz eindeutig, da man je nach Automodell und Versicherung zu verschiedenen Ergebnissen kommen kann. Hinzukommt, dass wir die E-Bikes über Michaels Arbeit leasen können und dadurch steuerliche Vergünstigungen haben. Somit kosten uns die Räder faktisch sogar deutlich weniger.

Ökologisch sinnvoll

Was ich gerne zugebe: Im Winter kostet es mich manchmal wirklich Überwindung, aufs Fahrrad zu steigen und loszuradeln. Aber wenn wir mitten im Regen zurückfahren und ich die ganze Schlange an Autos überhole, in denen jeweils ein einzelner Mensch im Feierabendverkehr feststeckt, fühlt sich das wiederum ziemlich gut an. Und auch ökologisch ist es natürlich sinnvoll, aufs Auto zu verzichten. Bei oben genannter Kilometerleistung sparen wir je nach Automodell rund 1,5 Tonnen CO2 pro Jahr ein.

Es ist, wie vieles im Leben, eine Frage des Wollens: Will ich diesen Lebensstil führen? Will ich die Spontaneität und Freiheit, die ein Auto bieten kann, aufgeben? Wir jedenfalls vermissen sie momentan nicht. Für uns ist der Aufwand sehr überschaubar und wir genießen dafür andere Vorteile, wie zum Beispiel die Bewegungsfreiheit in den Zügen. Das bedeutet nicht, dass sich unsere Lebensumstände nicht ändern könnten und wir uns dann möglicherweise doch irgendwann ein Auto zulegen. Doch bis dahin leben wir mit unserem Modell sehr gut.

Almut Völkner ist gelernte Erzieherin und Religions- und Gemeindepädagogin, arbeitet zurzeit zu Hause mit ihren beiden Jungs und veröffentlicht Texte unter almut-wortkunst.de

Weitergeben statt Wegwerfen: Wie Kreislaufwirtschaft Müllprobleme lösen will

Die Kreislaufwirtschaft soll helfen, Müll zu vermeiden und Produkte so lange wie möglich zu gebrauchen. Damit der Systemwandel gelingt, benötigt es jedoch ein Umdenken.

Unsere herkömmliche Wirtschaftsform funktioniert linear. Das heißt: Es werden Ressourcen abgebaut, zu einem Produkt verarbeitet, es wird verkauft, verwendet und entsorgt – wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Die problematischen Folgen davon sehen wir überall: Abfall, Umweltbelastungen, Rohstoffverknappung.

Produkte möglichst lange gebrauchen

Die Kreislaufwirtschaft oder Circular Economy geht von endlichen Ressourcen aus und möchte Materialkreisläufe möglichst schließen. Ziel dieses ganzheitlichen Ansatzes ist, Müll zu vermeiden, Lebenszyklen von Material und Produkten zu verlängern und Ressourcen so lange wie möglich und mit dem höchstmöglichen Wert in Gebrauch zu halten.

Die gemeinnützige Ellen MacArthur Foundation, die Kreislaufwirtschaft fördert, beschreibt sie als ein System mit dem Ziel, „Wachstum neu zu definieren und sich auf den positiven Nutzen für die gesamte Gesellschaft zu konzentrieren. Dazu gehört die schrittweise Entkopplung der Wirtschaft vom Verbrauch endlicher Ressourcen und die Reduzierung von Abfall.“ Vorbild ist die Natur, etwa wenn abgestorbene Pflanzen zu Humus werden und wiederum Nährstoffe für neue Pflanzen liefern.

Wert eines Produkts schützt vor Entsorgen

Ein Grundprinzip der Kreislaufwirtschaft ist es, Material und Produkten einen Wert beizumessen, statt sie als Abfall zu deklarieren. Dinge, die einen Wert haben, werden wir nicht einfach entsorgen. Wenn wir so denken, dann ist beispielsweise ein Kleidungsstück plötzlich so wertvoll, dass Wegwerfen nur im äußersten Notfall eine Option ist. Vorher kann Weitergeben, Flicken, Upcyceln, Wiederaufbereiten oder als letzte Möglichkeit auch Recyceln erwogen werden, um die Ressourcen daraus für neue Kleidungsstücke zu verwenden.

Die Kreislaufwirtschaft beginnt bereits beim Designen und Entwickeln von Produkten. Wie sie reparaturfähig und dauerhaft einsatzfähig sind, muss beispielsweise von Anfang an mitgedacht werden. Fehlt dieser Gedanke beim Entwickeln der Produkte und Dienstleistungen, dann kratzen wir nur an Symptomen.

Systemwandel nötig, damit Kreislaufwirtschaft gelingt

Verschiedene Aspekte sind wichtig:

  • Verwendung nachwachsender, klima- und umweltfreundlich gewonnener Rohstoffe
  • Einsatz erneuerbarer Energien
  • Auf Langlebigkeit angelegte Waren
  • Reparaturfähigkeit (z. B. Elektronikgeräte)
  • Wiederverwendbarkeit (z. B. Pfandflaschen)
  • Trennbarkeit der enthaltenen Rohstoffe für das Recycling
  • Anbindung an Recycling-Systeme

Im linearen Wirtschaftssystem werden einzelne Produkte und Dienstleistungen isoliert behandelt. Die Baumwollernte für eine Jeans hat beispielsweise nichts mit ihrem Verkauf zu tun. Im zirkularen Denken hingegen gilt jeder Schritt als Teil eines Systems, an dem verschiedene Akteure beteiligt sind: Jemand designt ein Kleidungsstück mit dem Ziel einer langen Nutzungsdauer, andere übernehmen die umwelt- und sozialverträgliche Herstellung, weitere Akteure kümmern sich um Verkauf und schließlich den möglichst langen Gebrauch, etwa durch Reparatur, Weitergabe im Secondhandshop oder einen Verleih. Jeder einzelne Schritt wird wertgeschätzt, weil er zum Gelingen der Kreislaufwirtschaft beiträgt.

Text: Debora Alder-Gasser