Avocadostore-Leiterin: Kleine Label können sich oft kein Nachhaltigkeits-Siegel leisten
Mimi Sewalski ist Geschäftsführerin von Avocadostore, Deutschlands größtem grünen Online-Marktplatz. Im Interview erzählt die 32-Jährige, warum gesunder Menschenverstand oft wichtiger als Siegel ist und wie sie selbst prüft, von welchen Firmen sie Produkte kaufen möchte.
Du bist bereits in der Gründungsphase von Avocadostore eingestiegen und hast die Plattform mit aufgebaut. Was hat dich daran gereizt?
Nach meinem Studium habe ich erst fast fünf Jahre bei E-Commerce-Unternehmen in Israel und danach hier in Deutschland in der Werbung gearbeitet. Das fand ich allerdings völlig sinnlos. Später habe ich die Gründer von Avocadostore kennengelernt, die mir erzählten: „Es gibt sehr viele nachhaltige Label – aber keiner kennt sie. Wir haben deshalb eine Online-Plattform gegründet, wo wir alle versammeln wollen. Dort gibt’s dann für jedes herkömmliche Produkt eine nachhaltige Alternative.“ Dieser Satz hat mich entflammt. Viele Leute bekommen ja bei den Stichworten „Öko“ und „Reformhaus“ Gänsehaut, weil sie so viele Vorurteile haben. Kurz gesagt: Ich habe als Mission für mich gesehen, zu zeigen, dass Nachhaltigkeit Spaß macht.
Euer Erkennungszeichen ist die Avocado. Die ist nicht besonders klimafreundlich. Warum habt ihr gerade sie gewählt?
Den Namen gabs schon, als ich eingestiegen bin. Sie stand als Symbolfrucht für die vegane Bewegung. Zu der Zeit war auch noch nicht klar, wie umweltschädlich der Anbau von Avocados sein kann. Natürlich könnten wir uns umbenennen. Aber einmal wäre das markentechnisch sehr unklug. Und ich finde es auch deshalb gut, sie zu behalten, weil Nachhaltigkeit eben nie Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß bedeutet. Dafür steht die Avocado auch. Denn sie hat die guten Fette und ist eine super Alternative zum Fleischkonsum. Genau diesen Diskurs wollen wir führen. Die Leute dazu bringen, Fragen zu stellen.
Auswahl mit Menschenverstand
Welche Nachhaltigkeitskriterien müssen Produkte erfüllen, damit ihr sie verkauft?
Wir sind kein Ökotest oder Stiftung Warentest: Wir prüfen nicht, sondern machen eine Vorauswahl, um Transparenz zu schaffen und Orientierung zu geben. Label oder Ladengeschäfte, die bei uns verkaufen wollen, bewerben sich und wir schauen dann im Dialog, ob das Unternehmen nachhaltig ist. Wofür steht es? Welche Produkte gibt es? Wenn wir dann grünes Licht geben, schauen wir uns noch mal jedes einzelne Produkt an, das bei uns hochgeladen wird. Neben diesen beiden Stufen haben wir zehn Nachhaltigkeitskriterien, von denen mindestens eins erfüllt sein muss.
Das klingt auf den ersten Blick nicht sehr anspruchsvoll …
Einerseits ja – aber wir haben noch ein elftes Kriterium und das heißt gesunder Menschenverstand. Das heißt, wenn ein Anbieter sagt: Die Bratpfanne ist vegan, dann würden wir sagen: Ganz ehrlich – jede Bratpfanne ist vegan, das reicht uns nicht. Außerdem gibt es einzelne Kriterien, die so stark sind, dass kein anderes mehr erfüllt sein muss – wie z. B. bei „Cradle to Cradle“, das für Kreislaufwirtschaft steht.
Wo wird jeder Euro eingesetzt?
Wäre es nicht einfacher, auf bekannte Zertifikate und Siegel zu setzen?
Es gibt viele kleine Label, die Unglaubliches leisten und von Anfang an die Nachhaltigkeit in ihrer DNA haben und alles Mögliche beachten – aber sich eben kein Siegel leisten können. Wir wollen auch für diese Marken die Tür offen halten. Deshalb verlassen wir den typischen Zertifizierungsansatz und gehen vielmehr in die Transparenz, geben aber auch durch die Vorauswahl Orientierung.
Vor der Herausforderung zu prüfen, stehen wir als Privatpersonen ja auch im Alltag. Viele Firmen werben inzwischen damit, nachhaltig oder grün zu sein. Wie erkenne ich, ob die Produkte wirklich nachhaltig produziert sind – oder die Firma nur Greenwashing betreibt?
Das wird tatsächlich immer schwieriger. Für mich selbst bedeutet Nachhaltigkeit Ganzheitlichkeit. Das heißt, wenn ich etwas kaufe, überlege ich: Wenn ich Aktionärin wäre und diesem Unternehmen einen Euro geben würde – was würde mit diesem Euro passieren? Und bei einem ganzheitlich nachhaltigen Unternehmen habe ich das Gefühl: Egal, was die mit dem Euro machen – es ist etwas Gutes. Das heißt: Die produzieren nicht nur tolle Produkte, sondern achten auch auf Umweltschutz und auf ein faires Miteinander – auch in ihrem Team hier in Deutschland und nicht nur in dem Land, in dem produziert wird.
Wenn ich das vergleiche mit einem Unternehmen, das sagt: Ich habe hier eine Kollektion mit zwanzig Prozent grünen Produkten – dann heißt das eben auch, dass achtzig Prozent ihrer Produkte nicht grün sind. Und der Euro, den ich dieser Firma gebe, finanziert eben auch die achtzig Prozent schlechter Produkte.
„Warum gibt es noch nicht den nachhaltigen Computer?“
Euer Ziel bei Avodastore ist es, für jedes herkömmliche Produkt eine nachhaltige Alternative zu finden. Wo gelingt das gut – wo ist es schwierig?
Im Modebereich hat sich in den letzten zehn Jahren wahnsinnig viel getan. Da gibt es inzwischen sowohl sportliche als auch elegante Marken und das Ganze auch in verschiedenen Preisklassen. Schwierig ist der ganze Elektronik-Bereich. Warum gibt es noch nicht den nachhaltigen Computer? Immerhin gibt es schon nachhaltige Mäuse und Stromkabel.
Welche Produkte sind bei euren Kundinnen und Kunden am beliebtesten?
Eco-Sneaker waren ein großes Thema in den letzten Jahren, auch die faire Jeans, die lange hält, gut sitzt, fair produziert ist und keine Chemie an die Haut lässt. Und dann alle Produkte, die helfen, das Leben plastikfreier zu gestalten – wie z. B. Brotbeutel oder Aufbewahrungsgläser.
Weniger, aber besser kaufen
Man sagt ja immer „Der beste Konsum ist der, der nicht stattfindet“. Ist es dann nicht widersprüchlich, eine Onlineplattform zu betreiben, die zwar mit nachhaltigen, aber dennoch schönen Produkten Anreize zum Kaufen gibt?
Natürlich sind wir ein Geschäftsmodell und leben vom Verkauf, aber wenn man unsere Seite mal genauer anschaut, dann findet man dort ganz viele Informationen rund um nachhaltiges Leben, die gar nichts mit Verkaufen zu tun haben. Unser Ziel ist es, Leute zu motivieren, weniger, aber besser zu kaufen. Das hat viel mit dem Prozess der Nachhaltigkeit überhaupt zu tun. Wenn man erst mal angefangen hat, wird man immer weitermachen und neue Bereiche für sich entdecken.
Was hat dich selbst dazu motiviert, auf Nachhaltigkeit zu achten und deinen Lebensstil umzustellen?
Mein Opa war Jäger, das war sicherlich ein wichtiger Einstieg für mich. Wir haben zusammen Heinz Sielmann-Filme angeguckt und sind gemeinsam auf die Jagd gegangen. Er hat mir dann immer die Zusammenhänge in der Natur erklärt, dadurch habe ich einen Bezug zum Naturschutz bekommen. Außerdem gab es so einen Moment der Erkenntnis, in dem ich dachte: Schon krass, was man alles besitzt! Wo kommt das eigentlich alles her? Seit diesem Moment höre ich nicht auf, mich bei allem, was ich täglich in der Hand habe, benutze oder kaufe, zu fragen: Was verursacht mein Kauf? Und will ich das so unterstützen? Davon kommt man dann auch nicht mehr los.
Kaufende machen den Unterschied
Jetzt bemühen sich viele, in ihrem Alltag nachhaltiger zu leben – aber gleichzeitig sieht man, wie die Industrie weiterhin große Mengen an Schadstoffen ausstößt. Da denkt man doch oft: Ob ich jetzt eine Zahnbürste aus Bambus oder Plastik benutze, macht doch keinen großen Unterschied. Was motiviert dich, trotzdem nachhaltig zu leben?
Mich motiviert total die Tatsache, dass in den letzten zehn Jahren unglaublich viel passiert ist. Ich erinnere mich daran, dass ich vor ein paar Jahren mal in einem Interview gesagt habe: Also wenn Zalando mal grüne Mode verkauft – das schien mir so absurd und so weit weg – dann habe ich mein Ziel erreicht. Und jetzt machen die das immerhin schon teilweise.
Noch ein Beispiel, das mich motiviert: Der Hambacher Forst war ja sehr präsent in den Medien und auch die Frage, warum und wofür die Leute dort demonstrieren. Und genau in der Zeit haben sich so viele Menschen wie noch nie in Deutschland neu für Ökostrom angemeldet. Somit hatten viele einzelne in der Summe einen richtig großen Einfluss, weil dadurch viele Tonnen CO2 eingespart wurden. Einfach, weil so viele Leute einen kleinen Schritt gemacht haben und ihren Stromanbieter gewechselt haben.
Das hat mich beeindruckt zu sehen, wie viele Leute plötzlich etwas ändern. Dass die großen E-Commercer nachhaltige Mode verkaufen, machen sie ja nicht, weil es ihnen plötzlich ein Bedürfnis ist, sondern, weil die Nachfrage da ist. Das heißt, weil wir Konsumentinnen und Konsumenten Entscheidungen treffen, fangen die Großen an, sich danach zu richten. Und das ist doch großartig! Ich glaube wirklich, dass an dem Satz „Jeder Kauf ist ein Stimmzettel“ was dran ist. Wir können etwas bewegen!
Interview: Melanie Carstens
Mimi Sewalski (32) ist Soziologin, Autorin des Buches „Nachhaltig leben JETZT“ (Knesebeck) und hat den 2010 gegründeten grünen Online-Marktplatz Avocadostore seit 2011 mit aufgebaut. Heute ist sie Geschäftsführerin des Unternehmens mit 70 Mitarbeitenden, das 350.000 Produkte von über 4.000 Marken anbietet. Avocadostore agiert als Vermittler und bekommt 17 Prozent vom Verkaufspreis, die von Miete über Personal bis Marketing alles abdecken müssen. Produkte, die ins Sortiment aufgenommen werden, müssen mindestens eins von zehn Nachhaltigkeitskriterien erfüllen: Rohstoffe aus Bio-Anbau, haltbar, made in Germany, Ressourcen schonend, Cradle to Cradle, fair und sozial, recycelt und recycelbar, CO2-sparend, schadstoffreduzierte Herstellung, vegan. Im Web: avocadostore.de