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Flohmarkt in der Nachbarschaft. Symbolbild: Getty Images / SolStock

Gelebte Nachbarschaft: So profitiert jeder von der Gemeinschaft

Gute Nachbarschaft ist eine echte Chance – nicht nur für Gemeinschaft, sondern auch für mehr Nachhaltigkeit. Wie so etwas gehen kann hat Lisa-Maria Mehrkens herausgefunden.

Angefangen hatte im Hamburger Quartier Nettelnburg alles mit der Idee von vier Nachbarinnen: Unter ihren Carports wollten sie zeitgleich Flohmarktstände aufbauen. Carolin Goydke verteilte Flyer in der Nachbarschaft und richtete zur Organisation eine WhatsApp-Gruppe ein. Ein überschaubarer Aufwand. Doch sie hatten den Enthusiasmus der Nachbarn unterschätzt: „Die Resonanz war riesig, viele wollten sich beteiligen und sogar das Wochenblatt wurde informiert“, erinnert sich Carolin ans erste Mal zurück. Schon beim ersten Flohmarkt waren dann über 50 Haushalte dabei – und schnell stand fest, dass neben dem seit Jahrzehnten etablierten Laternenfest mit Umzügen und Feuerwerk im September und dem Pflanzenmarkt auf dem Kirchplatz im Frühjahr nun auch der Flohmarkt regelmäßig in der Nachbarschaft stattfinden sollte. Abgesehen von den erfolgreichen Verkäufen blieben vor allem die Gemeinschaft und der Austausch miteinander positiv im Gedächtnis.

Zudem entwickelte sich die Chatgruppe zum Nachrichtenorgan der Siedlung. Und das war eine entscheidende Wende im nachbarschaftlichen Miteinander, denn irgendeine Plattform zur Kommunikation braucht es, damit Austausch entsteht. Sei es das Schwarze Brett im Vereinslokal oder Supermarkt, sei es eine Facebook-Seite oder eben eine Chatgruppe – entscheidend ist, dass Begegnungen und Ideen in welcher Form auch immer möglich werden. Als die Gruppe bei WhatsApp nicht mehr wachsen konnte, wechselte man in Hamburg zu Signal. Hinweise auf Blitzer, entlaufene Haustiere oder Fundsachen finden hier ebenso ihren Platz wie Fragen nach Ärzten und Handwerkern – und weiterhin werden hier auch alte Schätzchen verkauft und noch öfter verschenkt. Die kurzen Wege in der Nachbarschaft ermöglichen es, sich manches gute Stück auch erst einmal nur anzuschauen. Und nicht selten stehen in oder vor den Carports nun Zu-verschenken-Kisten.

ESSBARE FREUDE TEILEN

Eine Sonderform des Verschenkens ist das immer beliebter werdende Foodsharing, eine bundesweite Initiative gegen Lebensmittelverschwendung mit über 2.500 involvierten Betrieben. Können diese ihre noch genießbaren Lebensmittel nicht mehr alle verwerten und Institutionen wie die Tafeln haben keinen Bedarf, holen sogenannte „Foodsaver“ die Lebensmittel zu vorgegebenen Zeiten ab und verteilen sie – oft in der Nachbarschaft – weiter, bevor sie im Müll landen. Häufig werden auch sogenannte „Fairteiler“ eingerichtet: öffentlich zugängliche Schränke, zu denen jeder seine nicht mehr benötigten Lebensmittel bringen oder sich kostenlos etwas mitnehmen darf.

Paul ist Foodsaver in Chemnitz. Für ihn gehört das Teilen von Lebensmitteln und anderen Dingen als Ausdruck von Nächstenliebe zu einer guten Nachbarschaft dazu: „Eine ideale Gesellschaft handelt in meinen Augen sozial und ganz im Sinne von Foodsharing sollte Teilen eine Selbstverständlichkeit sein. Dabei denkt man nicht an sich, sondern an andere“, sagt Paul. Wer Lebensmittel in der eigenen Nachbarschaft weitergibt, reduziert nicht nur den CO2-Ausstoß, da weniger Lebensmittel, in die Energie und Ressourcen geflossen sind, weggeschmissen werden, sondern fördert oft auch Beziehungen und Begegnungen zwischen Menschen.

Ganz oft ist das der schöne Nebeneffekt von nachbarschaftlichem Engagement: Wer sich auf einer Ebene schon mal gesprochen hat, findet beim nächsten Mal noch schneller den Anknüpfungspunkt, um gemeinschaftlich zu handeln. Denn Vertrauen ist der Kitt, der uns in Gruppen zusammenhält.

Und Vertrauen ist auch nötig, wenn es darum geht, Dinge zu verleihen. Haushaltsgeräte, Werkzeug oder Party-Deko werden oft nur gelegentlich genutzt und sie auszuborgen statt zu kaufen, spart ebenso Geld wie Ressourcen. Im Leihladen KarLeiLa in Chemnitz hat man diesen Gedanken professionalisiert. Wer mitmachen will, zahlt eine monatliche Nutzungsgebühr von 36 Euro – und bringt selbst auch einen eigenen Gegenstand in den gemeinsamen Leihpool ein. „Damit wird das Verleihen eher zum Teilen, weg von der Dienstleistung hin zum solidarischen Handeln. Denn es geht um die gemeinschaftliche und sinnvolle Nutzung von Ressourcen“, erklärt die ehrenamtliche Mitarbeiterin Cindy Paukert. Bewusst hätten sie sich hier für einen Standort in einem chaotischen, bunten, diversen und sich dynamisch wandelnden Stadtteil mit allen Sozialschichten entschieden, da der Verleihladen etwas für alle Bevölkerungsgruppen sein soll. Die Teammitglieder des Ladens hätten teilweise selbst auf Reisen schon häufig unter einfachen Bedingungen gelebt und seien auf andere angewiesen gewesen. Gerade dieses Miteinander schätzt Cindy Paukert: „Ich finde, dass das Leben schöner ist, wenn man etwas zusammen tut, sich unterstützt, Dinge miteinander teilt, egal ob Gegenstand oder Not.“ Für sie hat der Leihladen auch etwas mit Gemeinschaft und Eigenverantwortung zu tun: „Wir wollen, dass Menschen den Laden mitgestalten und sind da sehr offen für Ideen. Und wir fördern auch die Verantwortung für den anderen und dafür, was er braucht. Wir wollen einen Begegnungsort, an dem man miteinander redet“, sagt sie. Gern sähe sie noch viel mehr von Anwohnern selbst verwaltete Verleih-Läden – am liebsten gleich mit Reparaturcafés, die Geräten eine längere Nutzungsdauer verschaffen.

REPARATUR MIT PLAUSCH

Die Idee der Reparaturcafés geht auf die Niederländerin Martine Postma zurück. Ihr Konzept hat sich seit 2010 weltweit etabliert. Sie sei es leid gewesen, dass so viele Produkte, die eigentlich nur etwas Pflege und Reparatur bedürfen, einfach weggeworfen und durch neue ersetzt werden, weil es einfacher und schneller sei. „Ich wollte Reparaturen wieder in unseren Alltag bringen“, beschreibt sie ihre Idee. Dafür musste Reparieren billiger und attraktiver als ein Neukauf werden. „So kam ich auf die Idee eines Reparaturcafés: aus Reparieren ein Event machen, einen tollen Ort, an dem Ehrenamtliche dir gegen eine freiwillige Spende deine kaputten Sachen reparieren oder dich selbst dazu anleiten, wo du einen netten Plausch mit deinem Nachbarn oder eine Tasse Kaffee genießen kannst.“ Wer ein solches Reparaturcafé ins Leben rufen will, findet mittlerweile in einem Starter Kit in fünf verschiedenen Sprachen Anregungen zum Loslegen.

Für Martine Postma sind Reparaturfähigkeiten auch für eine gute Nachbarschaft hilfreich: „Sie helfen, miteinander Probleme zu lösen. Eine ideale Nachbarschaft ist eine resiliente Nachbarschaft, die Reparaturkünste und die Menschen, die diese haben, gleichermaßen schätzt“, sagt sie. Gleichzeitig würden Reparaturcafés Nächstenliebe fördern. „Dort kann man Hilfe von einem Freiwilligen bekommen, den man auf der Straße nie wahrgenommen hat. Dadurch sieht man diese Person in einem neuen Licht, nämlich als wertvollen Menschen mit wertvollem Wissen. Das nächste Mal, wenn man ihn oder sie auf der Straße trifft, sagt man Hallo und fragt, wie es ihm oder ihr geht.“

ONLINE VERNETZEN

Mittlerweile gibt es im Internet zahlreiche Foren, die verschiedene Aspekte einer sozialen Nachbarschaft miteinander verbinden. Die wohl größte und bekannteste Plattform ist nebenan.de. „Wir bringen Menschen zusammen, die in der gleichen Nachbarschaft leben und sich trotzdem oft gar nicht kennen“, erzählt Ina Remmers, eine der Mitgründerinnen. „Die Plattform ist ein Werkzeug, um Einsamkeit und Anonymität abzubauen und die lokale Gemeinschaft zu stärken.“ Über sie können Menschen sich für gemeinsame Unternehmungen verabreden, Initiative für ihr Viertel ergreifen oder sich gegenseitig Tipps und Hilfe geben. „In einer idealen Nachbarschaft treffen sich ganz unterschiedliche Menschen. Durch kleine Alltagsbegegnungen und gegenseitige Hilfe werden Vorurteile abgebaut und das Vertrauen ineinander gestärkt, was sich positiv auf das Gefühl auswirkt, sich in der eigenen Nachbarschaft zu Hause zu fühlen“, sagt Ina und hat in ihrer Arbeit schon zahllose Erfahrungen gehört, wo genau das gelungen ist. „Eine meiner Lieblingsgeschichten ist die von Ulla und Edgar aus Koblenz“, erzählt sie „Im Rahmen unserer jährlichen Aktion ‚Weihnachten nebenan‘ hat Ulla ihre Nachbarinnen und Nachbarn über nebenan.de zum gemeinsamen Weihnachtsessen eingeladen. Mit am Tisch saß Edgar, 75 Jahre alt und verwitwet: Dies wäre sein drittes Weihnachten alleine in Folge gewesen – wäre da nicht Ullas Einladung gekommen.“

Ob solche schönen Geschichten geschehen und wie wohl wir uns in unserer Nachbarschaft fühlen, haben wir nicht immer vollkommen in der Hand. Aber wir können es mitbeeinflussen, indem wir auf Menschen zugehen, um Hilfe bitten, Unterstützung anbieten und danach fragen, was im eigenen Viertel gebraucht wird.

Gerade in einer unübersichtlichen Weltlage wie heute gewinnt das Lokale wieder stärker an Bedeutung: Wenn die Welt bedrohlich wirkt, ist es beruhigend, wenn das direkte Umfeld vertraut und wohlgesonnen ist. Eine gute Nachbarschaft sei als soziale Säule der Gesellschaft vor allem in Krisenzeiten wichtig, findet auch Ina Remmers: „Sei es die Restaurantbesitzerin um die Ecke, die uns mit Vornamen begrüßt, der Nachbar, der den Ersatzschlüssel der Wohnung hütet, oder die Nachbarschaftsgruppe, mit der wir gemeinsam den Stadtgarten pflegen – Nachbarschaften können in einer immer undurchsichtigeren und sich schnell verändernden Welt das Gefühl von Zugehörigkeit geben.“

GESELLSCHAFT IM KLEINEN

Es scheint, als sei die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Verbindung zu anderen in unserer von Individualität geprägten Gesellschaft heute größer denn je. Cindy Paukert vom Verleihladen sagt, sie beobachte, dass mit zunehmender finanzieller Unabhängigkeit auch die Einsamkeit von Menschen steige. Für sie herrscht in einer idealen Nachbarschaft die perfekte Mischung aus Individualität und Kollektivität: „Eine gute Nachbarschaft ist ein Ort, der Bedürfnisse eines Individuums erfüllt, aber ihm trotzdem Raum lässt. Man schaut auch hin, was uns als Gemeinschaft guttut und was wir tun können, um das Leben zusammen schöner zu machen. Man sollte sich menschlich begegnen und unterstützen, wo es möglich ist“, meint sie. Martine Postma glaubt, dass das eigene Wohnumfeld und das große Ganze sich beeinflussen: „Nachbarschaften sind unsere Gesellschaft im Kleinen. Wenn die Nachbarschaften nicht gut funktionieren, funktioniert auch die Gesellschaft als Ganzes nicht gut“, glaubt sie. Umgekehrt sei eine Nachbarschaft, in der man sich sicher und geschätzt fühlt ein Ort, an dem man etwas Gutes beitragen möchte: „Starke Gemeinschaften sind meiner Meinung nach entscheidend für eine nachhaltige Zukunft.“

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin.

Willi Weitzel unterwegs mit dem Esel. Foto: Privat

„Manchmal fällt es mir schwer, optimistisch in die Zukunft zu schauen“

Der Moderator Willi Weitzel stellt nicht nur kluge Kinderfragen, sondern ist auch neugierig. Im Interview verrät er, was ihn bewegt und was ihm Hoffnung gibt.

Manchmal hat Willi Weitzel ein schlechtes Gewissen. So wie jetzt, als ein Cappuccino mit Kuhmilch vor ihm steht: Der Kaffee ist zwar bio, aber leider war die Hafermilch alle. Dabei ist ihm Nachhaltigkeit wichtig. Für viele ist Willi Weitzel, 49, immer noch der Moderator der Fernsehsendung „Willi wills wissen“, der von 2002 bis 2009 Familien die Welt erklärte. Neugierig, fröhlich, mit großen Augen. Auf der Höhe seines Erfolgs stieg er aus der Sendung aus und begab sich auf die Suche danach, wer er jenseits seiner Sendung eigentlich ist und sein möchte. Fragen stellen, reisen, die Welt erforschen und verrückte Ideen ausprobieren – das tut Willi Weitzel immer noch, als Reporter, Moderator, in seinen Vorträgen und Filmen. Aber sein Ton ist nachdenklicher geworden.

Nachhaltigkeit ist für dich ein wichtiges Thema. Du hast drei Töchter – wie lebt ihr das Thema als Familie?

Im Vergleich zu vor zehn Jahren hat sich schon viel getan. Bei uns gibt es zu Hause zum Beispiel keinen Fisch mehr aus dem Meer. Wenn, dann aus dem Ammersee, wo wir wohnen, oder aus geschützten Beständen. Ich lebe zu 90 Prozent vegetarisch, manchmal sind es auch hundert. Ich kann allerdings nicht immer auf Fleisch verzichten. Und ich weiß auch, woran das liegt: Weil wir viel von unserem Geschmack mit der Kindheit verbinden. Deswegen ist es auch mein Ziel, meinen Kindern Dinge auf den Tisch zu bringen, über die sie vielleicht in dreißig Jahren sagen: „Ach toll, heute gibt es wieder Falafelbällchen, wie früher beim Papa!“

Das klingt gut! Wie sieht es mit Wohnen und Mobilität aus?

Wir wohnen als Familie auf dem Land und beziehen hier Naturstrom. Leider haben wir es bisher als Mieter noch nicht geschafft, eine Solaranlage aufs Dach zu bekommen. Aber wir haben seit zwei Jahren ein Elektroauto. Das nutzen wir eigentlich nur, um von Dorf zu Dorf zu kommen und für den Kindertransport. Aber inzwischen sind 25.000 Kilometer drauf und ich bin dankbar, dass diese nicht in die Luft verpufft sind. Es ist nicht die Lösung aller Lösungen, aber etwas, das ich tun kann. Insgesamt ist es nicht so leicht, in den Medien das gute Vorbild zu erklären und das dann auch im Alltag zu leben. Manchmal denke ich auch: „Hoffentlich guckt jetzt keiner rein“, wenn ich mir noch eine Scheibe Wurst abschneide.

In deinen Filmen und Reportagen geht es neben Klimawandel oft auch um schwierige Themen wie Krieg, Flucht, Ausbeutung. Wie gelingt es dir, trotzdem eine gewisse Leichtigkeit zu behalten?

Ehrlich gesagt: Persönlich gelingt mir dieser Spannungsbogen nicht immer so gut. Manchmal fällt es mir schon schwer, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Zum Beispiel war ich für meinen Kinofilm „Willi und die Wunderkröte“ mit dem Wissenschaftler Martin Jansen vom Senckenberg-Forschungsinstitut im Süden Boliviens unterwegs. Dort habe ich wirklich ein Natur-Paradies entdeckt. Die vielen Bäume dort wurden inzwischen abgeholzt. Ein Rinderbaron wollte einfach noch mehr haben – schreckliche Realität. In solchen Momenten hilft mir
nur noch mein Optimismus. Ich wohne nicht weit vom Kloster Andechs. Der dortige Abt, Johannes Eckert, hat sein neuestes Buch über die Apokalypse geschrieben und die Quintessenz hat mich getröstet. Seiner Meinung nach ist es, wenn du Christ bist, nicht fünf nach zwölf. Es bleibt fünf vor zwölf. Daran orientiere ich mich. Weil ich ein Vorbild – auch für meine eigenen  Kinder – bin, versuche ich, einfach zu machen und mich nicht zu Tode zu grübeln.

Vor 13 Jahren, mit 36, hast du dir eine Auszeit bei „Willi wills wissen“ erbeten, weil du eine Pause brauchtest. Du bist damals einfach allein über die Alpen gewandert, vier Wochen lang. Wie war das?

Es war damals unglaublich befreiend, selbstbestimmt den Takt vorzugeben und aus der Maschinerie der Sendung herauszukommen. Es war ein Weggehen und Ankommen. Mit meinem Erfolg bei „Willi wills wissen“ hatte ich auch eine gewisse Eitelkeit entwickelt. Aber allein mit dem Rucksack, im Zelt, auf Hütten – das hat mich total geerdet und mich unglaublich glücklich gemacht. Die Welt unten im Tal und die Probleme waren oben auf dem Berg so klein. Und ich war dem Himmel näher als der Realität. In dieser Situation habe ich die Entscheidung getroffen, mit „Willi wills wissen“ aufzuhören. Für diesen Entschluss bin ich bis heute dankbar – und bereue ihn zugleich.

Du bist anschließend für einige Tage in ein Benediktiner-Kloster gegangen. Was hast du dir davon erhofft?

Ich glaube, ich wollte mir nochmal diesen Himmel, den ich in den Bergen erfahren hatte, in meine Nähe holen. Im Kloster konnte ich – abseits aller Alltagseinflüsse – mein Leben neu sortieren und die Weichen neu stellen, sowohl beruflich als auch privat. Aber eigentlich ging es nur um das Gewinnen, oder vielleicht auch Zurückgewinnen einer inneren Haltung. Wer bin
ich? Was will ich? Die Frage taucht ja nicht nur in meinem Leben auf. Streben wir nicht alle nach Zufriedenheit? Antworten und Wegbeschreibungen zu echter Zufriedenheit finden wir nur in uns selbst – und nicht in Büchern oder dem Internet.

Du warst früher Messdiener und Sternsinger, kamst dann zum Theologiestudium nach München. Den christlichen Glauben hast du mal als Wurzel bezeichnet. Warum lässt er dich nicht los?

Diese Wurzeln sind unglaublich stark, das merke ich. Obwohl ich es im Moment sehr schwierig finde. Ich bin den Katholiken ja schon seit 49 Jahren treu. Seit zwanzig Jahren heißt es:  „Wenn wir alle austreten würden, können wir nichts von innen heraus verändern.“ Leider ändert sich aber auch so nichts. Nun fangen die Ersten in leitenden Positionen an auszutreten und ich selbst hadere auch. Vor allem mit der katholischen Kirche aber auch mit meinem Glauben. Und trotzdem sind da diese Wurzeln, die schon früh in der Kindheit angelegt worden sind. Ich rieche den Weihrauch, höre das Te Deum – das schafft eine Gänsehaut und eine Anbindung. Die Frage ist: Werden die Wurzeln mich davon abhalten, mich weiterzuentwickeln? Oder geben sie mir vielleicht die Anbindung, die mich auch durch die gegenwärtigen Zeiten bringt? Es wird mich wahrscheinlich bis zum Lebensende so zwiespältig begleiten.

Du bist mit einem Esel 180 Kilometer von Nazareth nach Bethlehem gewandert. Wie kam es dazu?

Ich hatte in der Weihnachtszeit meiner damals fünfjährigen Tochter die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Auf ihre Frage, wie lange Maria und Josef dafür unterwegs gewesen waren, dachte ich, dass es doch eigentlich meine Aufgabe ist, solche Kinderfragen zu beantworten. Mein neues Projekt: zu Fuß von Nazareth nach Bethlehem, begleitet von einem Esel. Vor Ort fand ich nach zwei Tagen einen Esel, mit dem ich bis zum Westjordanland kam. Allerdings durfte er nicht mit über die Grenze, weil es auch schon bombenbeladene Esel gegeben hatte. Ich konnte mir dort einen anderen Esel kaufen, der mich bis in die Nähe von Jericho brachte. Leider ist er zwei Tagesetappen vor Bethlehem nachts abgehauen. Für das letzte Stück habe ich einen Beduinen gefunden, der mir seinen Esel zwar nicht verkaufen konnte, mich aber zwei Tage lang mit ihm begleitet hat. Nach zwölf Tagen hatte ich es endlich geschafft.

Das klingt wirklich abenteuerlich …

Was jetzt als fluffige Geschichte daherkommt, war vor allem eins: anstrengend. Ein Heidenrespekt, wenn Maria das hochschwanger gemacht haben soll! In der öden, heißen Wüste hatte ich das Gefühl nicht voranzukommen, denn alles sah gleich aus. So ging es auch meinem beduinischen Begleiter, der zehn Kilometer vor Bethlehem sagte, er kann nicht mehr, jetzt drehen wir um. Er hat nicht verstanden, warum ich bis nach Bethlehem wollte und sich geweigert. Ich sagte ihm, es sei ein heiliger Weg. Er fragte: „Like Hadj?“ (Also die berühmte Pilgerreise der Muslime). Ich sagte: „Ja!“ Er ging sofort und kommentarlos weiter bis nach Betlehem.

In welchen Momenten hast du den Glauben sonst besonders stark erlebt?

Vor einigen Jahren war ich mit meinem besten Freund in Jerusalem. Ich wusste, wenn morgens um fünf Uhr die Grabeskirche aufgeschlossen wird, ist noch niemand da. Wir standen also vor dem Grab und auf einmal guckte ein Mönch aus der Grabkammer heraus und lud uns ein, mit ihm zusammen Gottesdienst zu feiern. Das taten wir, übermüdet wie wir waren. Ich habe die Lesung gemacht und er hat uns Wein und Brot gegeben. Wir waren unglaublich bewegt und hatten danach sogar feuchte Augen, weil wir noch nie zuvor eine so intensive Glaubenserfahrung gemacht hatten.

Interview: Debora Kuder

Global Food Garden - eine Anlage zum Gemüseanbau. Foto: Daniel Johansson

Startup gegen den Hunger: Eine innovative Methode zum Gemüseanbau

Immer mehr Menschen hungern. Der Klimawandel verschärft das Problem noch weiter. Daniel Johansson und David Rösch haben mit „Global Food Garden“ neue Anbaumethoden für wasserarme Regionen entwickelt. Ein Lichtblick.

Es ist sonnig, als ich mich auf mein Fahrrad schwinge, um den „Global Food Garden“ zu besichtigen. Während ich durch Freiburg fahre, genieße ich die Gegend. Uns umgibt hier viel Grün. Wasser und fruchtbarer Boden ermöglichen eine hohe Lebensqualität. Ich muss daran denken, wie anders es in den Gebieten aussieht, für die der „Global Food Garden“ sich einsetzt. Regionen, in denen kaum etwas wächst und Dürreperioden es den Menschen schwer machen, sich ihre Lebensgrundlage zu erarbeiten.

Angekommen auf dem Freiburger Gelände fällt zuerst die große Hydroponik-Anlage aus leuchtend gelben Balken auf. Hinter großen Fensterscheiben sprießen zahlreiche Salatköpfe aus einer weißen Wand. Ich werde bald erfahren, dass diese Form des Gemüseanbaus der Anfang war von allem.

Wasser zielgenau nutzen 

Der gelernte Schiffsingenieur Daniel Johansson hörte von einem Kollegen davon. Aufgewachsen auf einem Schiff der christlichen Organisation OM hatte Daniel selbst mehrere Jahre auf einem solchen Schiff gearbeitet, bevor er 2010 mit seiner Familie in die deutsche OM-Zentrale nach Mosbach im Odenwald kam. Hier erfuhr er, dass sich mit dieser Methode Gemüse in Regionen anbauen lässt, in denen das mit herkömmlichen Herangehensweisen nicht oder kaum möglich ist.

In einem solchen hydroponischen System wachsen Pflanzen nicht in Erde, sondern in mit Nährstoffen angereichertem Wasser, was – so wie hier – auch einen vertikalen Anbau ermöglicht. Eine solche Anlage benötigt aber nicht nur weniger Raum, sondern vor allem bis zu 90 Prozent weniger Wasser als Äcker, da das Wasser zirkuliert oder zielgenau bereitgestellt wird, nicht aber versickert.

Die Vorstellung, mit solchen Systemen eine mögliche Antwort auf den Hunger in der Welt und die zunehmenden klimatischen Herausforderungen zu haben, ließ den heute 43-Jährigen nicht mehr los. „Mir ist es wichtig, einen guten Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen“, sagt er in unserem Gespräch. „Oft sind wir Christen schnell im Dagegen-sein, dabei wäre es doch viel besser zu sagen: Wir haben hier einen positiven Beitrag und eine Antwort.“

2018 kam er mit einem anderen Visionär ins Gespräch: David Rösch. Er träumte von einer Ausbildungsstätte, die junge, geflüchtete Männer für einen Ausbildungsplatz vorbereitet und ihnen damit eine berufliche Perspektive in Deutschland gibt.

Aus dem Gespräch wuchs eine Kooperation mit Zukunftsperspektive. David Röschs Projekt [p3]-Werkstatt hatte die nötigen Ressourcen für den Bau erster Hydroponik-Anlagen, während Daniel Johansson über Kontakte ins Ausland verfügte, um Gemüseanbau-Projekte zu starten und Menschen im Bereich der Hydroponik zu schulen. Genau genommen sind es also sogar zwei Projekte, die ich hier besichtigen darf.

Innovative Möbelstücke

Als wir die Halle von [p3] betreten, herrscht eine ruhige aber gesellige Atmosphäre. Es duftet nach frischem Holz. Moderne Möbelstücke sind zu sehen. Dass hier Wert auf Qualität und Design gelegt wird, fällt auf. An der Wand wachsen Zimmerpflanzen in einem langen Rohr – ebenfalls eine Hydroponik-Anlage, wie ich später erfahre. Mittlerweile sind schon in mehreren Freiburger Restaurants Anlagen dieser Art zu bestaunen.

In drei Werkstätten für Holz, Elektrik und Metall werden hier Schüler unterrichtet. Einige arbeiten gerade hochkonzentriert an Holzaufbauten für Fahrräder, die diese zu einer mobilen Küche oder einem fahrbaren Infostand machen. Seit 2019 werden hier auch Hydroponik-Anlagen entwickelt, gebaut und vertrieben. Ohne große Werbung kommen immer wieder Anfragen von Schulen, Restaurants und Firmen, die Pflanzen auf diese Weise anbauen wollen. Auch nach den hydroponischen Möbelstücken, aus denen Kräuter oder Zimmerpflanzen wachsen, herrscht rege Nachfrage. Innovative, nachhaltige Produkte, geeint mit einem starken Fokus auf das Soziale, kennzeichnet die [p3]-Werkstatt und macht sie damit zum perfekten Partner für Daniels “Global Food Garden”.

Mittlerweile wohnt Daniel mit seiner Familie im Schweizerischen Oberdorf im Baselland und hat zahlreiche Projekte mitgeholfen umzusetzen – mit hydroponischen oder anderen Anlagen, die Gemüseanbau in trockenen Regionen ermöglichen. In Kenia beispielsweise entstanden aus einfachsten Mitteln sogenannte „Wicking Beds”. Unter diesen Hochbeeten zirkuliert Wasser unter einem Erde-Mist-Gemisch. Überschüssiges Wasser läuft zurück und wird erneut ins Beet gepumpt. Sie wurden zur lokalen Attraktion, als es darin selbst in der Trockenzeit grünte und blühte.

Auch in einem abgelegenen Küstendorf in Grönland ist der „Global Food Garden“ aktiv. Normalerweise wird frisches Gemüse hier ausschließlich aus dem Ausland angeliefert. Nun soll bald mit einer Indoor-Farming-Anlage Gemüse vor Ort produziert werden, sodass lange Transportwege entfallen und nebenbei Arbeitsplätze entstehen. Eine Pilotanlage ist gebaut und wird aktuell noch getestet.

Während der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass neben den großen Anlagen, die im Bau und der Vorbereitung sehr abhängig von der Begleitung des “Global Food Gardens” sind, noch einfachere und möglichst unabhängige Lösungen hilfreich wären. Also reduzierte man die nötige Technik auf ein Minimum, sodass sie nun in eine Kiste passt. Mithilfe einer kleinen Solaranlage mit Akku wird hier die Pumpe eines hydroponischen Systems betrieben, das eine Nährlösung in den Pflanzbereich pumpt, wo die Wurzeln sie aufnehmen können, bevor überschüssiges Wasser zurück in den Wasserspeicher fließt. Rund 400 Euro kostet eine solche „Africa Food Garden Box“, die etwa 400 Gemüsepflanzen bewässern kann und so eine Familie mit Nahrung und einem kleinen Einkommen versorgt.

Bei einem Projekt in Nigeria hat sich jedoch gezeigt, dass es mit innovativen Anbaumethoden allein noch nicht getan ist. Es stellen sich auch Fragen nach geeigneter Lagerung, Transport und Verkauf des Gemüses, damit dieses tatsächlich auch seinen Weg zu den Menschen findet. Deshalb muss der „Global Food Garden“ ein Netzwerk mit einer Vielzahl an Akteuren sein.

Ausbildungszentren überall

Als Daniel vor ein paar Jahren überlegte, wie ein Vision Statement für sein Leben aussehen würde, wurde ihm klar: „Wenn ich am Ende alles aus eigener Kraft erreicht habe, dann habe ich zu wenig groß geträumt oder geglaubt.“ Ihm ist wichtig, das, was er angeht, mit Gottvertrauen zu tun: „Ich möchte erleben, wovon die Bibel spricht, nämlich dass wir noch Größeres als Jesus vollbringen dürfen.“ Für seine Arbeit mit dem „Global Food Garden“ hat er dabei ein biblisches Vorbild: Josef aus dem Alten Testament, der mit Gottes Hilfe und der Fähigkeit und Weisheit, die er ihm anvertraute, das ganze Land mit Nahrung versorgte.

So sehr Daniel Teamplayer ist und innovative Ideen hat – die Entwicklung von Geschäftsideen und Business-Entwicklung waren ihm bislang fremd. Doch nach und nach und nicht ohne Zweifel und Rückschläge fuchste er sich in die Sache hinein: „Wenn man sich gebrauchen lässt, gehen Türen auf“, ist er überzeugt – und: „Wenn ich das kann, dann können das auch andere.“ Er träumt von Ausbildungszentren überall auf der Welt, in denen Modellprojekte der verschiedenen Systeme gezeigt und gelehrt werden, damit für jede Region das passende System vermittelt werden kann.

Zahlreiche Qualifikationen und Berufsfelder schweben ihm vor: Vom Gemüseanbau und der Fischzucht über den Bau und Betrieb von Gewächshaussystemen bis zur Saatgutherstellung oder Lebensmittelveredelung wäre vieles denkbar. Auch hier befruchten sich die beiden Projekte wieder. „Eigentlich haben wir hier in Freiburg mit der [p3]-Werkstatt schon so ein Ausbildungszentrum im Kleinformat“, sagt Daniel. Die Ausbildungserfahrung, die [p3] bei der Arbeit mit Geflüchteten sammelt, die teilweise wenig oder keine Schulbildung haben, ist hilfreich für Projekte in Ländern mit geringem Bildungsstand.

Dorothee Bühler de Arcos ist Lehrerin in Freiburg. Mehr zum Global Food Garden: globalfoodgarden.de
Mehr zum Projekt [p3]: p3-werkstatt.de

Schokoladenweihnachtsmann. Symbolbild: Getty Images / AND-ONE / iStock / Getty Images Plus

Schokoweihnachtsmänner: Der harte Kampf um die Bohne

Der süße Vollmilch-Weihnachtsmann bekommt einen bitteren Beigeschmack, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen die Schokobohnen angebaut werden. Marie Gundlach berichtet, wie fairer Handel den Kakaobauern hilft.

Zartschmelzende Vollmilchschokolade – sie ist die Lieblingssorte der Deutschen. Bei einer Umfrage der Süßwarenindustrie zählte fast die Hälfte der Befragten sie zu ihren Favoriten. In der Hitliste folgen Nougat, Zartbitter und weiße Schokolade – und wir langen hierzulande gerne zu: Neunzig Tafeln verspeisen wir alle im Schnitt pro Jahr.

SCHON VOR 5000 JAHREN LECKER

Die wichtigste Zutat für eine gute Schokolade: der Kakao. Ursprünglich stammt die Pflanze aus Südamerika. In Ecuador fand man auf Keramikgefäßen aus Grabbeigaben 5300 Jahre alte Kakaorückstände. Die Bohnen wurden dort nicht nur zum Getränk verarbeitet, sondern auch wie Münzen verwendet. Heute wachsen Kakaopflanzen rund um den Äquator und die Bohnen für den weltweiten Schokoladenkonsum stammen überwiegend aus Westafrika.

Ihre Ernte ist nach wie vor Handarbeit: Die reifen Früchte müssen einzeln mit Messer oder Machete vom Baum geschlagen werden. Anschließend werden sie gespalten, die Bohnen mit ihrem weißen Fruchtfleisch herausgeschabt und ausgebreitet. Sie gären, werden braun und entwickeln dabei ihr Aroma.

Meist werden sie dann getrocknet und in Jutesäcken exportiert.

GENUSS MIT BITTERER NOTE

Obwohl in Ghana und an der Elfenbeinküste rund zwei Drittel des weltweiten Kakaos geerntet werden, leben die Kleinbauernfamilien überwiegend in Armut. Grund dafür ist vor allem die Struktur des Kakaoanbaus. Die Kleinbauern mit überschaubarem Landbesitz sind in einer schwachen Verhandlungsposition gegenüber den Großkonzernen aus Amerika und Europa. Die globalen Player diktieren den Kakaopreis – wer nicht mitzieht, bleibt auf seiner Ernte sitzen.

Auch sonst ist der Schokogenuss erheblich getrübt: Obwohl die Situation seit Langem bekannt ist, arbeiten noch immer rund 1,5 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen auf Kakaoplantagen in Westafrika, wie Zahlen der Universität Chicago belegen. Den Kindern wird dadurch nicht nur die Schulbildung und damit die Aussicht auf eine bessere Zukunft verwehrt, oftmals hantieren sie beispielsweise mit Macheten oder Pestiziden oder müssen schwere Lasten tragen. Das US-amerikanische Büro für internationale Arbeitsangelegenheiten stuft die Kakaoernte als eine der schlimmsten Arten von Kinderarbeit ein. Immer wieder werden Kinder hier auch Opfer von Menschenhändlern. Offiziell gehen die Regierungen in den Ländern zwar gegen diese Praktiken vor, in der Realität bleibt die Kinderarbeit aber oft ohne Folgen für die Verantwortlichen.

Neben den sozialen Aspekten leidet auch die Umwelt erheblich unter dem hohen Kakaokonsum der Weltbevölkerung. 1980 umfasste die jährliche Ernte noch 1,6 Millionen Tonnen, inzwischen hat sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Das bedeutet auch: Es braucht mehr Fläche für den Anbau. Dafür müssen vor allem Wälder weichen: In den Jahren 2001 bis 2014 hat Ghana etwa zehn Prozent seiner Waldfläche an die Landwirtschaft verloren – einen großen Teil davon für Kakao-Plantagen.

FAIRTRADE WÄCHST ERFREULICH

Andererseits geht es auf dem Schokoladenmarkt auch in eine erfreulich gute Richtung: Der Anteil von fair gehandeltem Kakao wächst jährlich und hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht. Gerade erst hat beispielsweise die belgische Marke Guylian den Kakao für ihre Pralinen in Form von Meeresfrüchten Fairtrade-zertifizieren lassen. Zwar ist bei 16 Prozent Marktanteil, den fair gehandelte Kakaobohnen auf dem Weltmarkt einnehmen, immer noch viel Luft nach oben, aber das Bewusstsein der Schokofans wächst und immer neue faire Sorten mit hippem Image und Design mischen den Markt auf.

Nelson Cruz ist Landwirt im westafrikanischen Inselstaat São Tomé, einem der ärmsten Länder weltweit. Auf seinem Feld baut er Kakaofrüchte an, die er als Mitglied einer Genossenschaft und zu Bedingungen des fairen Handels vermarktet. „Der Faire Handel hat das Leben der Menschen hier sehr verändert“, sagt Nelson Cruz. Früher war der Kakao-Anbau auf São Tomé verstaatlicht. Deshalb waren viele Menschen nur Feldarbeiter. Seit der Landreform vor rund dreißig Jahren sind sie nun Kleinbauern mit eigenem Landbesitz. Auf São Tomé haben sie sich 2009 zur CECAQ-11-Genossenschaft zusammengetan, um durch den Fairen Handel bessere Preise zu erzielen.

PERSPEKTIVE AUF BESSERUNG

„Wenn der faire Handel kommt, wandelt sich die Welt natürlich nicht gleich von schwarz in rosa. Die Lebensumstände sind noch sehr schwierig. Aber es gibt jetzt Perspektiven, dass es besser wird“, sagt Stephan Beck, Kakao-Experte der fairen Handelsorganisation GEPA. Seit 2010 arbeitet GEPA mit der Genossenschaft zusammen und hat sie auch bei Qualitätssteigerung und der Bio-Zertifizierung unterstützt: Auf Chemikalien wird verzichtet, die Wasser-Qualität wurde verbessert, Bäume wurden für eine bessere Ernte beschnitten und die Plantage durch neue Anpflanzungen verjüngt.

Für Nelson Cruz und seine über tausend Mitstreitenden in der Genossenschaft hat sich der Kakaopreis wesentlich verbessert, es wird mehr produziert und ohne Chemikalien fallen im Bio-Anbau gesundheitliche Probleme weg. Außerdem werden hier auf São Tomé die Bohnen gleich zu Bio-Trockenkakao weiterverarbeitet, was zu einem nochmals höheren Erlös führt. Der ermöglicht Bauern und Bäuerinnen all das, was für uns selbstverständlich ist: Sie können ihre Kinder zur Schule schicken, bekommen medizinische Versorgung und haben die Chance, Geld zurückzulegen.

SIEGEL: BEGLAUBIGTE FAIRNESS

Die positiven Beispiele des fairen Handels verdecken jedoch nicht das Unrecht, das weiterhin im Schokoladenhandel herrscht. Pro Euro, den eine Schokoladentafel bei uns kostet, erhalten die Erzeugerfamilien gerade einmal sechs Cent, wie das INKOTA-netzwerk vorrechnet. Der Verein setzt sich mit seiner Kampagne „Make chocolate fair!“ für ein menschenwürdiges Einkommen im Kakaohandel ein. Aus gutem Grund: Allein die fünf Konzerne Mars, Mondelēz, Nestlé, Ferrero und Hershey’s kontrollieren zusammen rund 60 Prozent des globalen Schokoladenmarktes. Auf der anderen Seite lebt die Mehrheit der 5,5 Millionen Kakaobäuerinnen und -bauern mit umgerechnet 191 US-Dollar durchschnittlichem Jahreseinkommen unterhalb der Armutsgrenze.

Selbst die Preise, die durch Fairhandels-Siegel zugesichert werden, reichten häufig nicht für ein menschenwürdiges Einkommen, kritisiert INKOTA. Dabei sollen sie eigentlich genau dafür stehen.

Damit ich als Verbraucherin besser beurteilen kann, wie die Tafel produziert wurde, verleihen unabhängige Organisationen Zertifikate für bestimmte Kriterien. Soziale Siegel zertifizieren bestimmte Arbeitsbedingungen, ökologische Siegel belegen einen umweltschonenden Anbau und Klima-Siegel stehen etwa für weniger Emissionen bei Transport und Verpackung. Kein Siegel kann alle Bereiche abdecken und so ist es nur logisch, dass viele Schokoladenproduzenten auf eine Kombination aus verschiedenen Siegeln setzen.

BREITERE VERFÜGBARKEIT

Zu den bekanntesten Zertifikaten zählt das Fairtrade-Siegel. Bei den stark schwankenden Weltmarktpreisen garantiert es einen Mindestpreis pro Tonne Kakao. Außerdem gibt es Prämien für Projekte in den Anbauländern und für die Produzenten direkt. Im Gegenzug müssen die Bauern und Bäuerinnen arbeitsrechtliche und ökologische Standards einhalten. Auch wenn die Höhe der Mindestpreise in der Kritik steht, spricht für dieses Siegel ein großes Plus: Mit vielen Produkten in Supermärkten und Discountern hat es ein breites Bewusstsein für das Anliegen des fairen Handels geschaffen und Produkte auf breiter Basis verfügbar gemacht.

Während es vor allem Erzeugnisse von Kleinbauernfamilien zertifiziert, können das Siegel der Rainforest Alliance (zu der nun auch UTZ gehört) auch große Plantagen erlangen. Es verspricht keinen Mindestpreis pro Tonne, sondern setzt vor allem auf Fortbildung in den Erzeugerländern, um Qualitätsverbesserung und dadurch ein höheres Einkommen zu erzielen. Ohne Mindestpreise garantiert dieses Siegel den Bauern und Bäuerinnen aber keinerlei Absicherung, wenn der Weltmarktpreis fällt. Aufgrund der laxeren Kriterien wird dem Siegel Greenwashing vorgeworfen. Es mag besser sein als gar nichts, ist aber schon dem Fairtrade-Siegel deutlich unterlegen

HÖHERE STANDARDS

Noch anspruchsvoller ist die GEPA, die aus dem Anliegen eines fairen Handels gegründet wurde und zu deren Unternehmensphilosophie weitaus höhere Standards als beim Fairtrade-Siegel gehören. Sie steht für enge Beziehungen zu ihren Partnern und Partnerinnen im Globalen Süden. Gerade erst hat sie ihren Mindestpreis erhöht und im vergangenen Jahr 52,5 Prozent über dem durchschnittlichen Weltmarktpreis bezahlt. Aber auch junge Marken wie Tony’s Chocolonely oder Nucao setzen bewusst auf die Nachhaltigkeit ihrer Produkte. Das Start-Up Fairafric hat einen ganz eigenen Ansatz gewählt: Während andere Firmen den Kakao importieren und in Europa weiterverarbeiten, produziert Fairafric seine Bio-Schokolade komplett in Ghana. Dadurch bleibt mehr Wertschöpfung im Land und Arbeitsplätze werden geschaffen.

Neben den Siegeln betreiben einige Schokoladenproduzenten auch eigene Initiativen. Ritter Sport etwa hat in Nicaragua eine eigene Plantage aufgebaut, um direkten Bezug zu den Angestellten und Einfluss auf Arbeitsbedingungen und Qualität zu haben. Laut Unternehmensangaben ist die Plantage als Mischkultur angelegt, um Biodiversität zu fördern und den Einsatz von Pestiziden zu verringern. Der Nachteil

Denen, die auf der Farm arbeiten, gehört kein eigenes Land, für das sie verantwortlich sind, sondern sie sind von Ritter Sport abhängig. Je nachdem wie das Unternehmen agiert, kann das ein Vor- oder Nachteil sein.

Auch andere Firmen haben ihre eigenen Projekte und Förderprogramme. Ohne Siegel werden diese allerdings nicht unabhängig überprüft. Als Kundin bin ich also auf die Angaben des Unternehmens angewiesen – und deren PR-Abteilung kann im Zweifel viel erzählen.

Der Wunsch nach ethisch und ökologisch produzierter Schokolade sei in den letzten 20 Jahren in Europa gewachsen, ist Gerrit Wiezoreck, Geschäftsführer des Bio-Schokoladenunternehmens EcoFinia überzeugt: “Der generelle Trend zur Nachhaltigkeit in Europa führt dazu, dass in den letzten fünf Jahren auch immer mehr konventionelle Hersteller und Discount-Marken mehr Fairtrade- und Bio-Schokolade rausbringen. Das ist erstmal eine sehr positive Entwicklung.”

PROTEST DER OSTERHASEN

Mit den individuellen Kaufentscheidungen für teurere, weil zu faireren Preisen produzierte Schokolade allein ist es jedoch nicht getan: Es müsse sich auch weltpolitisch einiges ändern, fordert INKOTA. Dass der Bundestag im Jahr 2021 ein Lieferkettengesetz beschlossen hat, ist ein guter Anfang. So sind die Unternehmen ab 2023 dafür verantwortlich, Menschenrechtsverletzungen in ihrer Lieferkette zu analysieren und zu bekämpfen. Allerdings greift das Gesetz vielen noch nicht weit genug. Wer von Menschenrechtsverletzungen betroffen ist, kann noch nicht vor deutschen Gerichten dagegen klagen, bemängelt INKOTA zum Beispiel. Das wäre aber wichtig, um das Gesetz auch wirklich konsequent durchzusetzen. Die marktbeherrschenden Konzerne müssen stärker in die Pflicht genommen werden.

In Ghana und an der Elfenbeinküste sorgt INKOTA schon dafür, dass sich Kakaobauern und -bäuerinnen vernetzen, Informationen weitergeben und dadurch ihre Verhandlungsbasis gegenüber den Konzernen stärken. Zu Ostern hat das Netzwerk eine Aktion organisiert, bei der Engagierte aus über 30 Gruppen als Osterhasen verkleidet mit Protest-Schildern durch Fußgängerzonen zogen. Passanten und Passantinnen sollten erfahren, wie viel Armut und Kinderarbeit in konventioneller Schokolade steckt. Zudem wurden Postkarten verteilt, die an die Unternehmen geschickt werden konnten. Die Vorlage für eine digitale Postkarte steht auf der INKOTA-Webseite zur Verfügung.

Ich finde, gerade bei einem Genussmittel wie Schokolade zählt Klasse statt Masse. Mir Billig-Schokolade auf der Zunge zergehen zu lassen, während ich weiß, dass womöglich Kinder dafür schuften mussten und die westafrikanischen Kleinbauernfamilien in Armut leben, klingt für mich einfach falsch. Existenzsichernde Löhne sind nicht alles, aber mit existenzsichernden Löhnen fängt alles an – damit in Zukunft das einzig Bittere am Kakao sein Geschmack ist.

Marie Gundlach studiert Datenjournalismus und hat während der Recherche eine neue Lieblingsschokolade entdeckt.

 

Familie sortiert Müll zum recyclen. Symbolbild: Getty Images / ArtMarie / Getty Images / E+

Bio-Siegel im Plastikbecher? Wie eine Familie versucht, nachhaltig zu leben

Alles fing mit dem Müll an: Annika berichtet, wie sie mit ihrer fünfköpfigen Familie begann, nachhaltig zu leben und dass ihre Kinder auswärts trotzdem eine Bratwurst essen dürfen.

Jeden Monat, wenn ich unsere vollen gelben Säcke an die Straße stelle, muss ich an eine gute Freundin denken, die mir eigentlich sehr ähnlich ist. Was uns unterscheidet: die Menge des Verpackungsmülls, den unsere Familien im Laufe von vier Wochen produzieren. Während ich drei pralle Säcke – geschickt geschichtet – über den Hof trage, ist es bei ihr ein einziger. Bewundernswert! Würden wir den Inhalt unserer Säcke vergleichen, könnten wir lange über Kaufentscheidungen und Kompromisse, Überzeugungen und Ausnahmen philosophieren.

Woran misst sich ein erfolgreich nachhaltiges Leben? Sicher nicht allein an der Menge des Plastikmülls. Aber mit der Müllfrage begann unser eigener Weg als fünfköpfige Familie. Mein Mann erzählte eines Tages von einer Frau, die doch tatsächlich nur ein Schraubglas Restmüll pro Jahr produziere. Das konnte doch wohl nicht mit rechten Dingen zugehen? Doch tatsächlich: Es gab schon eine weltweite Zero-Waste-Bewegung. Davon angefixt begannen wir, unsere Küche mit kritischen Augen zu betrachten: so viel unschönes Plastik, das aus Erdöl besteht, Giftstoffe enthält und erst in Hunderten Jahren verrottet! Unser Ehrgeiz war geweckt.

Was kann man eigentlich in Großpackungen kaufen oder gleich unverpackt? Die Realität brachte ernüchternde Erkenntnisse mit sich: Krass, wie teuer Unverpacktläden sind! Wir probierten ein paar der Tausenden Rezepte und DIY-Ideen für selbstgemachtes Waschmittel aus – und hatten immer noch dreckige Kleidung. Doch wir verzeichneten auch Erfolge: Feste Seife gibt’s nun nicht mehr nur bei Oma auf dem Klo, die funktioniert auch bei uns. Brötchen bekommt man im eigenen Stoffbeutel ausgehändigt, wenn man lieb fragt. Den kaputten Fön kann man sogar reparieren, der muss gar nicht weg.

IMMER MEHR FRAGEN

Einmal angefangen, ließen sich die Fragen gar nicht abstellen: Gibt es auch Leuchtstoffröhren mit LED? (Ja!) Wollen wir, dass für unser Schnitzel der Regenwald abgeholzt wird? (Nein!) Brauche ich wirklich dieses neue Oberteil? (Dieses nicht, ich suche lieber eins bei Ebay-Kleinanzeigen.)

Wo investiert meine Bank eigentlich ihr Geld? (Das muss ich mal recherchieren.) Nützt es, Petitionen zu unterschreiben, Dinge gebraucht zu kaufen – und wie minimalistisch kann man mit Kindern leben? (Wenn wir es nicht ausprobieren, werden wir es wohl nie erfahren …).

Mit einem Reigen solcher Fragen begann unser Weg, den wir bis heute gemeinsam überzeugt und neugierig gehen. Zugegeben: Zwischendurch verlieren wir immer mal wieder den Glauben daran, irgendwas ausrichten zu können. Aber inzwischen wissen wir: Das geht vielen anderen genauso und gehört wohl zu diesem Weg dazu.

MEIST GEBRAUCHT, SELTEN NEU

Mittlerweile kaufen wir eigentlich (fast) alles gebraucht. Aus ökologischen wie finanziellen Gründen. Wenn unsere Jungs Wünsche haben, schlagen sie schon von sich aus vor, wir könnten doch mal nach einer Ebay-Anzeige gucken. Unsere Kinder sind in einem Alter, in dem sie noch dankbar anziehen, was der Postbote ihnen von unseren Gebraucht-Käufen so bringt. Die Auswahl an passenden, bezahlbaren und gleichzeitig modischen Stücken ist schier riesig. Bei uns selbst sieht das schon anders aus. Die größte Herausforderung sind da gut sitzende Hosen. Ich kenne inzwischen die Markenjeans in der richtigen Größe, die mir passen und die ich gebraucht finde. Für meinen Mann sind gebrauchte Hosen eher ein Glücksspiel, sodass er gern mit dem Argument um die Ecke kam, man müsse doch auch die hippen nachhaltigen Modelabel unterstützen. Aber als wir feststellten, dass man für deren Jeans dreistellige Beträge ausgeben muss, winkten wir ab.

Manchmal entscheiden wir uns auch für neue Stücke. Fürs dritte Kind gabs doch nochmal einen neuen Autositz – der kann schließlich in der Familie noch weitergegeben werden. Einen Buggy haben wir gleich mitgenommen – toll, wie klein man ihn zusammenklappen kann. Nochmal die Stoffwindeln rausholen? War uns inzwischen viel zu stressig. Als wir dringend mal wieder tiefe Teller brauchten, schien sich der Kleinanzeigenmarkt auf entrümpelte Waren aus Seniorenwohnungen konzentriert zu haben. Und mein Mann – Herr unserer Küche – möchte sich bei Küchenmaschine, Pfanne und Co. gerne auf die Herstellergarantie verlassen.

Und damit sind wir schon beim Einkaufsdilemma. Hier kann jeder ein Wörtchen mitreden, der schonmal mit einer Einkaufsliste einen Supermarkt betreten hat. Deutsche Äpfel aus dem Kühlhaus oder die aus Neuseeland? Bio-Gurke eingeschweißt oder konventionell unverpackt? Joghurt im Pfandglas oder Bio-Qualität im Becher? Konsumfragen für Fortgeschrittene: Ist beim Pflanzendrink die Verpackung egal, weil für ihn weniger CO2 produziert wird als für Kuhmilch? Wie regional muss meine Glaspfandflasche wiederbefüllt werden, um klimaneutral zu sein? Welches Bio-Siegel unterstützt zugleich kleinbäuerliche Strukturen?

Ich glaube, es gibt kein Richtig oder Falsch, sondern allenfalls ein Besser oder Für-heute-gut-genug. Wichtig ist uns in all dem zu fragen: Welche Ziele verfolgen wir? Was passt zu uns als Familie, zu unseren Möglichkeiten, zu unserer Zeit, zu unserem Geldbeutel? Wo machen wir (noch) Abstriche und was könnte ein nächster Schritt sein?

KINDER MIT INS BOOT HOLEN

Regelmäßig packt mein Mann dann also nach dem Einkaufen alle gut durchdachten Kaufentscheidungen in unseren alten Verbrenner und fährt den einen Kilometer nach Hause. Ja, den Fahrradanhänger hätte er auch nehmen können. Dann hätten wir aber die Babyschale ausbauen müssen und es war außerdem schon spät und … da sind sie dann, die Anmerkungen unseres ökologischen Gewissens. So sehr wir uns bemühen, der perfekte Lebensstil liegt in weiter Ferne. Neulich haben wir mit unserer Großfamilie ein Wochenende im Allgäu verbracht, weniger als drei Stunden entfernt. Wir hatten eine wunderschöne Zeit und fragten die Jungs auf der Heimfahrt, wie sie den Urlaub fanden. „Nicht so gut“, antwortete der Fünfjährige, „weil so viel Autofahren die Erde kaputt macht.“ Ups.

Wir bemühen uns, so wenig Auto zu fahren wie möglich, aber nach wie vor besitzen wir eins. Die täglichen Fahrten zur Arbeit, in die Schule und zum Kindergarten erledigen wir mit dem Rad. Die drei Kilometer Schulweg legt unser Großer ebenfalls mit seinem neuen Rad zurück. Ein gebrauchtes wäre billiger gewesen. Die Entscheidung fiel dann aber nicht nur wegen des geringen Angebots auf ein Neues, sondern vor allem, weil es möglichst leicht und genau passend für ihn sein sollte. Wir finden: Wenn die Kinder unsere Mobilitätsentscheidungen gerne mittragen sollen, müssen wir es ihnen auch leicht machen. So fördern wir nicht nur das Verständnis für ökologische Zusammenhänge und die Folgen unserer Entscheidungen, sondern erhoffen uns auch langfristige Nachahmer. Für alle Bereiche unseres Familienalltags gilt: Wir müssen unsere Kinder mit ins Boot holen.

WAS AUF DEM TELLER LANDET

Das gilt im Besonderen auch für unsere Ernährungsform. Wir bezeichnen uns als „Heimveganer“. Wo wir die Möglichkeiten haben, selbst zu bestimmen, essen wir aus Klimaschutz- und Tierwohlgründen vegan. Das hat sich zunächst sehr revolutionär angefühlt und wir haben viel Zeit damit verbracht, über Nährstoffe und Rezeptideen zu sprechen. Ein Jahr später muss ich wirklich nachdenken, was ich überhaupt noch mit Fleisch zubereiten würde. Skeptischen Lesern und Leserinnen kann ich versichern, dass alle unsere Blutwerte passen und unsere Kinderärztin Bescheid weiß. Unsere Kinder verstehen, warum wir daheim vegan essen und können gute Gründe dafür aufzählen. Oft sind sie auch stolz darauf. Aber bei Oma wünschen sie sich immer die Pfannkuchen mit ganz viel Ei und wenn wir zum Grillen eingeladen sind, ziehen die Würstchen sie magisch an. Die Nachbarinnen versorgen sie regelmäßig mit Vollmilchschokolade und wenn sie unbedingt Scheibenkäse essen wollen, kaufen wir ihnen ein veganes Ersatzprodukt, das wir sonst nicht im Haus hätten. Wir müssen nicht vollkommen leben und lieber besuchen wir Freunde, die für uns vegetarisch kochen, als dass wir nicht eingeladen werden. Wir werden mit unserem klimabewussten Familienleben nicht die Welt retten und es gibt Entscheidungen, die treffen wir bewusst nicht nachhaltig, denn Nachhaltigkeit soll nicht unsere Religion sein.

CRISTLICHER GLAUBE ALS ANTRIEB

Würde Jesus heute vegan leben? Bei Klimakrise und Artensterben? Das ist eine spannende Frage, die wir uns nicht zu beantworten trauen. Vielleicht würde er auch heute die Fische essen, die er selbst gefangen hat – so wie damals? Wer weiß? Unsere Entscheidungen auf dem Weg in möglichst große Nachhaltigkeit sind zumindest immer auch von unserem Glauben motiviert. Als Christen möchten wir unser Handeln nach biblischen Grundsätzen ausrichten. Die Bibel berichtet davon, dass Gott, direkt nachdem er Adam und Eva in den Garten Eden gesetzt hat, sie segnet und ihnen den Auftrag gibt, die Schöpfung zu bewahren. Leider sehe ich nur in wenigen christlichen Gemeinden, dass das Thema wirklich auf der Agenda steht. Sollten Christen hier nicht eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen? Warum stehen Christen nicht in der ersten Reihe, wenn es um aktiven Klimaschutz geht? Wir als Familie fühlen uns durch all unsere Erfahrungen und hinzugewonnenen Erkenntnisse der letzten Jahre dazu berufen, unsere Verantwortung wahrzunehmen und Gottes wunderbare Schöpfung zu bewahren. Wir glauben, dass sich Gott auf vielerlei Weise bemerkbar macht. Die Art und Weise, wie wir auch unsere alltäglichen Entscheidungen treffen, soll unsere Wertschätzung gegenüber Gottes Fürsorge widerspiegeln.

Wo der Weg hingeht und welche Aufgaben uns – auch in unseren Berufen als Erzieher und Lehrerin – noch mitgegeben werden, wissen wir nicht. Wir sind zumindest schonmal einer Partei beigetreten und versuchen, unsere Kommune in dieser Hinsicht mitzugestalten. Und wenn wir wegen der Auswirkungen der Klimakrise mal wieder sehr niedergeschlagen sind, sehnen wir uns nach der perfekten Erde, die in der Bibel versprochen wird. Das schenkt uns Hoffnung und immer wieder die Zuversicht, dass die kleinen Schritte, die wir tun, nicht vergeblich sind.

Annika S. ist Grundschullehrerin. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.

Larissa McMahon; Foto: Privat

Nachhaltigkeit: JA – Perfektionismus: NEIN! Warum es sich lohnt, dennoch damit anzufangen

Influencerin Larissa McMahon hat sich entschieden, nachhaltig zu leben. Sie berichtet von dem Leistungsdruck und warum sie sich entschieden hat, nicht perfekt sein zu müssen.

Ich bin seit über 14 Jahren auf Social Media aktiv. Ich habe jede Plattform ausprobiert: Facebook, YouTube, Podcast, Blog und Instagram. In den letzten Jahren habe ich mich verstärkt auf Instagram konzentriert und bin nun seit einigen Monaten als Influencerin selbstständig.

Dabei haben sich meine Inhalte immer mit mir verändert. Angefangen hat alles mit Mode und Kosmetik. Heute dreht es sich um Minimalismus, Achtsamkeit und Nachhaltigkeit. Ich habe also eine große Veränderung durchgemacht. Dabei war es mir immer wichtig, meine Followerinnen und Follower mit an die Hand zu nehmen. Vor allem als ich feststellte, wie viel das Thema Nachhaltigkeit auch mit meinem christlichen Glauben zu tun hat, brannte mir das Thema noch mehr auf dem Herzen.

So nachhaltig wie möglich

Meine Inhalte zeigen also konkret, was ich in meinem Leben verändere. Dass ich Naturkosmetik benutze, im Unverpacktladen einkaufe, meine Kleidung auf 33 Teile beschränke oder hauptsächlich vegan koche. Ich rufe dazu auf, das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen. Ich setze mich für Naturschutz ein und erkläre, warum es wichtig ist, achtsam und bewusst zu leben. Das mache ich nun schon einige Jahre. Am Anfang meiner Reise in ein nachhaltiges Leben hat mir das viel Spaß gemacht. Denn ich habe selbst alles ausprobieren müssen und meine Alternativen gesucht. Heute bin ich, was das Thema Nachhaltigkeit angeht, schon sehr weit und habe vieles verändert.

Aber da ist ja noch das Internet, die Öffentlichkeit. Meine Inhalte sind für jeden zugänglich. Das heißt: Ich setze mich jeden Tag mit der Meinung fremder Menschen auseinander. Mein Postfach ist wie eine Wundertüte: Ich weiß nie, was ich bekomme. Nachrichten und Kommentare lassen mich nicht unberührt. Außerdem sehe ich mich selbst in großer Verantwortung, was meine Inhalte angeht. Ich halte nicht alles in die Kamera. Es muss so nachhaltig wie möglich sein.

Perfekt sein müssen

Dieser Gedanke hat sich irgendwann in meinem Kopf festgesetzt. Es muss so nachhaltig wie möglich sein. Ich habe bestimmte Dinge irgendwann nicht mehr gezeigt. Ich habe immer nur meine Seite des Frühstückstisches fotografiert. Die Seite, auf der keine Eier oder Schinken stehen. Ich habe nicht den Wocheneinkauf von Aldi gezeigt, oder dass ich dieses Jahr drei Teile bei H&M bestellt habe, obwohl ich mich aktiv für faire Mode ausspreche. Ich habe mich dafür geschämt und mich schlichtweg nicht getraut. Der Druck, den ich verspürt habe, war unfassbar groß. Dabei war es nicht nur Druck von außen, sondern auch Druck von innen. Ich hatte das Gefühl, perfekt sein zu müssen, um keinen Raum für Konfrontation zu bieten. Denn die habe ich schon bei so vielen anderen gesehen.

Greta Thunberg zum Beispiel bekam einen Shitstorm ab, weil ihr Toastbrot in Plastik verpackt war. Ich habe mal sehr lange mit einer Followerin diskutiert, weil ich Tomaten esse. Ich hatte eine unverpackte Bio-Tomate auf meinem Teller. Aber die Followerin warf mir vor, für meine Tomaten würden Sklaven arbeiten. Ich fragte sie damals, ob sie selbst denn komplett auf Tomaten verzichten würde. Ihre Antwort: Nein. Hinzukommt: Während ich mich damit befassen muss, dass meine unverpackte Bio-Tomate nicht nachhaltig genug ist, werden in anderen Ecken des Internets Influencer für Videos gefeiert, in denen sie zeigen, dass sie für zweitausend Euro Kleidung bei dem Super-Fast-Fashion-Konzern Shein gekauft haben. Andere werden dafür bewundert, dass sie mehrmals im Jahr nach Dubai fliegen, während ich mich dafür rechtfertigen muss, warum ich in meinem ausgebauten Van durch die Gegend fahre, um fliegen zu vermeiden. Es fällt mir sehr schwer, das zu verstehen.

Druck rausnehmen – Schubladendenken überwinden

An Menschen, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen, werden Absolutheitsansprüche gestellt, die niemand erfüllen kann. Ich habe mich selbst gelabelt und in die Schublade Nachhaltigkeit gepackt. Sie wurde mir am Ende zu eng. Sie hat sich zu klein und unbequem angefühlt. Deswegen habe ich vor ein paar Wochen die Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Green“ aus meiner Profilbeschreibung gelöscht. Weil ich im Unverpacktladen einkaufe, für meinen Wocheneinkauf aber zu Aldi gehe. Weil mir Fair Fashion wichtig ist, ich dieses Jahr aber drei Teile bei H&M bestellt habe. Weil ich vegan bevorzuge und trotzdem manchmal vegetarisch esse. Weil ich mir selbst den Druck nehmen möchte.

Kleine Erfolge feiern

Ich möchte aus der Schublade Nachhaltigkeit raus und wieder Platz zum Atmen haben. Platz für Fehler. Platz zum Wachsen. Platz, um ich selbst zu sein. Ich möchte die kleinen Erfolge feiern, jeden Schritt Richtung Nachhaltigkeit mit einer Konfettikanone zelebrieren. Aus dem Du und Ich auf Social Media möchte ich wieder ein Wir machen. Denn wir müssen verstehen, dass jeder Mensch an einem anderen Punkt in seinem Leben steht. Dass wir unsere Ansprüche und Erwartungen nicht wie eine Blaupause auf andere übertragen können. Das ist nicht fair. Wir sollten mehr bei uns bleiben, statt auf andere zu schauen. Was können wir verändern, was macht uns Spaß, wo können wir motivieren und inspirieren? Das ist mein Plan für die Zukunft. Wieder mehr ich sein. Mit all meinen Ecken und Kanten. Mit all meinen Fragen und Zweifeln. Mit all meinen Erfolgen und Misserfolgen.

Larissa McMahon arbeitet als Social Media-Managerin, Texterin und Sinnfluencerin unter @larytales

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Eigentlich müsste niemand hungern

Ein Drittel unserer Lebensmittel landet im Müll. Almut Völkner erklärt, was das bedeutet und was wir dagegen tun können.

Wäre das nicht absurd? Wir backen einen leckeren Kuchen. Dann lösen wir ihn aus der Form und dritteln ihn. Ein Drittel des Kuchens packen wir auf einen schönen Teller. Damit gehen wir aber nicht zur Nachbarin und auch nicht zu Freunden. Nein, wir gehen damit zur Mülltonne und schmeißen ihn weg.

Zwei Milliarden mehr ernähren

Mir tut diese Vorstellung weh. Doch laut Welternährungsorganisation passiert genau das im übertragenen Sinne tagtäglich: Ein Drittel aller Lebensmittel weltweit landet im Müll. Bei einem Kuchen können wir uns ein Drittel gerade noch vorstellen. Doch denkt man globaler, kommt man schnell auf unfassbare Zahlen, die in vielen Ländern Schätzungen bleiben müssen, weil Daten fehlen. Doch in Deutschland musste das Bundesregierung die Zahlen gerade an die EU-Kommission melden: 10,92 Millionen Tonnen sind 2020 allein in Deutschland auf dem Müll gelandet. 10.920.000 Tonnen. Das sind 10.920.000.000 Kilogramm. In der Schweiz sind es Laut ETH Zürich 2.800.000.000 Kilogramm. Und all das sind eindeutig zu viele Nullen.

Mich machen diese Zahlen absolut fassungslos. Ich wusste, dass viele Lebensmittel weggeworfen werden. Aber wie enorm hoch diese Zahlen sind, das weiß ich erst seit Kurzem. Lebensmittelverschwendung ist ein ethisches Problem. Das würden viele so sehen. Aber wie absurd es ist, zeigt sich, wenn man einen Blick auf wichtige Zahlen wirft: Von 7,9 Milliarden Menschen auf der Erde haben laut Welthunger-Index 2021 über 800 Millionen nicht genug zu essen. Mehr als jeder zehnte Mensch auf diesem Planeten leidet Hunger. Während wir Lebensmittel wegschmeißen. Genau genommen könnten wir laut Welternährungsorganisation sogar zwei Milliarden Menschen mehr ernähren, wenn Lebensmittel, die noch genießbar sind, nicht weggeworfen würden. Denn wie wir alle gerade erst am Beispiel von Weizen und Sonnenblumenöl vorgeführt bekommen haben, gehören auch Lebensmittel zum globalen Welthandel. Je mehr wir verschwenden und damit verbrauchen, desto höher die Nachfrage und die globalen Preise.

Einsparpotenzial: Ein Sechstel der Fläche

Neben den skandalösen Hunger-Zahlen sind auch die vergeudeten Ressourcen ein Problem. Denn für die Lebensmittel, die in Landwirtschaft und Industrie, im Handel, in Restaurants und in privaten Haushalten weggeworfen werden, wurden jede Menge Wasser, Energie und ganze Hektare an Land verbraucht. Laut einer Studie des WWF Deutschland könnte durch vermeidbare Lebensmittelverluste eine Fläche von über 2,6 Millionen Hektar eingespart werden – fast 15 Prozent der gesamten Fläche, die wir in Deutschland für unsere Ernährung benötigen. Auch das Klima wird zusätzlich belastet. Schätzungen zufolge entstehen acht bis zehn Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen für Nahrungsmittel, die nie gegessen werden. Im „Food Waste Report 2021“ erklärt das Umweltprogramm der Vereinten Nationen: „Wenn der Verlust und die Verschwendung von Lebensmitteln ein Land wären, wären sie die drittgrößte Quelle von Treibhausgas-Emissionen.“

Die deutsche Bundesregierung will mit einer „Nationalen Strategie gegen Lebensmittelverschwendung“ gegen das Problem vorgehen. Die Wertschätzung für Nahrungsmittel soll in der gesamten Kette von Ernte über Verarbeitung und Handel bis zu Privatpersonen und Gastronomie geschärft werden. In der Schweiz hat der Bundesrat gerade im April einen Aktionsplan verabschiedet mit dem Ziel, die Verschwendung bis 2030 gegenüber 2017 zu halbieren.

Private Haushalte verursachen besonders viel Biomüll

Einer, der ganz dringenden Handlungsbedarf sieht, ist der Nürnberger Jesuit Jörg Alt. Im Dezember 2021 hat er sich einer Aktion zum sogenannten „Containern“ angeschlossen. Dabei werden aus den Müllkübeln von Supermärkten noch genießbare Lebensmittel geholt, um sie zu verwerten und vor der Vernichtung zu retten. Juristisch ist das Diebstahl, weil auch der Müll den Supermärkten gehört. Um auf die Sache aufmerksam zu machen, hat Pater Alt nach seiner Container-Aktion Anzeige gegen sich selbst erstattet und damit medial einige Öffentlichkeit erregt.

So weit muss vielleicht nicht jeder gehen. Aber dass alle einen Beitrag leisten können, zeigen die Zahlen: Denn 59 Prozent der 10,92 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle fielen in privaten Haushalten an. Abfälle, für die wir übrigens natürlich auch bezahlt haben. Ein Großteil davon waren Obst und Gemüse, gefolgt von Backwaren, Getränken und Milchprodukten, aber auch fertig zubereitete Mahlzeiten landen regelmäßig im Müll. Insgesamt produzieren wir im Schnitt somit 78 Kilo Lebensmittelabfälle pro Kopf und Jahr.

Deshalb will ich mir die Frage gefallen lassen: Was kann ich selbst dafür tun, um Lebensmittel wertzuschätzen und weniger wegzuschmeißen?

Das kann ich tun

Die Grundregeln: Einkäufe gut planen, einen Einkaufszettel erstellen, einen Überblick über die Vorräte behalten, nicht zu Spontankäufen oder Großpackungen verlocken lassen, sondern nur das in den Einkaufskorb legen, was wirklich gebraucht wird. Die richtige Lagerung hilft, dass Lebensmittel nicht verderben, sondern möglichst lange halten. Bei abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum nicht sofort ans Wegwerfen denken, sondern genau hingucken, dran riechen, probieren.

Als Familie starteten wir vor einigen Jahren das Experiment „ewiger Speiseplan“: Dafür haben wir Mahlzeiten für zwölf, später für 16 Wochen festgelegt, deren Reihenfolge sich dann immer wiederholt. So lässt sich der Wocheneinkauf gut planen. Frische Zutaten kaufen wir am Tag davor dazu. Mittlerweile kenne ich fast alle Rezepte auswendig und weiß genau, was wir benötigen, sodass kaum Reste übrigbleiben. Weiterer Vorteil: Das ewige Nachdenken, was man heute kochen könnte, entfällt. Flexibilität erhalten wir uns durch Wunsch- und Saisontage.

Und sollte doch mal etwas übrigbleiben vom Mittagessen, schaue ich gern auf der Website Restegourmet.de nach, auf der man Rezepte nach den Zutaten suchen kann, die man aufbrauchen möchte. Auch bei Frag-Mutti.de finden sich viele alltagstaugliche Rezepte zur Resteverwertung. Ähnlich funktioniert die App von „Eat Smarter“.

Seit einer Weile sind wir zudem Fans der App „To Good To Go“. Bäckereien und Läden bieten dort zu günstigen Preisen meist Backwaren und frische Produkte an, die sonst weggeworfen werden würden.

Wer noch engagierter ist, kann sich bei Foodsharing.de registrieren. Privatpersonen holen hier bei Betrieben, die mitmachen, Lebensmittel ab und geben sie an andere weiter, oft zu festen Zeiten, an festen Orten, sogenannten Fairteilern. Bei allen guten Ideen: Vor allem hilft das Bewusstsein, dass Lebensmittel etwas Wertvolles sind. Dass für ihre Herstellung sehr viele Ressourcen gebraucht und verbraucht werden und wir einen großen Beitrag dazu leisten können, Lebensmittelverschwendung einzudämmen.

Almut Völkner schreibt unter almut-wortkunst.de

Schon abgelaufen – trodem genießbar?

Dran schnuppern und probieren sollte man immer, aber die meisten Lebensmittel in unbeschädigten Verpackungen sind auch über das Haltbarkeitsdatum hinaus noch gut.

Sehr viel länger haltbar:
Salz, Zucker, Marmelade, Honig, Konserven, trockene Hülsenfrüchte, Senf, eingeschweißter Kaffee und Kakao

Meistens länger haltbar:
Nudeln, Mehl, Süßwaren, Knabberkram, Eis, Eingemachtes, Reis, H-Milch

Sorgfältig prüfen:
Milchprodukte, Säfte

Extrem kritisch sein:
Fleisch, Wurst, Fisch, Nüsse

7 Tipps gegen Food Waste

• Einkäufe planen
• Vorräte vorher checken
• An den Einkaufszettel halten
• Spontankäufe und unnötige Großpackungen meiden
• Lebensmittel richtig lagern
• Abgelaufenes nicht automatisch wegwerfen, sondern auf Genießbarkeit prüfen
• Rezepte finden, um Reste zu verwerten

Lebensmittelabfälle

10,92 Mio. Tonnen pro Jahr in Deutschland

59 % private Haushalte
17 % Gastronomie
15 % Lebensmittelverarbeitung
7 % Handel
2 % Landwirtschaft

(Quelle: Statistisches Bundesamt)

Vermeidbare Lebensmittelverschwendung in privaten Haushalten

4,0 % Fleisch & Fisch

6,9 % Sonstiges

5,9 % Fertigprodukte

8,9% Milchprodukte

11,9% Getränke

14,9 % Zubereitetes

12,9 % Backwaren

34,7 % Obst & Gemüse

(Quelle: Gesellschaft für Konsumforschung 2020)

Kathrin Lederer backt Brote, Foto: Johanna Ewald

Kathrin will grüner leben – mit fünf Kindern!

Kathrin Lederer möchte in ihrer Großfamilie nachhaltig leben. In manchen Aspekten klappt das super, in anderen so gar nicht.

Den Tag X, an dem wir beschlossen, unser Leben komplett umzustellen, gibt es nicht. Nachhaltiger zu leben, war eine langsame Entwicklung, die uns auch heute mal mehr und mal weniger gut gelingt. Ein nachhaltigeres Leben verstehe ich dabei allumfassend: Es geht mir nicht nur darum, weniger gelbe Säcke an die Straße zu stellen, um mich gut zu fühlen.

Mein Herzensanliegen ist, die Menschen hinter den Produkten zu sehen, weniger Ressourcen zu verbrauchen, so gut es eben geht, nicht auf Kosten anderer zu leben, soziale Gerechtigkeit zu fördern und dabei realistisch weiter unseren Familienalltag mit meinem Mann Frank und unseren fünf Kindern zwischen zwei und 18 Jahren zu leben. Anfänglich war ich die treibende Kraft unseres Wandlungsprozesses. Inzwischen ist es ein Familienprojekt – oder vielmehr eine Familienhaltung – geworden.

Suppe, Seife, Seelenheil

Als Jugendliche hörte ich zum ersten Mal vom alten Leitsatz der Heilsarmee: „Suppe, Seife, Seelenheil“. Erst sollen die elementaren Grundbedürfnisse eines hilfesuchenden Menschen gesichert werden („Suppe“), dann soll dieser Mensch Unterstützung darin bekommen, Ordnung in sein Leben zu bringen und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren („Seife“) und erst wenn eine Beziehung zu dem Menschen aufgebaut wurde, vom Glauben zu erzählen („Seelenheil“).

Diesen Ansatz finde ich großartig und gut übertragbar auf das, was mich immer wieder antreibt: Es ist mir ein Anliegen, dass alle Menschen dieser Erde satt werden („Suppe“), dass jeder Mensch ein Dach über dem Kopf und Zugang zu Medizin und Bildung bekommt („Seife“) und jeder Mensch frei entscheiden darf, an wen und was er glaubt („Seelenheil“). Dazu möchte ich meinen kleinen Beitrag leisten – wohlwissend, dass ich die Welt nicht komplett verändern werde durch mein Verhalten. 

Haarseife statt Shampoo war ein No-Go

Ich wünsche mir, dass wir es als Eltern durch praktisches Vorleben schaffen, unsere Kinder dafür zu sensibilisieren, woher unsere Nahrung kommt und dass es viele Menschen gibt, die es so viel schlechter haben als wir. Ich würde ihnen gern zeigen, dass wir einen kleinen Beitrag leisten wollen, um diese Ungerechtigkeit zu lindern, zum Beispiel durch unser nachhaltigeres Leben, aber auch durch Kinderpatenschaften, Spenden an Hilfsprojekte und unsere Gebete. Ich glaube, es ist wie bei allen Dingen im Leben: Wofür wir uns interessieren, das prägt unser Denken, unser Handeln. Womit wir uns im Internet beschäftigen, wen wir bei Instagram abonnieren, das formt uns mit. 

In den letzten Jahren haben wir als Familie sehr viel ausprobiert. Einiges haben wir auch wieder verworfen. Haarseife statt Shampoo zum Beispiel ging gar nicht. Danach probierten wir festes Shampoo. Das funktioniert bei manchen der Familienmitglieder, bei anderen nicht. Jetzt haben wir festes Shampoo und zusätzlich flüssiges im Zehn-Liter-Kanister, das wir selber abfüllen. Auch Zahnputztabletten fanden wir alle fürchterlich. Dank Unverpacktladen kaufen wir jetzt Zahnpasta, die wir uns in eine Glaspumpflasche abfüllen.

Die mit viel Liebe von mir zubereitete Hafermilch wurde von allen verschmäht, ebenso der selbst gemachte Frischkäse (obwohl ich ihn schon ganz hinterlistig in einer leeren Frischkäsedose serviert habe!). Viele andere Ideen, um nachhaltiger zu leben, sind aber inzwischen zur Routine geworden und gar nicht mehr anders denkbar für uns. 

Keine Erdbeeren im Winter

Wir begannen damit, Schokolade und Brotaufstriche nur noch fair gehandelt zu kaufen. Die Kinder haben es sich inzwischen zur Challenge gemacht, wer zuerst die Fairtrade-Marken im Regal findet. Wir beschäftigten uns damit, woher Obst und Gemüse kommen und verzichten beispielsweise auf weit gereiste Erdbeeren im Winter. Für mich war es irgendwann eine logische Konsequenz, Vegetarierin zu werden. Der Rest der Familie isst nun sehr wenig und dafür gutes Fleisch direkt vom Erzeuger.

Und dank Milchtankstelle und Supermärkten, in denen man eigene Dosen mitbringen kann, ist es mittlerweile viel einfacher geworden, nachhaltig einzukaufen. Vor allem in den überall eröffnenden Unverpacktläden hole ich mir ganz viele Ideen und auch als Neuling kann man ganz unkompliziert mit zwei bis drei Produkten anfangen, die man sich abfüllt.

Schnäppchen gibt es Secondhand

Bei sieben Personen, von denen fünf noch in der Wachstumsphase stecken, sind Kleidung und Schuhe ein großes Thema. Vor vielen Jahren startete ich den Selbstversuch, in der Fastenzeit keine Kleidung für mich zu shoppen. Ich fand das damals megaschwer auszuhalten. Als ich für mich reflektierte, warum mir das Einkaufen von Kleidung so viel bedeutete, habe ich festgestellt, dass Shoppen ein Belohnungsprinzip für mich war nach dem Motto: „Du hast die letzten Wochen so viel für die Prüfungen gelernt, jetzt darfst du dir auch was Schönes kaufen.“ Das Wissen um all die Kleidermüllberge in der Welt und das Betrachten meines völlig überfüllten Kleiderschrankes hat mich dann überzeugt, etwas zu ändern.

Schnell habe ich festgestellt, dass ich dank Klamottenbörsen, Secondhandläden und Webseiten wie Kleiderkreisel trotzdem nicht in den immer selben Outfits herumlaufen muss. Heute kaufen wir fast ausschließlich Secondhandkleidung oder selten auch Fairtrade-Neuware. Selbst die Kinder (wir haben drei sehr modebewusste Pubertiere zu Hause!) finden es völlig ok, sich im Internet und Secondhandladen einzudecken. Auch Möbel, Fahrräder und Küchengeräte finden wir eigentlich fast immer gebraucht über Ebay-Kleinanzeigen und freuen uns total, wenn wir geniale Schnäppchen machen. 

Waschmittel zum Selbermachen

Ich habe festgestellt: Je länger ich mich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftige, desto einfacher wird die Umsetzung. Vieles stelle ich heute völlig routiniert und ohne weiteren Aufwand selber her: Kastanienwaschmittel (den Kindern macht das Sammeln ohnehin Spaß) und flüssiges Waschmittel (da können die Kids super die Seife raspeln …). Ich backe Brot und Brötchen (das spart unheimlich viel Geld!) und stelle Nudeln selber her.

Mit dem Obst zweiter Wahl vom Wochenmarkt, das supergünstig und dabei immer noch richtig gut ist, koche ich Marmeladen ein. Unser Eigenanbau im Garten war bisher nur sehr mäßig erfolgreich, deshalb freue ich mich über Felder, auf denen wir je nach Saison Erdbeeren oder Heidelbeeren selber pflücken. Dazwischen blüht noch der Holunder und ich kenne keine günstigere, köstlichere Limonade als kaltes Mineralwasser mit Holunderblütensirup und Zitronenscheiben – und alle unsere Gäste lieben sie ebenfalls. 

Gespräche über modernen Sklavenhandel

Ich freue mich immer sehr, wenn die Kinder beim Ernten sehen, wie die Früchte wachsen, wir uns die Bäuche vollschlagen mit Vitaminen und danach gemeinsam im Auto besprechen, was wir mit unserer Ernte nun alles anstellen können. In diesem Sommer war die Erdbeerernte etwas ganz Besonderes: Bewaffnet mit Getränken, Sonnenschutz und unseren Körben betraten wir das Feld zum Selberpflücken und begegneten vielen fremdländisch aussehenden Erntehelfern.

Unsere elfjährige Tochter war ganz verwundert, all diese Menschen zu sehen, die in der prallen Sonne pflückten, und sie fragte mich, warum sie denn alle hier seien. Es folgte ein langes Gespräch über die Bedingungen von Erntehelfern, über die Gründe, warum viele dieser Menschen extra für die Ernten nach Deutschland kommen, über soziale Ungerechtigkeit und modernen Sklavenhandel. Es war noch tagelang Thema bei uns. 

Abschminkpads für Menschen in Not

Beim Selbermachen frage ich mich oft: Was kann ich damit Gutes tun? Irgendwann habe ich meine Stapel alter Handtücher betrachtet und angefangen, daraus waschbare Abschminkpads zu nähen.

Das geht total schnell und ich freue mich inzwischen jeden Tag beim Reinigen meines Gesichtes über diese tollen, bunten Mini-Quadrate, die Wegwerf-Pads überflüssig machen. Über Facebook habe ich sie außerdem gegen eine Spende für ein soziales Projekt verkauft. Unsere Kinder durften die bestellte Ware mit einpacken und zur Post bringen. Sie freuen sich bei diesen Projekten immer riesig, wenn wir Bilder anschauen können, die zeigen, was mit dem Geld Sinnvolles passiert ist und wie Menschen in Not konkret Hilfe erfahren haben.

Einkochen wie zu Omas Zeiten

Ich freue mich sehr, dass es immer noch neue Ideen gibt, die ich ausprobieren kann. Mein neuestes Projekt ist das Einkochen wie zu Omas Zeiten. In unserem Großfamilienhaushalt stehe ich ohnehin oft in der Küche, große Töpfe habe ich sowieso und Marmeladengläser sammle ich schon seit Jahren.

Dem Internet und seinen Interessengruppen sei Dank, füllen sich unsere Vorratsschränke nun immer mehr mit eingelegtem Paprika, Apfelmus, fertigen Rinderrouladen, gebackenen Kuchen, Pflaumenkompott … Ich jedenfalls freue mich darüber wie bekloppt. Und nachhaltig zu leben, darf ja auch ein bisschen glücklich machen, finde ich.

Kathrin Lederer ist Sozialpädagogin und lebt mit ihren fünf angenommenen Kindern und Ehemann Frank in Delmenhorst in der Nähe von Bremen. Auf Instagram ist sie zu finden unter @dielederers, außerdem bloggt sie unter herzeltern.de.

Symbolbild: Getty Images / iStock / Getty Images Plus / Christian Horz

Kommentar: Grüne Energien nicht übersehen!

Wie können wir Energie sparen? Diese Frage ist spätestens jetzt hochaktuell. Für Redakteurin Anja Schäfer gehen die Überlegungen jedoch in die falsche Richtung.

Seit Putins Angriffskrieg ist die Frage, wie wir unseren Energiebedarf reduzieren, noch dringlicher geworden als wegen der Klimakrise ohnehin schon. So gut es ist, schnelle, pragmatische Lösungen für unsere Energieversorgung zu schaffen – etwa durch neue LNG-Terminals –, langfristig zukunftsträchtiger sind die drei E: Effizienz, Einsparung und Erneuerbare Energien. Man kann sich fragen, ob diese drei aktuell die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Warum gibt es beispielsweise noch keine sichtbare Bewegung zum Energiesparen – sowohl für Privathaushalte wie auch für die Industrie?

Stattdessen soll es Zuschüsse geben für Unternehmen, deren Strom- und Gaskosten von Februar bis September 2022 um mehr als 100 Prozent steigen. Leider wird mit den veranschlagten fünf bis sechs Milliarden Euro die Nutzung fossiler Energie weiter subventioniert und die Gaspreise werden hochgehalten.

Fortschritte bei erneuerbaren Energien

Immerhin: Laut sogenanntem „Osterpaket“ wurden die Ausbauziele für die Erneuerbaren kurzfristig noch einmal erhöht und sollen ein „überragendes öffentliches Interesse“ bekommen, was Genehmigungen beschleunigt. Bis 2035 soll die Stromversorgung komplett auf Erneuerbare umgestellt werden. Abstandsregeln zu bestimmten Radaranlagen werden geändert, sodass rund 1.000 Windkraftanlagen kurzfristig genehmigt werden können. Die Planungen sind ambitioniert und sollen im Sommer konkretisiert werden.

Merkwürdigerweise haben sie in Medien und Gesellschaft wenig Echo ausgelöst. Stattdessen werden in Talkshows und Diskussionen oft lieber alte Technologien wie Fracking und Atomkraft aufgewärmt, von denen wir uns aus guten Gründen schon verabschiedet hatten. Zumal der 6. IPCC-Bericht gerade erst wieder belegt hat, dass Erneuerbare Energien flächendeckend billiger sind als alle konventionellen Energien.

Selber anpacken!

Gleich selbst loslegen können wir mit unserer persönlichen Energiewende: Das Auto öfter stehenlassen. Alle Dinge länger nutzen und weniger neue kaufen. LEDs nutzen. Seltener duschen. Eine Solaranlage für Dach oder Balkon anschaffen. Zu einem glaubwürdigen Ökostrom-Anbieter wechseln (z. B. mit Gütesiegel „Grüner Strom“), denn das sorgt für Investitionen. Und dann: Über all die Veränderungen reden. Nachbarn und Bekannte begeistern. In Kirche und Sportverein Veränderungen anregen. Eine Aufbruchstimmung wecken. Alle packen für die Energiewende mit an – das wär doch was.

Anja Schäfer

Ideen zum Sromsparen

Kühlen
• Kühler als 7°C muss ein Kühlschrank nicht sein. Jedes Grad weniger spart 6 % Strom.
• Speisen abkühlen lassen, bevor sie in den Kühlschrank kommen.
• Je kleiner der Kühlschrank, desto weniger Stromverbrauch.
• Den Gefrierschrank regelmäßig abtauen.

Kochen
• Zum Topf passende Kochplatte wählen.
• Deckel aufsetzen.
• Wasser lässt sich am energieeffizientesten im Wasserkocher erhitzen.
• Nur so viel erhitzen, wie benötigt wird.

Backen
• Backofen nicht vorheizen.
• Einige Minuten früher ausschalten, um Restwärme zu nutzen.
• Umluft statt Unter-/Oberhitze wählen.

Spülen
• Geschirrspüler komplett befüllen.
• Eco-Einstellung und niedrige Temperaturen wählen.
• Kurzprogramme haben meist einen höheren Stromverbrauch.

Waschen
• Maschine voll beladen.
• Dank neuer Waschmittel reichen vielfach schon 20°C oder 30°C.
• Eco-Programme wählen.
• An der Luft trocknen.

Surfen
• Handys lieber während einer Mahlzeit laden als über Nacht. Die Aufladung nur zwischen 30 % und 70 % zu halten, schont auch den Akku.
• Laptop nicht ständig am Kabel lassen, sondern ausstöpseln, wenn er geladen ist.
• Bildschirmhelligkeit herunterregeln.
• Dank Steckdosenleisten mit Schalter lassen sich Elektrogeräte schnell vom Netz trennen, denn auch Stand-by verbraucht Energie.
• Weniger Bildschirmzeit = weniger Stromverbrauch.

Mimi Sewalski, Foto: Florian Gobbetz

Avocadostore-Leiterin: Kleine Label können sich oft kein Nachhaltigkeits-Siegel leisten

Mimi Sewalski ist Geschäftsführerin von Avocadostore, Deutschlands größtem grünen Online-Marktplatz. Im Interview erzählt die 32-Jährige, warum gesunder Menschenverstand oft wichtiger als Siegel ist und wie sie selbst prüft, von welchen Firmen sie Produkte kaufen möchte.

Du bist bereits in der Gründungsphase von Avocadostore eingestiegen und hast die Plattform mit aufgebaut. Was hat dich daran gereizt?
Nach meinem Studium habe ich erst fast fünf Jahre bei E-Commerce-Unternehmen in Israel und danach hier in Deutschland in der Werbung gearbeitet. Das fand ich allerdings völlig sinnlos. Später habe ich die Gründer von Avocadostore kennengelernt, die mir erzählten: „Es gibt sehr viele nachhaltige Label – aber keiner kennt sie. Wir haben deshalb eine Online-Plattform gegründet, wo wir alle versammeln wollen. Dort gibt’s dann für jedes herkömmliche Produkt eine nachhaltige Alternative.“ Dieser Satz hat mich entflammt. Viele Leute bekommen ja bei den Stichworten „Öko“ und „Reformhaus“ Gänsehaut, weil sie so viele Vorurteile haben. Kurz gesagt: Ich habe als Mission für mich gesehen, zu zeigen, dass Nachhaltigkeit Spaß macht.

Euer Erkennungszeichen ist die Avocado. Die ist nicht besonders klimafreundlich. Warum habt ihr gerade sie gewählt?
Den Namen gabs schon, als ich eingestiegen bin. Sie stand als Symbolfrucht für die vegane Bewegung. Zu der Zeit war auch noch nicht klar, wie umweltschädlich der Anbau von Avocados sein kann. Natürlich könnten wir uns umbenennen. Aber einmal wäre das markentechnisch sehr unklug. Und ich finde es auch deshalb gut, sie zu behalten, weil Nachhaltigkeit eben nie Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß bedeutet. Dafür steht die Avocado auch. Denn sie hat die guten Fette und ist eine super Alternative zum Fleischkonsum. Genau diesen Diskurs wollen wir führen. Die Leute dazu bringen, Fragen zu stellen.

Auswahl mit Menschenverstand

Welche Nachhaltigkeitskriterien müssen Produkte erfüllen, damit ihr sie verkauft? 
Wir sind kein Ökotest oder Stiftung Warentest: Wir prüfen nicht, sondern machen eine Vorauswahl, um Transparenz zu schaffen und Orientierung zu geben. Label oder Ladengeschäfte, die bei uns verkaufen wollen, bewerben sich und wir schauen dann im Dialog, ob das Unternehmen nachhaltig ist. Wofür steht es? Welche Produkte gibt es? Wenn wir dann grünes Licht geben, schauen wir uns noch mal jedes einzelne Produkt an, das bei uns hochgeladen wird. Neben diesen beiden Stufen haben wir zehn Nachhaltigkeitskriterien, von denen mindestens eins erfüllt sein muss.

Das klingt auf den ersten Blick nicht sehr anspruchsvoll …
Einerseits ja – aber wir haben noch ein elftes Kriterium und das heißt gesunder Menschenverstand. Das heißt, wenn ein Anbieter sagt: Die Bratpfanne ist vegan, dann würden wir sagen: Ganz ehrlich – jede Bratpfanne ist vegan, das reicht uns nicht. Außerdem gibt es einzelne Kriterien, die so stark sind, dass kein anderes mehr erfüllt sein muss – wie z. B. bei „Cradle to Cradle“, das für Kreislaufwirtschaft steht.

Wo wird jeder Euro eingesetzt?

Wäre es nicht einfacher, auf bekannte Zertifikate und Siegel zu setzen?
Es gibt viele kleine Label, die Unglaubliches leisten und von Anfang an die Nachhaltigkeit in ihrer DNA haben und alles Mögliche beachten – aber sich eben kein Siegel leisten können. Wir wollen auch für diese Marken die Tür offen halten. Deshalb verlassen wir den typischen Zertifizierungsansatz und gehen vielmehr in die Transparenz, geben aber auch durch die Vorauswahl Orientierung.

Vor der Herausforderung zu prüfen, stehen wir als Privatpersonen ja auch im Alltag. Viele Firmen werben inzwischen damit, nachhaltig oder grün zu sein. Wie erkenne ich, ob die Produkte wirklich nachhaltig produziert sind – oder die Firma nur Greenwashing betreibt?
Das wird tatsächlich immer schwieriger. Für mich selbst bedeutet Nachhaltigkeit Ganzheitlichkeit. Das heißt, wenn ich etwas kaufe, überlege ich: Wenn ich Aktionärin wäre und diesem Unternehmen einen Euro geben würde – was würde mit diesem Euro passieren? Und bei einem ganzheitlich nachhaltigen Unternehmen habe ich das Gefühl: Egal, was die mit dem Euro machen – es ist etwas Gutes. Das heißt: Die produzieren nicht nur tolle Produkte, sondern achten auch auf Umweltschutz und auf ein faires Miteinander – auch in ihrem Team hier in Deutschland und nicht nur in dem Land, in dem produziert wird.
Wenn ich das vergleiche mit einem Unternehmen, das sagt: Ich habe hier eine Kollektion mit zwanzig Prozent grünen Produkten – dann heißt das eben auch, dass achtzig Prozent ihrer Produkte nicht grün sind. Und der Euro, den ich dieser Firma gebe, finanziert eben auch die achtzig Prozent schlechter Produkte.

„Warum gibt es noch nicht den nachhaltigen Computer?“

Euer Ziel bei Avodastore ist es, für jedes herkömmliche Produkt eine nachhaltige Alternative zu finden. Wo gelingt das gut – wo ist es schwierig?
Im Modebereich hat sich in den letzten zehn Jahren wahnsinnig viel getan. Da gibt es inzwischen sowohl sportliche als auch elegante Marken und das Ganze auch in verschiedenen Preisklassen. Schwierig ist der ganze Elektronik-Bereich. Warum gibt es noch nicht den nachhaltigen Computer? Immerhin gibt es schon nachhaltige Mäuse und Stromkabel.

Welche Produkte sind bei euren Kundinnen und Kunden am beliebtesten?
Eco-Sneaker waren ein großes Thema in den letzten Jahren, auch die faire Jeans, die lange hält, gut sitzt, fair produziert ist und keine Chemie an die Haut lässt. Und dann alle Produkte, die helfen, das Leben plastikfreier zu gestalten – wie z. B. Brotbeutel oder Aufbewahrungsgläser.

Weniger, aber besser kaufen

Man sagt ja immer „Der beste Konsum ist der, der nicht stattfindet“. Ist es dann nicht widersprüchlich, eine Onlineplattform zu betreiben, die zwar mit nachhaltigen, aber dennoch schönen Produkten Anreize zum Kaufen gibt?
Natürlich sind wir ein Geschäftsmodell und leben vom Verkauf, aber wenn man unsere Seite mal genauer anschaut, dann findet man dort ganz viele Informationen rund um nachhaltiges Leben, die gar nichts mit Verkaufen zu tun haben. Unser Ziel ist es, Leute zu motivieren, weniger, aber besser zu kaufen. Das hat viel mit dem Prozess der Nachhaltigkeit überhaupt zu tun. Wenn man erst mal angefangen hat, wird man immer weitermachen und neue Bereiche für sich entdecken.

Was hat dich selbst dazu motiviert, auf Nachhaltigkeit zu achten und deinen Lebensstil umzustellen?
Mein Opa war Jäger, das war sicherlich ein wichtiger Einstieg für mich. Wir haben zusammen Heinz Sielmann-Filme angeguckt und sind gemeinsam auf die Jagd gegangen. Er hat mir dann immer die Zusammenhänge in der Natur erklärt, dadurch habe ich einen Bezug zum Naturschutz bekommen. Außerdem gab es so einen Moment der Erkenntnis, in dem ich dachte: Schon krass, was man alles besitzt! Wo kommt das eigentlich alles her? Seit diesem Moment höre ich nicht auf, mich bei allem, was ich täglich in der Hand habe, benutze oder kaufe, zu fragen: Was verursacht mein Kauf? Und will ich das so unterstützen? Davon kommt man dann auch nicht mehr los.

Kaufende machen den Unterschied

Jetzt bemühen sich viele, in ihrem Alltag nachhaltiger zu leben – aber gleichzeitig sieht man, wie die Industrie weiterhin große Mengen an Schadstoffen ausstößt. Da denkt man doch oft: Ob ich jetzt eine Zahnbürste aus Bambus oder Plastik benutze, macht doch keinen großen Unterschied. Was motiviert dich, trotzdem nachhaltig zu leben?
Mich motiviert total die Tatsache, dass in den letzten zehn Jahren unglaublich viel passiert ist. Ich erinnere mich daran, dass ich vor ein paar Jahren mal in einem Interview gesagt habe: Also wenn Zalando mal grüne Mode verkauft – das schien mir so absurd und so weit weg – dann habe ich mein Ziel erreicht. Und jetzt machen die das immerhin schon teilweise.
Noch ein Beispiel, das mich motiviert: Der Hambacher Forst war ja sehr präsent in den Medien und auch die Frage, warum und wofür die Leute dort demonstrieren. Und genau in der Zeit haben sich so viele Menschen wie noch nie in Deutschland neu für Ökostrom angemeldet. Somit hatten viele einzelne in der Summe einen richtig großen Einfluss, weil dadurch viele Tonnen CO2 eingespart wurden. Einfach, weil so viele Leute einen kleinen Schritt gemacht haben und ihren Stromanbieter gewechselt haben.
Das hat mich beeindruckt zu sehen, wie viele Leute plötzlich etwas ändern. Dass die großen E-Commercer nachhaltige Mode verkaufen, machen sie ja nicht, weil es ihnen plötzlich ein Bedürfnis ist, sondern, weil die Nachfrage da ist. Das heißt, weil wir Konsumentinnen und Konsumenten Entscheidungen treffen, fangen die Großen an, sich danach zu richten. Und das ist doch großartig! Ich glaube wirklich, dass an dem Satz „Jeder Kauf ist ein Stimmzettel“ was dran ist. Wir können etwas bewegen!

Interview: Melanie Carstens

Mimi Sewalski (32) ist Soziologin, Autorin des Buches „Nachhaltig leben JETZT“ (Knesebeck) und hat den 2010 gegründeten grünen Online-Marktplatz Avocadostore seit 2011 mit aufgebaut. Heute ist sie Geschäftsführerin des Unternehmens mit 70 Mitarbeitenden, das 350.000 Produkte von über 4.000 Marken anbietet. Avocadostore agiert als Vermittler und bekommt 17 Prozent vom Verkaufspreis, die von Miete über Personal bis Marketing alles abdecken müssen. Produkte, die ins Sortiment aufgenommen werden, müssen mindestens eins von zehn Nachhaltigkeitskriterien erfüllen: Rohstoffe aus Bio-Anbau, haltbar, made in Germany, Ressourcen schonend, Cradle to Cradle, fair und sozial, recycelt und recycelbar, CO2-sparend, schadstoffreduzierte Herstellung, vegan. Im Web: avocadostore.de