Das Hausboot von Kerstin Hack, Foto: Privat

Hausboot: Kerstin ist auf dem Wasser daheim

Kerstin Hacks Haus liegt an der Spree vor Anker. Als Hauptwohnsitz kann sie es jedoch nicht nutzen – wegen der deutschen Bestimmungen.

Wer Kerstin Hack zu Hause besucht, sollte eines nicht sein: wasserscheu. Denn die Autorin, Verlegerin und Beraterin lebt in einem alten, 24 Meter langen umgebauten Marineschiff am Ufer der Spree in Berlin. Hier wohnt sie nicht nur, sondern bietet an Board auch Auszeiten für Menschen an, die zur Ruhe kommen und neue Perspektiven finden wollen. Es gefällt Kerstin Hack, täglich von Wasser umgeben zu sein: „Der Blick aus dem Fenster ist jeden Morgen anders. Mal ist das Wasser ruhig, mal sehr belebt. Mal sind viele Vögel und Boote unterwegs, manchmal ist es ganz still.“

Von einem Ort zum nächsten schippern kann Kerstin nicht: Ihr Boot hat keinen Motor mehr und ist somit fest an seinem Liegeplatz verankert. Dennoch gilt es rechtlich nicht als Immobilie und kann nur schwer als Hauptwohnsitz angemeldet werden. Kerstin hat daher offiziell einen anderen ersten Wohnsitz.

Liegeplatz ist schwer zu bekommen

Wer auf einem sogenannten „Floating Home“, einem auf dem Wasser gebauten Haus ohne eigenen Antrieb und mit festem Liegeplatz, seinen Erstwohnsitz anmelden möchte, benötigt zweierlei: eine Baugenehmigung wie bei einem Haus an Land auch und einen genehmigten Liegeplatz – die eher rar sind. Sich einen neuen genehmigen zu lassen, kann langwierig und kostenintensiv sein. Bei umgebauten „Traditionsschiffen“ ohne eigenen Antrieb wie in Kerstins Fall entfällt die Baugenehmigung, alle vier bis zehn Jahre muss das Schiff am Trockendeck auf die Schwimmfähigkeit überprüft werden.

Die Preise für wohntaugliche Hausboote variieren stark. Kleinere Boote mit 30 bis 40 Quadratmetern bekommt man ab etwa 70.000 Euro. Wer ein altes Traditionsschiff umbaut, kann deutlich Kosten sparen. Neben Versicherungen, Wartungen und Reparaturen müssen Liegeplatzgebühren bezahlt werden von etwa 20 Euro im Monat pro Meter Länge, also zwischen 2.000 und 6.000 Euro im Jahr. Nicht nur wer schnell seekrank wird, sollte das Leben auf einem Hausboot überdenken, man sollte auch nicht arbeitsscheu sein oder Platzangst haben, meint Kerstin. Sie selbst hat ihre Wohnform trotz zahlreicher Herausforderungen auf manchmal stürmischem Gewässer „keine Sekunde bereut“.

Mehr über Kerstin Hack ist unter kerstinhack.de zu finden.

Von Lisa-Maria Mehrkens

Symbolbild: Getty Images / E+ / imaginima

Tiny House: Tims Familie wohnt auf 25 Quadratmetern

Tim (Namen geändert) und seine Familie können ihr Haus wortwörtlich durch die Gegend fahren. Das Zusammenleben auf kleinstem Raum empfinden sie als unproblematisch.

Tim wohnt seit 2020 mit Frau, Kleinkind und zwei Katzen auf 25 Quadratmetern im Tiny House. Bereits in ihrer vorherigen Drei-Zimmer-Wohnung in der Großstadt beschlossen sie: „Zeit für die Kinder und Familie ist uns wichtiger als Karriere.“ So verkürzten sie ihre Arbeitszeiten. Ein traditionelles Haus ist auf diese Weise allerdings schwer finanzierbar. Tims Frau Anna träumte schon lange von einem Tiny House – und nach einem Wochenende Probewohnen war auch Tim überzeugt.

Als das Angebot kam, am selben Ort einen eigenen Tiny House-Stellplatz zu bekommen, griffen sie zu: „Irgendwann gingen uns die Argumente aus, warum wir es nicht tun sollten“, erzählen sie und sehen viele Vorteile: „Wir mussten uns bei der Bauplanung nicht auf einen Wohnort festlegen, obwohl wir was Eigenes haben wollten. Wir zahlen keine Miete mehr und sind dennoch flexibel. Für unser Haus reichte ein kleinerer Kredit aus, als für ein normales Haus notwendig gewesen wäre.“

Jeder Quadratmeter gut genutzt

Außerdem mache es ihnen Spaß, klein zu wohnen und kreative Lösungen zu finden: „Es ist toll, wie klug jeder Quadratmeter des Hauses genutzt wird. Es fühlt sich ein bisschen nach dauerhaftem Campingurlaub an – nur besser.“ Tim und Anna lieben es, in der Natur zu leben, viel draußen zu sein, Lagerfeuer zu machen – „und weniger Kram zu besitzen!“

Eine Schreinerei baute ein mobiles Häuschen auf Rädern, mit dem die beiden mittlerweile sogar schon ihren Wohnort gewechselt haben. Ohne großen Aufwand konnte es an einen anderen Ort geschafft werden. Damit gelten für sie rechtlich sogar zwei verschiedene Verordnungen: Um in ihrem Tiny House wohnen zu können, mussten sie einen Bauantrag stellen und unterliegen wie bei einem normalen Wohnhaus der Bauordnung des jeweiligen Bundeslandes. Sobald sie ihr Haus transportieren wollen, fällt es unter die Straßenverkehrsordnung und muss – wenn es fest mit dem Anhänger verbunden ist – als Wohnwagen zugelassen werden, sonst als Ladung.

Baugenehmigung ist Hürde

Die größte Hürde zum Traum vom Tiny House liegt oft in der Genehmigung des Bauantrags. Wichtig sei es, das zuständige Bauamt möglichst frühzeitig in das Projekt mit einzubeziehen: „Es ist sehr schade, wenn von dem Grundstück, der Umgebung alles passt, aber das geplante Haus irgendwelche Details mit sich bringt, die dann einer Genehmigung im Wege stehen.“

Die Kosten für ein solch kleines Zuhause sind sehr verschieden. Tim und Anna haben 2020 für ihr schlüsselfertiges Haus aus hochwertigen Materialien etwa 75.000 Euro bezahlt. Fertigbausätze gibt es ab rund 10.000 Euro. Hinzu kommen dann Eigenleistungen, Kosten für Dämmung und Innenausbau.

Vierstellig zu haben

Wer sein Tiny House – vielleicht sogar aus recycelten Baumaterialien – selbst baut und mit wenig zufrieden ist, kann sogar mit einem vierstelligen Betrag zurechtkommen. Wichtig für den Bau eines Tiny Houses: ein passendes Heiz- und Lüftungskonzept. Denn Luftfeuchtigkeit und Schimmelbildung sind immer ein Thema.

Das Zusammenleben auf so kleinem Raum hingegen findet Tim unproblematisch: „Wenn einer telefoniert, geht er bei gutem Wetter raus oder wir nutzen Kopfhörer. Vielleicht haben wir aber auch die Persönlichkeiten für ein Tiny House: Um uns nach einem Streit aus dem Weg zu gehen, brauchen wir nicht mehrere Räume.“

Einen großen Wocheneinkauf verstauen oder mehrere Leute einladen? Auch im Tiny House für die beiden kein Problem. Die kurzen Wege innerhalb des Hauses und ihre Tochter immer im Blick zu haben, sind für sie sogar Pluspunkte. Wieder in ein Steinhaus zu ziehen, könnten sich die beiden nicht vorstellen – „allein schon aufgrund des Raumklimas“. Mehr Platz allerdings ist geplant: Für ihre Tochter und eventuell weitere Kinder wollen Tim und Anna zukünftig noch ein weiteres Tiny House anbauen und so ihr kleines Wohnparadies erweitern.

Von Lisa-Maria Mehrkens

Die Jurte von innen, Foto: Pirmin Bertle

Pirmin lebt mit seiner Familie in einer Jurte

Pirmin Bertle hat sich wegen des besonderen Lichts in Jurten verliebt. Die Wohnung ist günstig – aber auch ein Graubereich.

Das türkische Wort yurt bedeutet Heim. Traditionell leben zentralasiatische Nomadenvölker in solchen schnell auf- und abbaubaren Zelten mit festem Gestell. Hierzulande bilden Holzgitter das Gerüst der runden Wohnjurten. Baumwollstoffe und Filz sorgen für eine gute Dämmung und Gemütlichkeit. Die Inneneinrichtung steht der einer traditionellen Wohnung in nichts nach.

Pirmin Bertle hat sich mit seiner Familie in das Leben in einer solchen Jurte verliebt. Der Profi-Kletterer hatte schon unter freiem Himmel, in Zelten und Wohnwagen in ganz Europa und in einem Bus in Südamerika gelebt, als er mit Frau und Kind das erste Mal in einem Jurtendorf übernachtete – und so begeistert war, dass sie als Familie gleich die letzte vorhandene Jurte kauften, aufbauten und dort einzogen.

30-mal günstiger als ein Haus

Nach einem Jahr waren es schon drei Jurten, jede fünf Meter im Durchmesser und von Pirmin selbst innerhalb von zwei Monaten aufgebaut. Jurten seien 30-mal günstiger als ein normales Haus, sagt Pirmin, dafür mit „theoretisch vielen rechtlich-gesellschaftlichen Hürden“ belegt. Sie spekulierten auf Duldung, mieteten auf einem größeren Hof ein Stück Land und stellten ihre Jurten dort auf.

Gegebenenfalls kann eine Jurte als sehr großes Zelt angesehen werden und gilt dann laut Bauordnung als „fliegender Bau“, also als architektonische Anlage, die an verschiedenen Orten mehrfach und zeitlich befristet aufgestellt und wieder abgebaut werden kann. Doch vor allem, wenn man eine größere Jurte als dauerhaften Hauptwohnsitz an einem Ort nutzen will, ist rechtlich eine Baugenehmigung nötig. Oft befindet sich die Nutzung in einer rechtlichen Grauzone.

Holz hacken im Schnee

Das Leben in einer Jurte hat seine Eigenheiten. Neben dem besonderen Licht sind es für Pirmin vor allem die „Nähe zum Himmel, zur Erde, zu den Pflanzen und Tieren, die mit uns diesen Ort teilen, die Leichtigkeit und Authentizität“, die diese Wohnform ausmachen. Und auch die damit verbundene Unmittelbarkeit schätzt er: Holz hacken im Schnee, um es warm zu haben. Tomaten mit eigenem Hühnermist düngen, um sie zu essen. „Das ist eine Kreislaufwirtschaft im Kleinen mit einem Heizbedarf von einem Fünftel, einem Strombedarf von einem Zehntel und einem Wasserbedarf von einem 25stel im Vergleich zum deutschen Durchschnittshaushalt“, erklärt Pirmin.

Auch die Anschaffungskosten für Jurten sind im Vergleich geradezu verschwindend gering: Laut Pirmin kosten wintertaugliche Jurten aus hochwertigen Materialien und mit viel Licht circa 3000 Euro pro Meter Durchmesser, wobei etwa ein Drittel der Kosten auf das Material entfällt. Komfortablere Wohnjurten mit Sanitärmodul und Heizung sind bereits für 10.000 bis 20.000 Euro zu haben.

Lebensqualität ist unübertroffen

Bereut hat Pirmin die Wahl seiner Behausung nie. Doch vor einem knappen Jahr beendete der Vermieter des alten Stellplatzes den Vertrag und Pirmins Jurten mussten weichen. Seitdem teilen er und seine Familie sich mit anderen ein Haus: Zehn Erwachsene und fünf Kinder leben hier zusammen.

Aufgeben will er das Jurtenleben aber nicht: Demnächst sollen wieder sechs Stück davon im Garten stehen, denn „die Lebensqualität ist in Jurten einfach unübertroffen.“ Pirmin plant, ein Unternehmen für den Jurtenbau zu gründen, um „die Idee des leichten Lebens“ zu verbreiten, wie er sagt, und natürlich: „Um mehr Menschen in den Genuss eines Rundzeltes zu bringen.“

Von Lisa-Maria Mehrkens

Symbolbild: Getty Images / iStock / Getty Images Plus / Christian Horz

Kommentar: Grüne Energien nicht übersehen!

Wie können wir Energie sparen? Diese Frage ist spätestens jetzt hochaktuell. Für Redakteurin Anja Schäfer gehen die Überlegungen jedoch in die falsche Richtung.

Seit Putins Angriffskrieg ist die Frage, wie wir unseren Energiebedarf reduzieren, noch dringlicher geworden als wegen der Klimakrise ohnehin schon. So gut es ist, schnelle, pragmatische Lösungen für unsere Energieversorgung zu schaffen – etwa durch neue LNG-Terminals –, langfristig zukunftsträchtiger sind die drei E: Effizienz, Einsparung und Erneuerbare Energien. Man kann sich fragen, ob diese drei aktuell die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Warum gibt es beispielsweise noch keine sichtbare Bewegung zum Energiesparen – sowohl für Privathaushalte wie auch für die Industrie?

Stattdessen soll es Zuschüsse geben für Unternehmen, deren Strom- und Gaskosten von Februar bis September 2022 um mehr als 100 Prozent steigen. Leider wird mit den veranschlagten fünf bis sechs Milliarden Euro die Nutzung fossiler Energie weiter subventioniert und die Gaspreise werden hochgehalten.

Fortschritte bei erneuerbaren Energien

Immerhin: Laut sogenanntem „Osterpaket“ wurden die Ausbauziele für die Erneuerbaren kurzfristig noch einmal erhöht und sollen ein „überragendes öffentliches Interesse“ bekommen, was Genehmigungen beschleunigt. Bis 2035 soll die Stromversorgung komplett auf Erneuerbare umgestellt werden. Abstandsregeln zu bestimmten Radaranlagen werden geändert, sodass rund 1.000 Windkraftanlagen kurzfristig genehmigt werden können. Die Planungen sind ambitioniert und sollen im Sommer konkretisiert werden.

Merkwürdigerweise haben sie in Medien und Gesellschaft wenig Echo ausgelöst. Stattdessen werden in Talkshows und Diskussionen oft lieber alte Technologien wie Fracking und Atomkraft aufgewärmt, von denen wir uns aus guten Gründen schon verabschiedet hatten. Zumal der 6. IPCC-Bericht gerade erst wieder belegt hat, dass Erneuerbare Energien flächendeckend billiger sind als alle konventionellen Energien.

Selber anpacken!

Gleich selbst loslegen können wir mit unserer persönlichen Energiewende: Das Auto öfter stehenlassen. Alle Dinge länger nutzen und weniger neue kaufen. LEDs nutzen. Seltener duschen. Eine Solaranlage für Dach oder Balkon anschaffen. Zu einem glaubwürdigen Ökostrom-Anbieter wechseln (z. B. mit Gütesiegel „Grüner Strom“), denn das sorgt für Investitionen. Und dann: Über all die Veränderungen reden. Nachbarn und Bekannte begeistern. In Kirche und Sportverein Veränderungen anregen. Eine Aufbruchstimmung wecken. Alle packen für die Energiewende mit an – das wär doch was.

Anja Schäfer

Ideen zum Sromsparen

Kühlen
• Kühler als 7°C muss ein Kühlschrank nicht sein. Jedes Grad weniger spart 6 % Strom.
• Speisen abkühlen lassen, bevor sie in den Kühlschrank kommen.
• Je kleiner der Kühlschrank, desto weniger Stromverbrauch.
• Den Gefrierschrank regelmäßig abtauen.

Kochen
• Zum Topf passende Kochplatte wählen.
• Deckel aufsetzen.
• Wasser lässt sich am energieeffizientesten im Wasserkocher erhitzen.
• Nur so viel erhitzen, wie benötigt wird.

Backen
• Backofen nicht vorheizen.
• Einige Minuten früher ausschalten, um Restwärme zu nutzen.
• Umluft statt Unter-/Oberhitze wählen.

Spülen
• Geschirrspüler komplett befüllen.
• Eco-Einstellung und niedrige Temperaturen wählen.
• Kurzprogramme haben meist einen höheren Stromverbrauch.

Waschen
• Maschine voll beladen.
• Dank neuer Waschmittel reichen vielfach schon 20°C oder 30°C.
• Eco-Programme wählen.
• An der Luft trocknen.

Surfen
• Handys lieber während einer Mahlzeit laden als über Nacht. Die Aufladung nur zwischen 30 % und 70 % zu halten, schont auch den Akku.
• Laptop nicht ständig am Kabel lassen, sondern ausstöpseln, wenn er geladen ist.
• Bildschirmhelligkeit herunterregeln.
• Dank Steckdosenleisten mit Schalter lassen sich Elektrogeräte schnell vom Netz trennen, denn auch Stand-by verbraucht Energie.
• Weniger Bildschirmzeit = weniger Stromverbrauch.

Mimi Sewalski, Foto: Florian Gobbetz

Avocadostore-Leiterin: Kleine Label können sich oft kein Nachhaltigkeits-Siegel leisten

Mimi Sewalski ist Geschäftsführerin von Avocadostore, Deutschlands größtem grünen Online-Marktplatz. Im Interview erzählt die 32-Jährige, warum gesunder Menschenverstand oft wichtiger als Siegel ist und wie sie selbst prüft, von welchen Firmen sie Produkte kaufen möchte.

Du bist bereits in der Gründungsphase von Avocadostore eingestiegen und hast die Plattform mit aufgebaut. Was hat dich daran gereizt?
Nach meinem Studium habe ich erst fast fünf Jahre bei E-Commerce-Unternehmen in Israel und danach hier in Deutschland in der Werbung gearbeitet. Das fand ich allerdings völlig sinnlos. Später habe ich die Gründer von Avocadostore kennengelernt, die mir erzählten: „Es gibt sehr viele nachhaltige Label – aber keiner kennt sie. Wir haben deshalb eine Online-Plattform gegründet, wo wir alle versammeln wollen. Dort gibt’s dann für jedes herkömmliche Produkt eine nachhaltige Alternative.“ Dieser Satz hat mich entflammt. Viele Leute bekommen ja bei den Stichworten „Öko“ und „Reformhaus“ Gänsehaut, weil sie so viele Vorurteile haben. Kurz gesagt: Ich habe als Mission für mich gesehen, zu zeigen, dass Nachhaltigkeit Spaß macht.

Euer Erkennungszeichen ist die Avocado. Die ist nicht besonders klimafreundlich. Warum habt ihr gerade sie gewählt?
Den Namen gabs schon, als ich eingestiegen bin. Sie stand als Symbolfrucht für die vegane Bewegung. Zu der Zeit war auch noch nicht klar, wie umweltschädlich der Anbau von Avocados sein kann. Natürlich könnten wir uns umbenennen. Aber einmal wäre das markentechnisch sehr unklug. Und ich finde es auch deshalb gut, sie zu behalten, weil Nachhaltigkeit eben nie Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß bedeutet. Dafür steht die Avocado auch. Denn sie hat die guten Fette und ist eine super Alternative zum Fleischkonsum. Genau diesen Diskurs wollen wir führen. Die Leute dazu bringen, Fragen zu stellen.

Auswahl mit Menschenverstand

Welche Nachhaltigkeitskriterien müssen Produkte erfüllen, damit ihr sie verkauft? 
Wir sind kein Ökotest oder Stiftung Warentest: Wir prüfen nicht, sondern machen eine Vorauswahl, um Transparenz zu schaffen und Orientierung zu geben. Label oder Ladengeschäfte, die bei uns verkaufen wollen, bewerben sich und wir schauen dann im Dialog, ob das Unternehmen nachhaltig ist. Wofür steht es? Welche Produkte gibt es? Wenn wir dann grünes Licht geben, schauen wir uns noch mal jedes einzelne Produkt an, das bei uns hochgeladen wird. Neben diesen beiden Stufen haben wir zehn Nachhaltigkeitskriterien, von denen mindestens eins erfüllt sein muss.

Das klingt auf den ersten Blick nicht sehr anspruchsvoll …
Einerseits ja – aber wir haben noch ein elftes Kriterium und das heißt gesunder Menschenverstand. Das heißt, wenn ein Anbieter sagt: Die Bratpfanne ist vegan, dann würden wir sagen: Ganz ehrlich – jede Bratpfanne ist vegan, das reicht uns nicht. Außerdem gibt es einzelne Kriterien, die so stark sind, dass kein anderes mehr erfüllt sein muss – wie z. B. bei „Cradle to Cradle“, das für Kreislaufwirtschaft steht.

Wo wird jeder Euro eingesetzt?

Wäre es nicht einfacher, auf bekannte Zertifikate und Siegel zu setzen?
Es gibt viele kleine Label, die Unglaubliches leisten und von Anfang an die Nachhaltigkeit in ihrer DNA haben und alles Mögliche beachten – aber sich eben kein Siegel leisten können. Wir wollen auch für diese Marken die Tür offen halten. Deshalb verlassen wir den typischen Zertifizierungsansatz und gehen vielmehr in die Transparenz, geben aber auch durch die Vorauswahl Orientierung.

Vor der Herausforderung zu prüfen, stehen wir als Privatpersonen ja auch im Alltag. Viele Firmen werben inzwischen damit, nachhaltig oder grün zu sein. Wie erkenne ich, ob die Produkte wirklich nachhaltig produziert sind – oder die Firma nur Greenwashing betreibt?
Das wird tatsächlich immer schwieriger. Für mich selbst bedeutet Nachhaltigkeit Ganzheitlichkeit. Das heißt, wenn ich etwas kaufe, überlege ich: Wenn ich Aktionärin wäre und diesem Unternehmen einen Euro geben würde – was würde mit diesem Euro passieren? Und bei einem ganzheitlich nachhaltigen Unternehmen habe ich das Gefühl: Egal, was die mit dem Euro machen – es ist etwas Gutes. Das heißt: Die produzieren nicht nur tolle Produkte, sondern achten auch auf Umweltschutz und auf ein faires Miteinander – auch in ihrem Team hier in Deutschland und nicht nur in dem Land, in dem produziert wird.
Wenn ich das vergleiche mit einem Unternehmen, das sagt: Ich habe hier eine Kollektion mit zwanzig Prozent grünen Produkten – dann heißt das eben auch, dass achtzig Prozent ihrer Produkte nicht grün sind. Und der Euro, den ich dieser Firma gebe, finanziert eben auch die achtzig Prozent schlechter Produkte.

„Warum gibt es noch nicht den nachhaltigen Computer?“

Euer Ziel bei Avodastore ist es, für jedes herkömmliche Produkt eine nachhaltige Alternative zu finden. Wo gelingt das gut – wo ist es schwierig?
Im Modebereich hat sich in den letzten zehn Jahren wahnsinnig viel getan. Da gibt es inzwischen sowohl sportliche als auch elegante Marken und das Ganze auch in verschiedenen Preisklassen. Schwierig ist der ganze Elektronik-Bereich. Warum gibt es noch nicht den nachhaltigen Computer? Immerhin gibt es schon nachhaltige Mäuse und Stromkabel.

Welche Produkte sind bei euren Kundinnen und Kunden am beliebtesten?
Eco-Sneaker waren ein großes Thema in den letzten Jahren, auch die faire Jeans, die lange hält, gut sitzt, fair produziert ist und keine Chemie an die Haut lässt. Und dann alle Produkte, die helfen, das Leben plastikfreier zu gestalten – wie z. B. Brotbeutel oder Aufbewahrungsgläser.

Weniger, aber besser kaufen

Man sagt ja immer „Der beste Konsum ist der, der nicht stattfindet“. Ist es dann nicht widersprüchlich, eine Onlineplattform zu betreiben, die zwar mit nachhaltigen, aber dennoch schönen Produkten Anreize zum Kaufen gibt?
Natürlich sind wir ein Geschäftsmodell und leben vom Verkauf, aber wenn man unsere Seite mal genauer anschaut, dann findet man dort ganz viele Informationen rund um nachhaltiges Leben, die gar nichts mit Verkaufen zu tun haben. Unser Ziel ist es, Leute zu motivieren, weniger, aber besser zu kaufen. Das hat viel mit dem Prozess der Nachhaltigkeit überhaupt zu tun. Wenn man erst mal angefangen hat, wird man immer weitermachen und neue Bereiche für sich entdecken.

Was hat dich selbst dazu motiviert, auf Nachhaltigkeit zu achten und deinen Lebensstil umzustellen?
Mein Opa war Jäger, das war sicherlich ein wichtiger Einstieg für mich. Wir haben zusammen Heinz Sielmann-Filme angeguckt und sind gemeinsam auf die Jagd gegangen. Er hat mir dann immer die Zusammenhänge in der Natur erklärt, dadurch habe ich einen Bezug zum Naturschutz bekommen. Außerdem gab es so einen Moment der Erkenntnis, in dem ich dachte: Schon krass, was man alles besitzt! Wo kommt das eigentlich alles her? Seit diesem Moment höre ich nicht auf, mich bei allem, was ich täglich in der Hand habe, benutze oder kaufe, zu fragen: Was verursacht mein Kauf? Und will ich das so unterstützen? Davon kommt man dann auch nicht mehr los.

Kaufende machen den Unterschied

Jetzt bemühen sich viele, in ihrem Alltag nachhaltiger zu leben – aber gleichzeitig sieht man, wie die Industrie weiterhin große Mengen an Schadstoffen ausstößt. Da denkt man doch oft: Ob ich jetzt eine Zahnbürste aus Bambus oder Plastik benutze, macht doch keinen großen Unterschied. Was motiviert dich, trotzdem nachhaltig zu leben?
Mich motiviert total die Tatsache, dass in den letzten zehn Jahren unglaublich viel passiert ist. Ich erinnere mich daran, dass ich vor ein paar Jahren mal in einem Interview gesagt habe: Also wenn Zalando mal grüne Mode verkauft – das schien mir so absurd und so weit weg – dann habe ich mein Ziel erreicht. Und jetzt machen die das immerhin schon teilweise.
Noch ein Beispiel, das mich motiviert: Der Hambacher Forst war ja sehr präsent in den Medien und auch die Frage, warum und wofür die Leute dort demonstrieren. Und genau in der Zeit haben sich so viele Menschen wie noch nie in Deutschland neu für Ökostrom angemeldet. Somit hatten viele einzelne in der Summe einen richtig großen Einfluss, weil dadurch viele Tonnen CO2 eingespart wurden. Einfach, weil so viele Leute einen kleinen Schritt gemacht haben und ihren Stromanbieter gewechselt haben.
Das hat mich beeindruckt zu sehen, wie viele Leute plötzlich etwas ändern. Dass die großen E-Commercer nachhaltige Mode verkaufen, machen sie ja nicht, weil es ihnen plötzlich ein Bedürfnis ist, sondern, weil die Nachfrage da ist. Das heißt, weil wir Konsumentinnen und Konsumenten Entscheidungen treffen, fangen die Großen an, sich danach zu richten. Und das ist doch großartig! Ich glaube wirklich, dass an dem Satz „Jeder Kauf ist ein Stimmzettel“ was dran ist. Wir können etwas bewegen!

Interview: Melanie Carstens

Mimi Sewalski (32) ist Soziologin, Autorin des Buches „Nachhaltig leben JETZT“ (Knesebeck) und hat den 2010 gegründeten grünen Online-Marktplatz Avocadostore seit 2011 mit aufgebaut. Heute ist sie Geschäftsführerin des Unternehmens mit 70 Mitarbeitenden, das 350.000 Produkte von über 4.000 Marken anbietet. Avocadostore agiert als Vermittler und bekommt 17 Prozent vom Verkaufspreis, die von Miete über Personal bis Marketing alles abdecken müssen. Produkte, die ins Sortiment aufgenommen werden, müssen mindestens eins von zehn Nachhaltigkeitskriterien erfüllen: Rohstoffe aus Bio-Anbau, haltbar, made in Germany, Ressourcen schonend, Cradle to Cradle, fair und sozial, recycelt und recycelbar, CO2-sparend, schadstoffreduzierte Herstellung, vegan. Im Web: avocadostore.de

Caspar Hallmann, Foto: Privat

Insekten-Forscher überzeugt: Es braucht mehr als Insektenhotels

Mit der „Krefelder Studie“ haben Caspar Hallmann und sein Team 2017 gezeigt, dass die Zahl der Insekten seit 1989 in deutschen Naturschutzgebieten um mehr als 75 Prozent zurückgegangen ist. Naomi Bosch hat nachgefragt, wie die aktuelle Lage ist.

Hat sich der Rückgang des Insektenbestands in Deutschland und weltweit seit Ihrer Studie fortgesetzt?
Natürlich ist sich die Welt des Problems bewusster. Und vermutlich wurden bereits einige Schritte unternommen, die natürlich einige Zeit brauchen werden, bis sie Wirkung zeigen. Aber ich kenne keine Meldungen oder Informationen, die auf eine starke Erholung hindeuten. In der neuesten Studie, an der ich mitgewirkt habe, gibt es in den Niederlanden einige Besserungen, aber das betrifft nur einen kleinen Teil der Insekten in Wassersystemen. In den Gewässern haben wir einen Rückgang der Pestizid- und Nährstoffmengen festgestellt. In den Gräben sind die Pestizidkonzentrationen beträchtlich zurückgegangen. Und wir sehen nun eine leichte Erholung der Vielfalt. Aber nichts wirklich Großes, um sagen zu können: „Das war‘s“. Es muss also wahrscheinlich noch viel mehr getan werden.

Welche Maßnahmen sind nun am dringendsten erforderlich?
Wir müssen den Zustand der Insekten weiter erforschen. Wir haben noch immer große Wissenslücken. Wir müssen die genauen Gründe untersuchen und dann müssen wir besser verstehen, wie die Insekten von all diesen Ursachen betroffen sind, und versuchen, sie abzumildern. Und im Hinblick auf die Landwirtschaft würde ich sagen: Fangen wir damit an, keine Insektizide zu verwenden, wenn noch kein Schädling aufgetreten ist – also erst, wenn es wirklich Bedarf gibt. Dann sollte man natürlich auch sichere Oasen für die Artenvielfalt schaffen. Wahrscheinlich müssen wir der Natur mehr Raum zurückgeben.

Wir brauchen rigorosere Maßnahmen

Viele Menschen, die sich des Insektensterbens bewusst geworden sind, pflanzen Blühmischungen auf ihrem Balkon. Sollte das gefördert werden?
Ja, ich denke, das sollte gefördert werden, vor allem um die Öffentlichkeit für Insekten und ihre Erhaltung zu sensibilisieren. Man sollte allerdings bedenken: Nur die bestäubenden Insekten – Bienen, Hummeln, einige Fliegen und Schmetterlinge – brauchen solche Pflanzen. Was ist mit all den Insekten, die tote Blätter fressen? Was ist mit denen, die Wälder brauchen? Was ist mit denen, die auf dem Boden leben?

Die wenigsten der 35.000 Insektenarten leben in den Städten – abgesehen von Stechmücken, aber das liegt daran, dass wir Menschen ihre Nahrung sind (lacht). Mit Asphalt können sie nicht viel anfangen. Dasselbe gilt für Insektenhotels: Ja, sie bieten einen Lebensraum für etwa zehn Arten und drei weitere Spinnen oder so. Aber was ist mit den anderen 34.990 Arten, die davon nicht profitieren? Ich denke also, wir brauchen rigorosere Maßnahmen.

Mais ist nur für wenige Arten gut

Der von Ihnen gemessene Insektenrückgang hat tatsächlich in Naturschutzgebieten stattgefunden. Kann man davon ausgehen, dass der Rückgang woanders noch schlimmer ist?
Ja, wahrscheinlich ist er noch schlimmer, und wahrscheinlich hat er schon weit vor den von uns untersuchten letzten 30 Jahren stattgefunden. In endlosen Maisfeldern beispielsweise werden abgesehen von den Insektenarten, die Mais mögen, nicht viele andere Arten leben. Vielleicht noch ein paar Insekten, die die Insekten fressen, die den Mais mögen, aber sonst nichts. Denn Maisfelder sind nicht so komplex wie ein natürlicher Lebensraum, der viele verschiedene Nischen für jede Art bietet. Und das ist ein Problem. Denn wenn man diese Vielfalt an Insekten nicht hat, dann werden einige der Arten, die zufällig den Mais mögen, überhandnehmen, weil es keine natürlichen Feinde gibt.

Haben Sie Hoffnung für die Insekten?
Ja, ich bin optimistisch, dass sich die Insekten erholen können, wenn wir ihnen helfen. Ich bin mir nicht so sicher, ob wir den politischen Willen dazu haben. Ich bin der Meinung, dass wir es schaffen können, ja. Aber wir müssen jetzt Maßnahmen ergreifen und sollten nicht warten. Alles, von dem wir wissen, dass es sich positiv auf die Insekten auswirkt, sollte getan werden, und alles, von dem wir wissen, dass es ihnen schadet, sollte vermieden werden.

Interview: Naomi Bosch

Auch in Berlin finden Baumpflanzaktionen statt. Foto: Berwaldprojekt_de_Matthaeus Holleschovksy

Geniale Ferien-Idee: Urlaub machen und Gutes tun – so geht’s

Stefan Kleinknecht will im Urlaub mehr erleben als Sandstrand. Darum wagt er ein Experiment – und rettet so den Wald.

Am Anfang standen drei Wünsche: Ich brauche Urlaub, will viel draußen sein und am besten dabei noch etwas für die Natur tun. Doch gibt es so etwas? Ja, tatsächlich! Nach etwas Recherche lande ich beim Bergwaldprojekt e. V.: „Wir suchen Freiwillige, die eine Woche lang zusammen Bäume pflanzen und Waldpflege betreiben.“ Klingt gut als Abwechslung zum Bürojob, denke ich und melde mich an.

Einige Wochen später stehe ich mit 13 anderen am Berghang. Um uns herum: Baumstumpf neben Baumstumpf – kahle Hänge, wo einst Wald stand. Wir sind im nordrhein-westfälischen Werdohl, im eigentlich großflächig bewaldeten Lennetal. Doch Dürre, Stürme und Borkenkäfer haben den Wäldern riesige Schäden zugefügt und große, kahle Lücken in den Wald gerissen.

Hunderte kleine Setzlinge

Mit uns auf dem Hang steht Hendrik von Riewel, studierter Förster und Waldpädagoge. Er ist der Projektleiter dieses Freiwilligeneinsatzes. In seinen Händen hält einen kleinen Bergahorn: ein dünnes Stämmchen mit einer winzigen Knospe oben und einem Wurzelballen unten. Hendrik zeigt uns, wie man mit der Wiedehopf-Haue umgeht. Sie hat am Ende ein Beil auf der einen und eine Hacke auf der anderen Seite. Damit gilt es, in den richtigen Abständen Löcher in den Boden zu machen und anschließend die Bäumchen so einzupflanzen, dass sie fest genug in der Erde sind, aber auch gut anwachsen können. „Los geht’s“, ruft Hendrik und deutet lächelnd in Richtung vieler hundert weiterer kleiner Bäume, die neben uns stehen und darauf warten, eingesetzt zu werden.

Waldsterben gab Initialzündung

Das Bergwaldprojekt wurde bereits 1987 gegründet. Damals beschäftigte das Thema Waldsterben die Umweltschützer und die Gesellschaft. Wolfgang Lohbeck von Greenpeace Deutschland beschloss zusammen mit dem Schweizer Förster Renato Ruf, ein Positivprojekt zu gründen und erstmalig als Organisation handwerklich aktiv im Naturschutz zu werden. Im Schweizer Kanton Graubünden stießen sie auf einen Wald, der durch einen Hangrutsch stark beschädigt war, und begannen, ihn mit 25 Freiwilligen zu sanieren.

Heute ist daraus ein europaweites Netzwerk entstanden. Anfang der Neunziger Jahre wurde der deutsche Ableger gegründet, der unabhängig ist von Greenpeace. Über die Jahre sind Nachfrage und Angebot des Vereins stark angestiegen. Wären die Kapazitäten vorhanden, könnten vermutlich 500 Projekte angeboten werden, schätzt Hendrik. 2022 finden immerhin rund 170 Projektwochen an über 80 verschiedenen Standorten in ganz Deutschland statt. Es gibt Einsatzwochen für Erwachsene, für Familien, integrative Projektwochen, Unternehmenseinsätze und Waldschulwochen. Bis zum Ende des Jahres werden dabei rund 4000 Projekt-Teilnehmende erwartet.

Schauspielerin trifft Biologin

14 davon sind inzwischen im sauerländischen Stadtwald von Werdohl richtig in Fahrt gekommen. Die Sicherheit im Umgang mit dem Werkzeug ist mittlerweile gewachsen. Baum für Baum wird eingepflanzt. Extra-Motivation gibt das sonnige T-Shirt-Wetter. Zudem lernen wir Teilnehmende uns bei der Arbeit immer besser kennen. Aus allen Himmelsrichtungen des Landes sind wir ins Sauerland gekommen: aus Karlsruhe und Würzburg über Essen, Hamburg, Berlin, Göttingen und anderswo. Ebenso vielfältig sind Alter und Lebensalltag. Zwischen 19 und Ende 50 Jahren ist fast alles dabei. Eine Schauspielerin und eine Biologin haben sich ebenso angemeldet wie ein Angestellter für Arbeitssicherheit und einige Studierende.

Am Ende unseres ersten Arbeitstages fahren wir zurück zum Freizeitheim mit Mehrbettzimmern, in dem wir untergebracht sind und das den Charme eines Klassenausflugs aufkommen lässt. Nach sechs Stunden körperlicher Arbeit am Hang spüren wir unsere Knochen. Ein wenig Sonnenbrand zeigt sich ebenfalls an der einen oder anderen Stelle. Die Stimmung ist super. Mit über 800 Bäumen haben wir deutlich mehr als erwartet geschafft. Aber jetzt wird erstmal geduscht und Arbeitskleidung gegen Freizeitklamotten getauscht.

Vegetarisches Essen zum Abend

Im Haus duftet es schon großartig. Köchin Tobby hantiert bereits bestens gelaunt in der Küche. „Erst miassts ia den ganzn Salatschüssl laar hom, bevoar‘s des Habtmenü bekimmd“, sagt sie schelmisch grinsend im breitesten Bayrisch – und der Salat ist ebenso schnell verputzt wie die Spätzle mit Pilz-Kräuter-Soße. Schon seit vielen Jahren fährt Tobby für die Projektgruppen durch ganz Deutschland, um sie vegetarisch und vegan zu bekochen. Anschließend bleibt der Großteil von uns noch im Gruppenraum sitzen. Einige diskutieren mit Hendrik über Natur und Gemeinschaft, über das Jagen von Wild und wie viel der Mensch in die Natur eingreifen sollte. An einem anderen Tisch entspannt eine andere Gruppe beim Kartenspiel. Doch spät wird es nicht. Um 22 Uhr geht das Licht auch beim Letzten aus. Immerhin geht‘s am nächsten Tag schon um 6 Uhr weiter.

Ich brauche etwas, bis ich einschlafen kann. Die vielen Eindrücke des ersten Tages wandern noch durch meinen Kopf. Gleichzeitig fühle ich mich erfüllt vom Tag. Die Arbeit und die Zeit an der frischen Luft haben total gutgetan. So sinke ich irgendwann in den Schlaf.

Spannbreite bis zur Moor-Renaturierung

Mit einem lauten „Guuuten Mooorgen“ holt Hendrik uns am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Eine halbe Stunde später sitzen wir alle beim Frühstück. Die Rucksäcke werden noch gepackt, Arbeitsklamotten und Bergschuhe angezogen, der große Thermotopf mit dem Mittagsessen wird verstaut – und schon starten wir in die neue Runde Baumpflanzung.

Nicht immer geht es bei den Bergwaldprojekten darum, Bäume zu setzen. Genauso kann es um Wald- oder Biotoppflege gehen und ein wachsender Bereich ist zudem die Moor- und Bach-Renaturierung. Inzwischen ist auch ein Moor-Experte beim Bergwaldprojekt e. V. angestellt.

Körperliche Herausforderung steigt um zwei Level

Auch für uns gibt es schon am zweiten Tag eine Abwechslung. Da wir schneller als erwartet vorankommen und bald schon alle rund 1600 Bäume in der Erde sind, fahren wir zehn Minuten weiter zu einem anderen Standort. Neue Aufgabe: Pflege des Jungwaldes. Die körperliche Herausforderung steigt bei dieser Arbeit um mindestens zwei Level. Erst einmal müssen wir gut 15 Minuten einen steilen Hang querfeldein hinaufkraxeln, um in das Gebiet zu kommen. Oben angekommen erklärt Hendrik, dass der heftige Orkansturm „Kyrill“ 2007 hier fast den kompletten Hang verwüstet hat und fast kein Baum mehr stand. Im Jahr darauf hat ihn das Bergwaldprojekt mit jungen Bäumen aufgeforstet.

Damit diese kleinen Bäume nicht durch den Verbiss von Reh- und Rotwild beschädigt werden konnten, wurde damals jeweils ein Verbiss-Schutz aus Plastik um die Bäume angebracht. Wo das Plastik schon kaputt ist und somit keinen Schutz mehr bietet, entfernen wir es. Etliche Bäume sind inzwischen auch schon groß genug und brauchen den Schutz nicht mehr. Wenn die Ummantelung noch gut erhalten ist, aber der Stützpfahl morsch ist, tauschen wir ihn gegen einen neuen aus. Schließlich schleppen wir rund ein Viertel der Kunststoffhüllen den steilen Hang hinunter, damit sie nicht im Wald verbleiben.

Mit der Machete gegen Brombeeren

Am nächsten Tag ist Mittwoch und damit schon Halbzeit. Den Tag verbringen wir komplett mit der Überprüfung des Verbiss-Schutzes. Wir steigen an anderer Stelle oben am Hang ein und arbeiten uns nach und nach bis nach unten zur gestrigen Stelle vor. Zusätzlich herausfordernd sind heute stachelige Brombeerranken, die an manchen Stellen die Oberhand gewonnen haben. Um die Bäume zu erreichen, müssen wir manchmal die Machete ansetzen – allerdings nur vorsichtig. „So nervig die Brombeeren für uns sind, so gut sind sie für die jungen Bäume“, erklärt Hendrik. „Wo alles richtig mit Brombeeren zugewachsen ist, hält es das Wild ab, die Bäume abzufressen.“

Solche Erklärungen streut er immer wieder in die Arbeit ein. Einerseits wird so besser verständlich, welche Arbeiten aus welchen Gründen gemacht werden, aber vor allem lerne ich auf diese Weise viel über den Wald und wie alles in der Natur zusammenhängt. Das wird auch bei den Arbeiten an den letzten beiden Tagen relevant.

Paradoxes Fällen

Wir widmen uns einem Waldstück, das vor 15 Jahren wieder aufgeforstet wurde. Für einen Wald ist das immer noch sehr jung. Würde man den Wald sich jetzt selbst überlassen, würden sich am Ende nur ein bis zwei Baumarten durchsetzen, in diesem Fall die Birke oder die Fichte. Doch vor allem aufgrund des Klimawandels ist es wichtig, gute Mischwälder anzulegen und keine Monokulturen. So greifen wir in den Jungwald ein und fällen einige der Birken und Fichten. Im ersten Moment kommt uns das grotesk vor. Erst pflanzen wir Bäume an, dann fällen wir andere wieder?

Hendrik versteht das Gefühl gut. „Im ersten Moment fühlt es sich falsch an. Doch wir ermöglichen so dem Ahorn, der Kirsche oder der Weide, dass sie auch eine Chance haben, groß zu werden. Und wichtig ist vor allem ein naturnaher Eingriff.“ Das bedeutet: Wir schauen genau hin und fällen nur an einzelnen Stellen, damit die chancenlosen Bäume Licht bekommen und nicht zurückgedrängt werden. Alle anderen Birken und Fichten dürfen getrost stehenbleiben. „An anderen Stellen im Wald ist es wiederum genauso wichtig, ihn selbst bestimmen zu lassen, was wächst. Da greifen wir überhaupt nicht ein“, betont Hendrik ebenfalls.

Schnee zum Abschied

Während wir uns durch den Hang arbeiten, lernen wir, die Bäume so zu fällen, dass sie richtig fallen und keine anderen Bäume verletzen. Das Wetter ist mittlerweile umgeschlagen. Inzwischen ist es kalt und nass. Freitag fällt sogar ordentlich Schnee. Zum Glück sind alle warm eingepackt. Nur die Essenspausen fallen deutlich kürzer aus: Solange wir in Bewegung sind, ist uns gut warm. Beim Stehen aber spürt man die Kälte.

Freitagabend werden noch alle Geräte geputzt und der Bergwald-Anhänger beladen. Obwohl wir alle merken, dass eine Woche körperliche Arbeit ganz schön Kräfte gezehrt hat, könnte die Stimmung kaum besser sein. Der Kälte wird mit Humor, Verbundenheit und der Überzeugung getrotzt, dass wir echt was gerissen haben in dieser Woche.

Am Samstagmorgen fällt der Abschied so schwer, wie Arme und Beine sich anfühlen. Ich hatte meine Frau schon vorgewarnt, dass ich bestimmt müde sein würde. Doch nach einem Tag Schlaf fühle ich mich super – und überraschend gut erholt. Mehr als nach einer Woche Strand, gammeln und Nixtun, würde ich sagen. Die eine Woche Urlaub für die Natur zu investieren, den Mix aus viel frischer Luft, toller Gemeinschaft und körperlicher Arbeit bis zum Kraftlimit zu erleben, hat sich mehr als gelohnt.

Stefan Kleinknecht ist Vater zweier Jungs und Redakteur bei der Stiftung Marburger Medien. Weitere Infos und Überblick über die Projektwochen: bergwaldprojekt.de

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Forschende warnen: Wir müssen jetzt die Insekten retten!

Libellen, Hummeln, Käfer & Co. sind für unser Ökosystem lebenswichtig. Experten verraten, was sie bedroht und was wir dagegen tun können.

„Meine Freunde“ habe ich sie als Kind liebevoll genannt. Wenn ich ruhig blieb, setzten sie sich auf meine Handfläche und wir genossen jeweils die Gegenwart des anderen. Zumindest dachte ich das gern in meiner kindlichen Fantasie, wenn ich Schwebfliegen beobachtete. Bis zu 300 Flügelschläge schaffen sie pro Sekunde und können damit auch längere Zeit auf einer Stelle in der Luft schweben – was ihnen ihren Namen verschaffte. Wahre Flugkünstler sind sie auch auf Langstrecken: Zahlreiche Schwebfliegenarten ziehen jeden Herbst in die Mittelmeerregion – und überqueren dabei sogar die Alpen! Wegen ihrer schwarz-gelben Streifen werden sie oft mit Wespen verwechselt. In Wirklichkeit sind sie völlig harmlos: Sie haben keinen Stachel – nur eine gute Strategie, um sich vor Fressfeinden zu schützen.

Insektenbestand um 80 Prozent zurückgegangen

Vielen ist schon aufgefallen, dass nach einer Autofahrt heute viel weniger Insekten an der Frontscheibe kleben als früher. Dass die Wälder stiller und die Wiesen eintöniger geworden sind. Insekten begegnen uns heute vor allem als störende Mücken oder Wespen im Sommer. Spätestens seit 2017 ist klar, dass das nicht nur vage Vermutungen sind. Damals erschien die „Krefelder Studie“, eine Langzeituntersuchung, die seither weite Kreise zog. Über 27 Jahre lang hat der Entomologische Verein Krefeld mit Hilfe von Insektenfallen Fluginsekten in verschiedenen Naturschutzgebieten im Rheinland eingefangen. Die Daten wurden von wissenschaftlichen Teams ausgewertet. Caspar Hallmann und sein Team machten dabei eine alarmierende Entdeckung: Der Bestand von fliegenden Insekten war seit 1989 um rund 80 Prozent zurückgegangen. Und aus allen Enden der Welt hören wir Nachrichten, die das Insektensterben bestätigen.

Bei den Schwebfliegen sieht es besonders dramatisch aus: Rund ein Drittel der 463 in Deutschland vorkommenden Arten sind bestandsgefährdet. Und eine Studie von der Schwäbischen Alb ergab 2020, dass die wandernden Schwebfliegen in den vergangenen 50 Jahren sogar um bis zu 97 Prozent zurückgegangen sind.

Ohne Insekten kein Ökosystem

Jetzt, fünf Jahre nach der Studie, bin ich mit Caspar Hallmann von der Radboud Universität in Nijmegen zu einem Telefonat verabredet, um etwas über seine aktuellen Untersuchungen zu erfahren. Seine Begeisterung über die Insektenwelt ist ihm in fast jedem Satz anzuhören: „Insekten sind, abgesehen von der Tiefsee, an so ziemlich jedem Teil des Ökosystems beteiligt“, schwärmt er. „Unsere Ökosysteme können nicht ohne Insekten funktionieren.“ Denn Insekten seien Teil vieler natürlicher Prozesse: Sie bestäuben mehr als ein Drittel unserer Nahrungspflanzen und drei Viertel aller Wildpflanzen. Damit ermöglichen sie überhaupt erst die Vermehrung eines großen Teils der Pflanzenwelt. Und anschließend räumen sie auf: Sie verwandeln abgefallene Blätter wieder zu Nährstoffen und zersetzen Kadaver von toten Tieren.

Und sie fressen Schädlinge. Die Larven der Schwebfliege beispielsweise schlagen sich gern die Bäuche an Blattläusen voll. Mehrere hundert Läuse kann eine einzige Schwebfliegenlarve in ihrem Leben fressen. Deshalb sind sie bei Landwirtinnen und Gärtnern gern gesehene Besucher – und ich lernte Jahre nach meiner kindlichen Begegnung mit den Schwebfliegen, dass sie tatsächlich unsere „Freunde“ sind. Umgekehrt sind Insekten selbst auch ein wichtiger Teil der Nahrungskette: Viele andere Arten ernähren sich von ihnen. Daher erstaunt es nicht, dass infolge des Insektensterbens auch insektenfressende Vögel im Rückgang begriffen sind.

Alles in der Natur ist miteinander verbunden

„Ich verstehe, dass Insekten – abgesehen von ein paar Schmetterlingen – nicht sehr charismatisch sind“, bedauert Caspar Hallmann, „aber ohne Insekten geht gar nichts, so einfach ist das.“

„Die kleinen Dinger, die die Welt regieren“, hat der Biologe Edward O. Wilson die Insekten deshalb einmal treffend bezeichnet. Über eine Million Arten wurden bislang beschrieben, hierzulande schätzt man die Zahl auf rund 35.000 Insektenarten. Im Vergleich dazu: Vögel kommen bei uns in 500 Arten vor. „Da wird einem klar, dass man bei Artenvielfalt eigentlich über Insekten spricht – zumindest was die mit bloßem Auge sichtbare Vielfalt anbetrifft“, sagt Caspar Hallmann.

Artenvielfalt ist deshalb so wichtig, weil in der Natur alles miteinander verbunden ist: Jede Art hat ihre Funktion, jede Art ist abhängig von anderen, jede Art steht durch die Nahrungskette in Verbundenheit mit anderen Arten. Je mehr verschiedene Arten es gibt, desto widerstandsfähiger und produktiver sind Ökosysteme.

Ackerflächen bieten keine Nahrung für Insekten

Doch was ist es eigentlich, dass unseren kleinen fliegenden Freunden so zu schaffen macht?

Noch ist das Gesamtbild nicht ganz eindeutig, aber Forschende tragen nach und nach die Puzzleteile zusammen und enthüllen, was zu diesem dramatischen Insektensterben führen konnte. Die wichtigsten Faktoren sind sicherlich die Zerstörung und Zerstückelung von Lebensräumen und die intensive Landwirtschaft. Wo vor 100 Jahren noch vielfältige dörfliche Strukturen mit kleinen Äckern, Hecken, Streuobstwiesen und bunten Wiesen vorherrschten, erstrecken sich heute die Ackerflächen bis zum Horizont – soweit das Auge reicht nichts als Mais, Weizen oder Zuckerrüben. Nahrungsangebot oder Lebensraum für Insekten? Fehlanzeige. Zudem vertilgen in diesen grünen Wüsten nicht mehr Nützlinge wie etwa die Schwebfliegen die Läuse, sondern man setzt auf Pestizide – chemische Stoffe, die Organismen abtöten, um Schäden etwa durch Fraß, Pilzbefall oder Beiwuchs zu verhindern.

Insekten sind oft eng spezialisiert

Die Folge: Die Artenvielfalt von Ackerunkräutern hat seit 1950 um 70 Prozent abgenommen. Viele Unkrautarten, die früher sehr häufig waren, sind heute praktisch ausgestorben. Die fehlende Pflanzenvielfalt hat natürlich Auswirkungen auf die Insekten. Manche Insekten sind so eng spezialisiert, dass sie nur von einer einzigen oder einigen wenigen Pflanzenarten leben können. Sterben sie aus, sterben die Insekten mit.

Der Tatzenkäfer beispielsweise ernährt sich ausschließlich vom Klettenlabkraut. Sein Leibgericht verteidigt er mit rabiaten Methoden: Macht ihm jemand sein Kraut streitig, würgt er ein rötliches Gift hervor. Gegen die Vernichtung seiner Fresspflanze durch den Menschen hilft ihm das leider nicht.

Unkraut hilft den Tieren

Bärbel Gerowitt, Professorin für Phytomedizin an der Universität Rostock, fasst es in ihrer trockenen, humorvollen Art so zusammen: „Die Insekten verhungern eher, als dass sie tot gespritzt werden.“ Die Agrarwissenschaftlerin forscht am Institut für Landnutzung an der Universität Rostock und war dort während des Studiums auch meine Professorin und Mentorin. Ich frage sie danach, wie die Landwirtschaft helfen kann, die Insektenwelt wiederherzustellen. „Ich glaube, dass man für die Insektenvielfalt tatsächlich am besten etwas tun kann, indem man eine große Fruchtarten-Diversität hat“, erklärt sie, „dass man Fruchtarten dabei hat, die Insekten nützen.“

Das können etwa Eiweißpflanzen wie Erbsen oder Lupinen sein, deren Blüte wild lebenden Insekten Nahrung bietet. Und auf Feldern mit Früchten, die den Insekten nicht direkt zugutekommen, wie zum Beispiel dem Weizen, sollte auf dem Feld dennoch Pflanzenvielfalt zugelassen werden. „Ich glaube, wir werden in der Landwirtschaft dahinkommen, auch ein wenig Verlust durch Unkräuter in Kauf zu nehmen, weil uns die Insekten so wichtig sind.“ Blühstreifen an den Ackerrändern helfen ebenso wie eine Unterteilung großer Agrarflächen in kleinere Felder, zwischen denen Hecken oder Blühflächen angelegt würden. Denn neben der Menge an Nahrungsangebot spielen auch durchgehende Pflanzenkorridore eine Rolle: Viele Insekten können einfach keine großen Entfernungen überbrücken.

Licht schadet nachtaktiven Insekten

Auf knapp der Hälfte der gesamten Fläche in Deutschland wird Landwirtschaft betrieben, Ackerbau nimmt davon etwa 70 Prozent der Fläche ein. Das ist ein großer Teil unseres Landes, in dem Insekten kaum Lebensraum finden. Und auf dem Rest sieht es meist nicht besser aus. Neben den leergeräumten Landschaften stiehlt auch die Versiegelung von Flächen den Insekten Platz und Nahrung. Laut Statistischem Bundesamt werden deutschlandweit jeden Tag im Schnitt 52 Hektar Boden in Siedlungs- und Verkehrsflächen umgewandelt: Asphaltwüsten, die alles andere als Insektenparadiese sind.

Und sie bringen die sogenannte Lichtverschmutzung mit sich: Künstliches Licht durch die Beleuchtung von Straßen, Gebäuden, aber auch privaten Gärten hat fatale Folgen für nachtaktive Insekten. Und dazu gehört immerhin die Hälfte aller Insektenarten. Eine Studie des Leibniz-Instituts fand heraus, dass die künstlich erhellte Nacht die natürliche Orientierung, Nahrungssuche und Fortpflanzung vieler Insekten stört. Dabei muss ich an die riesige, grelle Leuchtreklame denken, die jede Nacht in meine Wohnung und den nahegelegenen Park hineinleuchtet. Ob ein freundlicher Beschwerdebrief das nächtliche Abschalten bewirken kann? In der Politik scheint man die Notwendigkeit zum Handeln erkannt zu haben. Am 1. März 2022 wurde das Bundesnaturschutzgesetz in Deutschland verschärft. Erstmals wird der Begriff „Lichtverschmutzung“ als Tatbestandsmerkmal genannt. In Naturschutzgebieten gilt künftig ein grundsätzliches Verbot für neue Straßenbeleuchtungen und für leuchtende Werbeanlagen.

Politik hat große Pläne

Problematisch für manche Insekten sind auch invasive Arten. In Teilen Südamerikas beispielsweise hat die nach dort eingeführte Europäische Hummel die dortige große Hummelart Bombus dahlbomii vollständig verdrängt – und im Schlepptau auch noch einen für Bienen gefährlichen Krankheitserreger mitgebracht. Wenn invasive Pflanzenarten heimische Pflanzenarten verdrängen, finden Insekten, die auf diese heimischen Pflanzen spezialisiert sind, keine Nahrung mehr. Auch der Klimawandel mit sich ändernden Niederschlagsmustern, Erhitzung und Dürren wirkt sich auf manche Insektenarten aus. In den Tropen beispielsweise wird es für viele Insektenarten wohl mittlerweile einfach zu heiß. Im Endeffekt ist es vermutlich die Kombination all dieser Faktoren, die zum aktuellen Kollaps führt.

Im Koalitionsvertrag der deutschen Ampel-Regierung wird Artenvielfalt als Menschheitsaufgabe und ethische Verpflichtung bezeichnet. Umweltministerin Steffi Lemke spricht von einem „Zeitalter der Renaturierung“, das eingeläutet wird. Bis 2030 soll der Ökolandbau 20 Prozent der gesamten Landwirtschaft ausmachen und der Pestizideinsatz um 50 Prozent gesenkt werden. Ein neues Konzept für die EU-Agrarpolitik soll erarbeitet werden, damit Subventionen nicht mehr allein nach Fläche vergeben werden, sondern etwa an Maßnahmen für die Artenvielfalt, wie beispielsweise Blühstreifen, gekoppelt werden.

Als ich Bärbel Gerowitt frage, ob wir auf einem guten Weg sind, bekomme ich die ernüchternde Einschätzung: „Wir haben uns die Schuhe angezogen – losgegangen sind wir noch nicht.“ Denn eine Absichtserklärung zu verfassen, sei eine Sache, sie dann aber umzusetzen, eine ganz andere. Wir können also gespannt sein, wie viele Impulse aus der Politik in den nächsten Jahren wirklich kommen.

Helfen kann jeder

Ideen gibt es viele. In Frankreich ist seit Anfang 2020 der Verkauf von Pestiziden nur noch an registrierte Landwirte erlaubt. Das heißt: Für Landschaftsbau und private Gärten sind sie nicht mehr erhältlich. Auch begrünte Dächer helfen Insekten. Hier könnte die Politik Vorgaben machen und bei eigenen Gebäuden vorangehen. Grünflächen in Städten sollten geschützt oder möglichst erweitert, Parks mit heimischen blühenden Strauch- und Baumarten bepflanzt werden. Der britische Naturschützer und Biologieprofessor Dave Goulsen schreibt in seinem neuesten Buch „Stumme Erde – Warum wir die Insekten retten müssen“ (Hanser): „Jüngste Untersuchungen zeigen, dass man die Insektenvielfalt in Städten am effektivsten mit Schrebergärten und Kleingärten erhöht.“

Das heißt auch: Wir alle können uns die Schuhe anziehen und losmarschieren. Wer einen Garten hat, kann Lebensräume für eine möglichst große Vielfalt an Insekten schaffen: einheimische Blumen und Hecken pflanzen, Laub und Totholz als Winterquartier und Brutstätte liegenlassen, wilde Ecken mit Löwenzahn und Brennnesseln erlauben, seltener mähen, Insektenhotels aufstellen und Kies-Sand-Hügel an sonnigen Orten als Insektenburgen errichten. Auch Trockenmauern – aus losen Steinen gebaute Einfassungen – oder Steinhaufen bieten bestimmten Insektenarten den sicheren Rückzugsort, den sie brauchen.

Mehr Lob für Bauern

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Ein Stadtmensch kann neben dem Aufstellen blühender Blumenkästen vor allem etwas über sein Einkaufs- und Ernährungsverhalten bewirken. Ich hake noch einmal bei Bärbel Gerowitt nach: Wie kann ich als Verbraucherin zu einer insektenfreundlichen Landwirtschaft beitragen? „Ich würde als Erstes immer sagen: So wenig wie möglich Convenience Food essen. Von Lebensmitteln, die naturbelassen sind, kommt noch ein bisschen mehr bei den Landwirten an, als wenn sie stark verarbeitet sind.“ Heißt: Bei einer Tüte Chips oder Tiefkühlpommes ist der Anteil, den der Bauer oder die Bäuerin bekommt, viel geringer als bei einer Tüte Kartoffeln. Auch Bio-Lebensmittel helfen Insekten: „Es gibt genug Studien, die sagen, dass die biologische Vielfalt auf Öko-Äckern größer ist“, bekräftigt Bärbel Gerowitt.

Und einen letzten wichtigen Rat gibt mir die Wissenschaftlerin, die selbst auf einem landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen ist, mit auf den Weg: Wer auf dem Land wohnt, sollte Landwirten Wertschätzung entgegenbringen. Denn aktuell bekämen sie von allen Seiten Kritik und Vorwürfe zu hören. „Doch je mehr negatives Feedback sie kriegen, desto mehr orientieren sie sich an dem Selbstverständnis ‚Ich bin ein guter Unternehmer‘“, gibt Bärbel Gerowitt zu bedenken. Je weniger sie für die Versorgung und Pflege der Landschaft wertgeschätzt werden, desto mehr spielten Gedanken eine Rolle wie: „Die Leute mögen mich nicht mehr, aber ich verdiene wenigstens ordentlich Geld.“ Interesse an ihnen zu zeigen, auch ihre Situation verstehen zu wollen und ihre Sorgen zu hören, sei wichtig: „Da ist viel Musik drin, glaube ich. Man darf Landwirte schon kritisieren, aber sie sollten auch positives Feedback hören und das Gefühl haben, dass sie mit ihrer Wirtschaftsweise Teil der dörflichen Struktur sind.“

Stimme für den Goldkäfer

Der US-amerikanische Biologe Paul Ehrlich hat das Artensterben einmal damit verglichen, dass Nieten aus den Tragflächen eines Flugzeugs entfernt werden. Eine Weile wird das Flugzeug noch fliegen, aber irgendwann droht der Absturz. Ohne Insekten kann unser System Erde nicht existieren. Aber wir können die Wende noch schaffen – quer durch unsere Dörfer, unsere Städte, unsere Gärten hindurch. Dafür brauchen sie unsere Stimme und unser Handeln. Denn der Große Goldkäfer und die Scharlachlibelle, Ameisenjungfern und Kreiselwespen, Höckerschrecken, Grünwidderchen und all die anderen Arten, die vom Aussterben bedroht sind, können nicht für sich selbst sprechen. Sie sind darauf angewiesen, dass wir für vielfältige Landschaften, starke Dorfgemeinschaften, regionalen und ökologischen Landbau und insektenfreundliche Kommunen aufstehen. Dann bleibt das Summen und Brummen erhalten.

Naomi Bosch lebt in Kroatien, macht ihren Master in Ökologischer Landwirtschaft, schreibt an einem Buch über Glauben und Nachhaltigkeit und bloggt auf plentiful-lands.com

Dr. Eckart von Hirschhausen, Foto: Dominik Butzmann / Gesunde Erde - Gesunde Menschen

Dr. Eckart von Hirschhausen: „Jedes Zehntel Grad zählt!“

Im Interview wettert Dr. Eckart von Hirschhausen gegen Klimaleugner und erzählt, warum er sich für den Klimawandel einsetzt. Sein Credo: Die nächsten zehn Jahre sind entscheidend.

Herr Hirschhausen, manche bezweifeln den menschengemachten Klimawandel ja noch immer. Haben Sie dafür Verständnis?
Nein. Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Es ist wahnsinnig anstrengend, mit Klimaleugnern zu diskutieren. Aber es ist dringend nötig, immer wieder zu betonen: Der Klimawandel ist real und menschengemacht. Und deshalb können und müssen wir Menschen etwas dagegen tun.

Wie dramatisch schätzen Sie die Lage ein?
Nach den drastischen Bildern der Flutkatastrophe im Sommer ist hoffentlich jedem klar: Wir müssen nicht aus Mitleid mit Eisbären das Klima retten – wir müssen uns Menschen retten. Die Klimakrise ist die größte Gesundheitsgefahr im 21. Jahrhundert – mit Hitzetoten, Extremwetterereignissen und auch neuen Infektionskrankheiten. Wir sind die erste Generation, die hautnah miterlebt, wie instabil das Erdsystem wird. Und die letzte, die verhindern kann, dass weitere Kipppunkte überschritten werden. Wer jetzt noch ein „Weiter so“ für einen gangbaren Weg hält, hat wirklich den Schuss nicht gehört.

Die nächsten zehn Jahren entscheiden über die nächsten 10.000 Jahren

Können wir der Folgen des Klimawandels noch Herr werden?
Die nächsten zehn Jahre werden darüber entscheiden, wie die nächsten 10.000 Jahre für unsere Zivilisation werden. Deswegen müssen wir schnell handeln – und zwar nicht jeder für sich allein, sondern überregional, europäisch und global. Es ist naiv zu glauben, wir würden in den nächsten Jahren eine Zaubermaschine erfinden, die das CO2 verschwinden lässt. Viel wichtiger ist es, endlich mit der dreckigen und teuren Kohleverstromung aufzuhören, denn die Atmosphäre ist eben nicht eine unendliche Müllhalde für Treibhausgase, sondern eine sehr dünne und empfindliche Haut der Erde. Und diese Schutzschicht macht den Unterschied, ob wir auf der Erde leben können oder nicht.

Gab es für Sie persönlich einen Moment, in dem Sie gedacht haben: So kann es nicht weitergehen. Ich muss selbst aktiv werden?
Es mag pathetisch klingen, aber eine Frau hat mein Leben verändert: Jane Goodall. Sie ist mit über 85 Jahren immer noch unermüdlich unterwegs in ihrer Herzensangelegenheit: das Überleben von Menschen und Tieren zu sichern. Bei einem Interview stellte sie mir die Frage, die mein Leben veränderte: „Wie kann es sein, dass die schlaueste Kreatur, die jemals auf diesem Planeten gewandelt ist, dabei ist, ihr eigenes Zuhause zu zerstören?“ Das war der Startschuss für meine Reise auf der Suche nach guten Antworten und mein aktuelles Buch „Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben“ ist so etwas wie das Fahrtenbuch.

Darin geht es um die Folgen des Klimawandels für unsere Gesundheit. Kurz zusammengefasst: Worin bestehen die?
Wenn das kurz ginge, hätte ich ja nicht 521 Seiten schreiben müssen! Ich habe die Buchkapitel nach Körperfunktionen gegliedert. Das wirkt ungewöhnlich, macht aber Sinn, da ich mich als Arzt am besten mit dem Körper auskenne. Und weil jeder von uns atmen, trinken, essen und schwitzen aus eigener Anschauung kennt. Und weil Feinstaub das Atmen, Mikroplastik das Trinken, industrielle Landwirtschaft das Essen und Hitze die Temperaturregulation massiv beeinträchtigen. Wer meint, dass die Wirtschaft wichtiger ist als die Gesundheit, kann ja mal versuchen, beim Geldzählen eine Weile lang die Luft anzuhalten!

Jede vermiedene Tonne CO2 zählt

Der Klimawandel stellt auch die drängende Frage nach der globalen Gerechtigkeit. Was empfinden Sie als besonders ungerecht?
Der Klimawandel bremst die Fortschritte der wirtschaftlichen Entwicklung zusehends aus. Forschende haben ermittelt, dass die Kluft zwischen armen und reichen Ländern heute um ca. 25 Prozent größer ist, als sie es ohne die Erderwärmung wäre. Das Bruttoinlandsprodukt geht in den ärmsten Ländern der Welt nach vielen Jahren der positiven Entwicklung wieder zurück. Der Welthunger-Index, der die Ernährungslage in 107 Ländern berechnet, zeigt: 14 Länder weisen heute höhere Hungerwerte auf als noch 2012. Die Schätzungen, wie viele Menschen dort, wo sie leben, nicht bleiben können und zur Flucht gezwungen sind, reichen von 140 Millionen bis zu 400 Millionen bis zum Jahr 2050. Klimaschutz, globale Gesundheit und Gerechtigkeit gehören zusammen.

Was möchten Sie Menschen mit auf den Weg geben?
Jedes Zehntel Grad zählt! Jede vermiedene Tonne CO2. Jede Stimme, die sich erhebt. Und jede Spende. Es ist nicht einfach, optimistisch zu bleiben, aber zwei Punkte geben mir Anlass zu Hoffnung. Erstens: Wir können noch etwas ändern, bevor globale Kipppunkte erreicht werden. Und zweitens: Wir sind viele. Das Thema ist im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Jugendliche gehen mit „Fridays for Future“ auf die Straße, Eltern und Großeltern unterstützen sie. Und auch die Politik kommt an dem Thema nicht mehr vorbei. Wenn ich mir jetzt noch ein Drittens wünschen dürfte: dass die ganze Diskussion mit ein bisschen Humor geführt wird, damit das Ganze nicht so verbiestert rüberkommt. Ich liebe die Plakate mit Augenzwinkern: „Kurzstreckenflüge nur für Insekten“, „Wozu Bildung, wenn keiner auf die Wissenschaft hört?“ oder „Klima ist wie Bier – zu warm ist doof!“

Klimakrise ist auch eine spirituelle Krise

Sie unterstützen auch immer wieder kirchliche Organisationen wie etwa Brot für die Welt. Was treibt Sie dabei an?
Für mich ist die Klimakrise auch eine spirituelle Krise, und die Kirchen und konfessionelle Einrichtungen könnten mehr als bisher Teil der Lösung sein. Denn: Wir haben eine positive Vision zu bieten! Die Abkehr von einem materialistischen Weltbild braucht eine positive Vision. Diese visionäre Kraft im Glauben gilt es wieder freizulegen und spürbar zu machen. Momentan kommen Veränderungsprozesse in die Sackgasse, weil Menschen zuallererst ihren Nachteil, ihren Verlust, ihren „Verzicht“ im Fokus haben. Die Diskussion wird von Katastrophendenken auf der einen Seite und der Angst vor einer „Ökodiktatur“ auf der anderen bestimmt. Wo wir Christen einen echten Dienst tun können: mehr über die Welt zu reden, in der wir leben wollen, eine positive Vision eines gerechten, solidarischen und friedlichen Miteinanders ins Zentrum zu stellen.

Eckart von Hirschhausen ist Arzt, Wissenschaftsjournalist und Gründer der Stiftung „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“, deren Ziel es ist, die Zusammenhänge von Klimawandel, Umwelt und Gesundheit anschaulich zu machen. Neben seinen Aufgaben als Moderator und Autor („Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben“) setzt er sich seit 2018 für eine medizinisch und wissenschaftlich fundierte Klimapolitik ein, unter anderem als Mitglied der „Scientists for Future“.

Thorsten Lichtblau ist Redakteur des evangelischen Entwicklungswerks Brot für die Welt, für das dieses Interview entstanden ist.

Tearfund will den Müllbergen in Pakistan die Stirn bieten. Foto: Tearfund

Pakistan: Innovatives Projekt verwandelt Abfall in Dünger

In den Slums von Karachi sorgen Müllberge für Krankheiten. Das Hilfswerk Tearfund will dem Problem mit einer ungewöhnlichen Idee ein Ende bereiten.

Kommt der leere Pizzakarton in den Papiermüll oder in den Restmüll? Und muss ich meinen Joghurtbecher ausspülen, bevor ich ihn entsorge? Vor diesen Fragen stehen wir hierzulande gelegentlich, seitdem Anfang der 90er-Jahre die Mülltrennung eingeführt wurde. Zehn Anbieter regeln heute Abtransport und Verwertung von Verkaufsverpackungen. Die gesetzlich vorgeschriebenen Recycling-Quoten steigen regelmäßig.

Nicht so in Pakistan. Rubina ist 25 und lebt in einem Slum. Sie arbeitet hart, um genug Geld für sich und ihre drei Kinder zu verdienen. Der neunjährige Javed ist Rubinas ältester Sohn und mit einer Behinderung zur Welt gekommen. Seine Atmung macht ihm Probleme. Obwohl Rubina Mühe hat, die zusätzlichen Rechnungen zu bezahlen, muss sie ihn regelmäßig mit dem Taxi ins Krankenhaus bringen. Einer der Gründe: Müll.

Müllberge vor der Haustür

Da es in ihrem Slum keine Müllabfuhr gibt, sammelt sich der Müll auch vor Rubinas Haustür und verbreitet Krankheiten wie Cholera. Die Müllberge werden regelmäßig verbrannt, wobei giftige Dämpfe freigesetzt werden, die zu Lungenproblemen führen. Rubina macht sich große Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder. Als ihr jüngerer Sohn drei Jahre alt war, hat er sich beim Spielen im Müll schwer verletzt.

Für Menschen, die ohnehin bereits in Armut leben, stellen die Müllberge ein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zu einem Leben in Würde dar. Nach öffentlichen Angaben werden nur 50 bis 60 Prozent der Müllabfälle auf offiziellen Halden gelagert. Moderne Deponietechnik? Fehlanzeige. Und das bei jährlich etwa 20 Millionen Tonnen Haushaltsmüll, der die Straßen Pakistans zur Müllhalde werden lässt. Sondermüll wird selten separat gesammelt, geschweige denn fachgerecht entsorgt. Die Entsorgungswirtschaft steht buchstäblich in den Kinderschuhen: In dem Land, in dem das Durchschnittsalter bei 22,5 Jahren liegt und fast ein Drittel der Bevölkerung in Armut lebt, sammeln in erster Linie Kinder wiederverwertbare Gegenstände wie Glas, Plastikflaschen, Dosen oder Metall, um sie an Schrotthändler oder Firmen weiterzuverkaufen.

Überschwemmungen sind Nährboden für Ungeziefer

Gigantische Mengen an Müll übersäen in Pakistan nicht nur ganze Landschaften, sondern auch Teile des Meeres. Müll wird häufig einfach in den nahegelegenen Fluss geworfen. Von dort aus bahnt er sich seinen Weg ins Meer, blockiert unterwegs Flussmündungen und sorgt somit für Überschwemmungen. Die wiederum sind Nährboden für Fliegen, Mücken und Ratten, durch die sich Krankheitserreger ausbreiten. Was nicht verrottet, landet meist als Plastikmüll im Meer, wo es sich über die Jahre zu Mikroplastik zersetzt und von Fischen und anderen Meeresbewohnern aufgenommen wird.

Was also tun?

Weniger Müll, mehr Jobs

Damit besonders die Menschen in Slums nicht im Müll versinken, wird in Karachi, der zweitgrößten Stadt Pakistans, an einer innovativen Lösung gearbeitet. Das große Ziel: den Müll zu Dünger verwandeln. Das Projekt „Hariyali Hub“ (übersetzt: Grünes Zentrum) ging im Januar an den Start. Neben einem lokalen Partner der Abfallwirtschaft ist auch das Hilfswerk Tearfund beteiligt. „Hariyali Hub“ und seine geplanten Ableger in verschiedenen Städten sollen neben dem Müllproblem auch die Armut bekämpfen. Jedes Zentrum schafft 25 neue Arbeitsplätze für Menschen aus den Slums. Sie sammeln Nass- und Trockenmüll, der anschließend mithilfe von Maschinen verarbeitet und recycelt wird.

Vorläuferprojekte haben gezeigt, dass auf diese Weise 80 bis 90 Prozent der Abfälle recycelt und dabei unter anderem zu fruchtbarem Dünger umgewandelt werden können. Durch seinen Verkauf kann sich ein Projekt nach kürzester Zeit wirtschaftlich selbst tragen. Was nicht wiederverwertet werden kann, wird zu einer regulären Mülldeponie außerhalb der Stadt gebracht. Menschen wie Rubina erhalten auf diese Weise eine Zukunftsperspektive und ihre Kinder eine sauberere und sicherere Umgebung zum Aufwachsen.

Videos zeigen Lösungen auf

Aber ist das auch mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein? Klar ist: Um das riesige Müllproblem in einzelnen Slums und Stadtteilen Pakistans in den Griff zu bekommen, braucht es mehr als kleine, innovative Recyclingzentren allein. Nötig ist ein langfristiges Umdenken vieler Menschen. Es braucht das Bewusstsein, dass Müll und seine Verbrennung Menschenleben bedroht und die Natur zerstört.

Als christliches Hilfswerk setzt Tearfund dabei auf die Zusammenarbeit mit den Kirchen vor Ort. Ehrenamtliche und Pastoren erhalten Fortbildungen zum Müllproblem. Pastor Amir Shahzad hat in seiner St.-Lukas-Kirche in Karachi schon die kleinen animierten Videos gezeigt, die für diesen Zweck probeweise produziert wurden. Er berichtet begeistert von den positiven Reaktionen der Gemeindemitglieder – und möchte diese Erklärvideos nun auch außerhalb des Gottesdienstes verwenden, um noch mehr Menschen aufmerksam zu machen auf das Problem und vor allem auf die Lösungen, zu denen sie durch Mülltrennung und ordnungsgemäße Entsorgung beitragen können.

Jelena Scharnowski ist Theologin und leitet die Kommunikationsabteilung des christlichen Hilfswerks Tearfund Deutschland e. V. (tearfund.de).