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Nachhaltig wohnen? Experte erklärt, wie das gelingt

Photovoltaik, Wärmepumpe, Sanieren – beim nachhaltigen Wohnen gibt es viel Gestaltungspotenzial. Jens Schubert, Experte beim Umweltbundesamt, erklärt die Aufgaben und Möglichkeiten, und was schon gut funktioniert.

Herr Schubert, was bedeutet heutzutage nachhaltiges Wohnen?

Jens Schuberg: Tatsächlich eine gute Frage, denn die Auswirkungen der Nichtnachhaltigkeit sehen wir nicht direkt und nehmen sie kaum wahr. Nachhaltiges Wohnen bedeutet, dass die negativen Folgen für Umwelt und Klima möglichst gering sind. Vor allem mit dem Interesse, dem Klimawandel entgegenzuwirken. Es geht auch darum, die Schadstoffe in der Luft gering zu halten und weniger Fläche zu nutzen. Und wenn man größer denkt, gehört natürlich auch der Verkehr am Wohnort dazu.

Solarenergie nutzen

Bei nachhaltigem Wohnen ist Solar und Photovoltaik ein großes Thema – wie steht es um den Ausbau bei Wohngebäuden? Wo stockt gegebenenfalls der Ausbau?

Der Ausbau der Photovoltaik geht weiter voran. Das ist erstmal eine gute Nachricht. Bei den klassischen Kleinanlagen, die einen Großteil des Daches eines Einfamilienhauses bedecken, sehen wir allerdings in den letzten Jahren sinkende Zahlen. Zugenommen hat jedoch der Ausbau der sogenannten Balkonanlagen. Diese Kleinstanlagen sind natürlich einfacher zu betreiben, weil keine Einspeisevergütung beantragt werden muss. Ein nachvollziehbarer Effekt, allerdings brauchen wir letztlich die Photovoltaik auf den Dachflächen für die Energiewende. Es gibt also noch ein großes Potenzial – gerade auch bei Freiflächen oder Mehrfamilienhäusern. Es gibt Bewegung, doch es dürfte gerne noch mehr werden.

Sie sprechen die Balkonanlagen an. Wem empfehlen Sie denn die Nutzung und wo liegen die Vorteile?

Eine Empfehlung spreche ich für alle aus, die einen ausreichend sonnigen Balkon zur Verfügung haben – auch für Mieterinnen und Mieter. Die Anlage bezeichne ich gerne als Einstiegselement in Klimaschutzmaßnahmen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Anlagen sind sehr niederschwellig, die Kosten sind relativ gering und sie sind einfach anzubringen und zu betreiben. Viele merken dann: So schlimm ist das mit dem Klimaschutz ja gar nicht, sondern es hat auch Vorteile. Es kann ein Anfang sein und Nutzerinnen und Nutzer können schauen, ob sie mit einer größeren Photovoltaikanlage weitermachen.

Was muss Politik aus Sicht des Umweltbundesamtes tun, damit Solar und Photovoltaik noch stärker ausgebaut werden?

Generell gilt: Es braucht stabile, zielführende, planbare und verlässliche Rahmenbedingungen. Bei der Photovoltaik sind wir hier auf einem guten Weg. Sicher ist aber auch, dass es hier noch Vereinfachungen braucht. Grundlegenden Handlungsbedarf gibt es im Gebäudebereich, womit wir beim Thema Heizen wären.

Wärmepumpe – besser als ihr Ruf

Heizen – ein gutes Stichwort: Welche nachhaltigen Heizmöglichkeiten gibt es und welche empfehlen Sie?

Im Wesentlichen kristallisieren sich zwei Möglichkeiten heraus. Erstens: Bei größeren Gebäuden in zentralen Bereichen etwa die Fern- und Nahwärme. Hier stehen die Wärmenetzbetreiber in der Verantwortung. Zweitens: Die vielversprechendste Technik ist die Wärmepumpe. Besonders weil hier die Energieeffizienz und das Entlastungspotenzial stark zu erkennen sind.

Es gibt weitere Möglichkeiten, doch sie haben immer Nachteile. Etwa Wasserstoff, Biogas, Bioöl oder auch das Heizen mit Holz. Die Menge an Holz zum Verheizen ist begrenzt und wegen der Luftschadstoffe sind die Vorteile für die Umwelt gering.

Sie sagen, Heizen mit Holz sollte vermieden werden. Was ist zu beachten, wenn Privatpersonen es doch tun?

Wenn Holz im Einsatz ist, sollte man möglichst sparsam und emissionsarm heizen. Beim Heizkessel können Nutzerinnen und Nutzer einen auswählen, der möglichst wenig Emissionen verursacht. Besonders ist auf einen Feinstaubfilter oder einen Elektrofilter zu achten, um die Feinstaubpartikel abzuscheiden. Auch beim Kaminofen sollte es darum gehen, Emissionen zu vermeiden. Wichtig ist es, trockenes Holz zu verwenden und die Anleitung des Herstellers auch wirklich zu lesen und zu befolgen.

Bei der Wärmepumpe gibt es verschiedene Mythen und so werden aktuell weniger Geräte installiert. Hat die Wärmepumpe „nur“ ein Imageproblem oder ist das Misstrauen berechtigt?

Das Problem war und ist die Diskussion um die Wärmepumpe. Die Technik an sich funktioniert gut – auch in (unsanierten) Bestandsgebäuden. Heißt: Man muss nicht erst eine Vollsanierung starten, bis man über eine Wärmepumpe nachdenken kann. Aus unserer Sicht ist es wichtig, Aufklärung zu leisten. Viele Menschen sind nicht auf dem neusten Stand. Wir vom Umweltbundesamt haben beispielsweise ein Portal eingerichtet, auf dem wir Beispiele sammeln, wie Nutzerinnen und Nutzer ihre Bestandsgebäude mit einer Wärmepumpe umgerüstet haben. Es sind einige spannende Erfahrungen dabei. Grundsätzlich sieht man: Man kann zufrieden und glücklich mit der Wärmepumpe ein Bestandsgebäude heizen.

Wärmepumpe, Photovoltaik und mehr – es gibt Möglichkeiten, die Techniken zu vernetzen. Liegen darin Vorteile?

Ja, und diese Vernetzung sollten wir verstärken. Die Kombination aus Wärmepumpe und Photovoltaik hat zum Beispiel den Vorteil, dass man mit der Photovoltaikanlage günstigeren Strom produzieren kann, als man ihn einkaufen kann. Dies wiederum verbessert auch die Wirtschaftlichkeit der Wärmepumpe. Das ist eine ganz wertvolle Synergie – auch im Bezug auf die Stabilität im Netzbetrieb.

Politik im Fokus

Wie steht es um die Wärmewende? Das staatliche Ziel lautet, dass Heizen 2045 klimaneutral sein soll – ist das realistisch?

Beim Heizen ist es unser Glück, dass wir ja noch 20 Jahre haben und bis dahin so gut wie jede Heizung noch mal ausgetauscht werden muss. Heißt, wir haben da bei jeder Heizung bis 2045 zumindest eine Gelegenheit. Das heißt aber auch, dass wir diese Gelegenheit nutzen müssen. Wer jetzt noch auf einen Gas- oder Ölkessel setzt und einbaut, läuft Gefahr, die vorzeitig ausbauen zu müssen – Investitionen gehen verloren. Das muss man sich vor Augen halten.

Wo sollten politische Akteure beim Thema Heizen handeln?

Auch hier sind die planbaren Rahmbedingungen wichtig, auf die sich die Gebäudeeigentümer bei ihren Investitionen verlassen müssen. Das betrifft auch das ungeliebte Ordnungsrecht für neue Heizungen oder auch Förderungen. Die Zusagen müssen über einen langen Zeitraum gelten. Die Gas- und Ölpreise werden durch den CO2-Preis steigen. Das muss die Politik aktiv kommunizieren. Alle, die an fossilen Techniken hängen, werden das finanziell merken. Es kann darauf hinauslaufen, dass sich die Gas- und Ölpreise gegenüber dem heutigen Niveau verdoppeln – und zwar dauerhaft. Hier sollten die Akteure vorbeugen und nachhaltige Heiztechniken fördern. Nebenbei können so auch Klimaziele erreicht werden.

Was ist da zu beachten, wenn man einen Neubau nachhaltig gestalten möchte?

Die erste Frage lautet: Muss es wirklich ein Neubau auf der grünen Wiese sein? Sicher ein verlockendes Ziel, was Selbstständigkeit und Freiheit betrifft. Aber hier geht viel Fläche verloren. Es gibt einige Alternativen: Etwa ein bestehendes Gebäude, was man sanieren kann. Oder indem man eine Baulücke füllt – dann ist man zumindest nicht auf der grünen Wiese. Bestehende Gebäude können auch aufstockt werden – etwa mit Holzbau.

Worauf künftige Eigentümer auch achten können, ist, dass das Gebäude recht flexibel genutzt werden kann. Beim klassischen Einfamilienhaus ist es oft so, dass viele Zimmer leer stehen, wenn die Kinder ausgezogen sind. Eine Idee ist: Das Gebäude so zu planen, dass Eigentümer, wenn die Kinder ausgezogen sind, eine Einliegerwohnung im Gebäude integriert – die man dann vermieten kann. Und beim Neubau sollten Interessierte natürlich auch auf nachhaltige Baustoffe achten, die dann eine bessere Energiebilanz haben. Hier ist Holz wieder eine gute Alternative.

Genau hinsehen lohnt sich

Gebäude sollten immer wieder saniert werden – auch energetisch. Wie kann man sicherstellen, dass dies nachhaltig geschieht?

Es gibt verschiedene Hilfsmittel, etwa den Heizspiegel des Portals „Co2online“. Dieser zeigt grundlegende Energieabbildungen und hilft, die Größenordnung der Sanierung einzuordnen. Weitere Online-Tools zeigen, wo Einsparpotenziale liegen. Und es gibt natürlich ein paar einfache Dinge, die jede und jeder selbst tun kann: Die Fenster richtig abdichten, die oberste Geschossdecke oder die Kellerdecke dämmen. Eine gute Dämmung kann den Wärmeverlust sogar um die Hälfte verringern. Eine professionelle Energieberatung mit Sanierungsfahrplan wiederum kann zeigen, wo Langzeitaufgaben liegen – nicht alles muss sofort gemacht werden.

Wie sieht für sie im optimalen Fall nachhaltiges Wohnen aus?

Im Idealfall sollte ein Gebäude natürlich einen niedrigen Energieverbrauch haben. Beheizt wird das Gebäude mit erneuerbarer Energie, also mit einer Wärmepumpe oder über ein lokales Wärmenetz. Auf dem Dach findet sich eine Photovoltaikanlage, sodass der Strom nahezu erneuerbar hergestellt wird. Beim Leben geht’s natürlich weiter: Effiziente Haushaltsgeräte, die möglichst lange genutzt werden, sorgen für einen geringen Energieverbrauch. Und bei der Mobilität setze ich auf umweltfreundliche Verkehrsmittel. Sie sehen: Nachhaltiges Wohnen ist möglich und keine Utopie.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Johannes Schwarz, Leiter der andersLEBEN-Redaktion.

Nachhaltigkeit ist nicht gleich Verzicht: Expertin erklärt, wie Veränderung gelingen kann

Unser Leben ist CO₂-intensiv. Das möchte die Energieökonomin Claudia Kemfert ändern. Im Interview verrät die gefragte Wissenschaftlerin, wie Veränderungen gelingen können, was sie begeistert und weshalb sie die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgibt.

Frau Kemfert, Sie haben das Buch „Unlearn CO₂“ mit herausgegeben. Im Intro schreiben Sie, dass Sie eine Geschichte des Wandels erzählen und ein Kompass für den Weg aus der Frustration sein wollen. Außerdem setzen Sie sich das Ziel, Lust auf Veränderung zu machen. Wie machen Sie das?

Claudia Kempfert: Die Motivation zum Buch bestand genau darin, rauszukommen aus dieser Frustrationsfalle. Im Moment hören wir zuhauf negative Nachrichten. Wir wollen mit dem Buch zeigen: Ja, es gibt eine lebenswerte Zukunft. Dazu gehört es, Freude zu machen und auf die vielen positiven Möglichkeiten hinzuweisen. Das Buch ist letztlich ein Kompass, um aus der Frustration herauszufinden. Es befinden sich viele Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und einem breiten Spektrum darin. Ich selbst habe ein positives Bild von der Zukunft. Am Ende des Tages geht es darum, dass wir die Umwelt und das Klima schützen sowie eine gesunde und lebenswerte Welt erhalten.

Weniger CO2, mehr Gesundheit

Ihr Buch wagt einen umfassenden Blick. Weshalb und was hat Sie darin bestärkt?

Ja, wir wollten unbedingt unterschiedlichste Perspektiven einbringen. Wie Verbraucher sich nachhaltiger verhalten und dass es eine Transformation hin zu mehr erneuerbarer Energie braucht, ist vielen geläufig. Doch wir zielen darauf ab, die Perspektive zu erweitern. Was ist etwa mit dem Bereich der Fast Fashion? Hier gibt es viele Probleme, die angepackt werden können. Oder das Thema Ernährung und Gesundheit – hier verschärft der Klimawandel die weltweite Lage. Darüber hinaus finden sich viele relevante Themen. Der umfassende Blick ist nötig, um zu einer klimaneutralen Welt zu gelangen.

„Unlearn CO₂“ heißt übersetzt „CO₂ verlernen“. Kann man das überhaupt? Oder ist das eher ein naiver Wunsch?

Nein, das ist möglich! Im Buch beschreiben die Autorinnen und Autoren, wie es geht. In den unterschiedlichen Bereichen – vom Auto bis zur Mode – ist viel Veränderung möglich. Insofern ist es möglich, CO2 zu verlernen – auf eben ganz unterschiedliche Art und Weisen.

Unser Lebensstil ist eben noch sehr CO2-intensiv und das gilt es zu verändern. Wenn wir das schaffen, haben wir eine bessere Gesundheit und sauberere Luft. Letztlich bedeutet CO2 verlernen, sich und der Gesellschaft Wohlbefinden und auch Glück zu erarbeiten.

Verändert denken

Anknüpfend an das Glück: Im Vorwort schreiben Sie davon, dass eine klimaneutrale Welt immer nachhaltiger, gesünder und sozial gerechter wird. Vermutlich geht da die Mehrheit der Bevölkerung mit. Doch ein Veränderungswunsch ist weniger ausgeprägt. Wie kann dieser angeregt werden?

Wir wollen die Angst vor Veränderungen nehmen. Wir alle verändern uns im Laufe des Lebens – wir selbst sowie die Generationen. Und auch größer: Es gibt einen Strukturwandel aus volkswirtschaftlicher Perspektive. Es gibt neue Technologien, umwälzende Veränderungen – auch im eigenen Leben.

Doch: Veränderungen sind nichts Negatives, sondern können auch etwas Positives sein. Es ist doch gut, wenn Veränderungen geschehen, hin zu einem gerechteren, gesünderen und glücklicheren Leben. Da gibt es eigentlich keine Ausreden mehr. Dass Veränderungen negativ sind, wird leider dennoch viel geäußert. Es ist hilfreich, hier einen Weg aufzuzeigen und aus klassischen Wirtschaftsinteressen rauszukommen. Hier gilt es, nicht nachzulassen und positive Schritte zu gehen.

In Ihrem Kapitel über Wachstum schreiben Sie: „Mehr Wirtschaftswachstum heißt mehr Energieverbrauch heißt mehr CO₂-Emission heißt mehr Klimakrise.“ Also ist Wachstum das Problem?

Ja, das ungebremste Wachstum, welches den Planeten zerstört, ist das Problem. Hier braucht es Veränderung hin zu einem nachhaltigen Wachstum.

Drei Komponenten sind entscheidend. Die Effizienz: Die Wirksamkeit kann erhöht werden. Die Suffizienz: Es braucht gesunde Schrumpfungsprozesse. Und die Konsistenz: Mehr Kreislaufwirtschaft und die Recyclingfähigkeit der Wirtschaftswelt. Die drei Komponenten gehören zusammen. Die Hinwendung zu einem nachhaltigen Wachstum bedeutet übrigens nicht gleich Verzicht. Stattdessen stellen wir uns besser auf und machen die Wirtschaft nachhaltiger und damit zukunftsfähig.

Haben denn Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft verstanden, dass es diese drei Komponenten braucht und diese gut austariert werden müssen?

Wenn wir allein von dem Wachstumsbegriff ausgehen und wie er auch in den Narrativen in all unseren Köpfen drin ist, muss man sagen: nein. Bislang ist es nicht gelungen, andere Indikatoren zu etablieren, die ein nachhaltiges Wachstum darstellen. Und auch die mediale Darstellung ist noch schief: Statt kurz vor der Tagesschau um 20:00 Uhr Börsenkurse zu zeigen, wäre es doch eine Idee, zu zeigen, wie es unserem Planeten und damit letztlich auch der Menschheit geht und warum. Kurz: Die bisherigen Merkmale, wie etwa auch das Bruttosozialprodukt (BIP), bauen auf einen schädlichen Wachstumsbegriff. Es gibt etliche alternative Indikatoren, die aber noch nicht ausreichend verwendet werden.

Es gibt viel Positives

Sie schreiben außerdem, man müsse Werbung machen für lebendige Natur, frische Luft, eine Stadt der kurzen Wege, faire Preise und ein friedliches Miteinander als lebenswerte Zukunft …

Ja, es wäre schön, wenn Werbung positive Beispiele und Entwicklungen anpreisen würde, so wie es für so viele Dinge Werbung gibt. Großartig wäre es, wenn wir wegkommen von den Erzählungen, die uns immer in die Bewahrung der Vergangenheit zwingen. Besser ist es, wenn wir in die positive Zukunft blicken und wir uns dahin bewegen können. Hier kann die Zivilgesellschaft eine große Rolle spielen.

Sie wirken überzeugt. Frau Kemfert, was begeistert Sie persönlich an einer klimaneutralen, nachhaltigen und sozial gerechteren Welt?

Mich begeistert alles daran. Seit mehr als 30 Jahren beschäftige ich mich mit der ganzen Thematik und schon früh habe ich erkannt, dass wir so nicht weitermachen können.

In vielen Studien habe ich untersucht, welche Wege wir beschreiten müssen, um in eine lebenswerte Zukunft zu gehen. Die Zerstörung und all das Schlimme bewegen mich, noch überzeugender zu sein, denn ein anderes Leben ist möglich. Es treibt mich an und ich finde es wichtig, dass wir darüber sprechen und viele Menschen darüber Bescheid wissen.

In Energie- und Klimadebatten sind Sie eine wichtige Stimme in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Sind Sie zufrieden damit?

Ich bin glücklich, dass ich einen Beruf habe, der mir unglaublich viel Spaß macht. Mein Motto ist: Suche dir einen Beruf, den du liebst und du brauchst nie in deinem Leben zu arbeiten. So habe ich das große Privileg und den Luxus, an Themen zu arbeiten, die mir unglaublich viel Spaß machen. Und die Erarbeitung eben dieser Erkenntnisse ist das, was mich jetzt auch seit Jahrzehnten antreibt und glücklich macht.

Seit 2021 sind Sie außerdem auch Podcasterin und betreiben beim MDR „Kemferts Klima-Podcast“. Was motiviert Sie dabei?

Mir macht es Freude, unterschiedliche Perspektiven aufzuzeigen und selbst durch die Zuhörer bereichert zu werden. Wir gehen im Podcast oftmals sehr aktuellen Themen nach und besprechen die Entwicklungen.

Natürlich dürfen auch neue Studien nicht fehlen. Spannend sind immer die Fragen der Hörer. Es macht Spaß zu hören, was die Menschen so umtreibt und welche Fragen sie haben. Die Begeisterung der Hörerschaft steckt an.

Politische Rahmenbedingungen verbessern

Wenn wir schon bei aktuellen Themen sind: Was denken Sie zur Klimakonferenz in Baku, die im November 2024 stattfand? Braucht es überhaupt solche Konferenzen?

Von der Klimakonferenz in Baku konnte man von vornherein nicht allzu viel erwarten. Die Präsidentschaft hatte mit Aserbaidschan ein Öl- und Gasland inne. Zum Start der Konferenz sagte der Staatschef, Öl und Gas seien ein Geschenk Gottes. Das war auch das Man­tra dieser Konferenz.

Die schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet: Die Ergebnisse der Konferenz waren nicht im Ansatz ausreichend, um die Klimakrise abzuwenden. Aber dennoch halte ich es für sinnvoll, dass solche Konferenzen stattfinden – und auch in der Regelmäßigkeit. Es ist überlegenswert, ob man nicht auch unterschiedliche Geschwindigkeiten der Handlungen einbaut: Denn es gibt Länder der Willigen, die dann schneller vorangehen wollen, denen man noch mehr Aufgaben zutraut als Bremsern oder welchen, die leiden. Ziel muss sein, einen zielführenden Weg zu zeichnen, um schneller vorwärtszukommen.

In Deutschland ist die Ampel-Koalition zerbrochen. Eine neue Wahl bringt neue Verhältnisse. Kann daraus etwas Positives für die Klimapolitik entstehen?

Das Ampel-Aus im November 2024 kam zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, um eine Regierungskrise zu haben. Gerade in Zeiten, in denen die Amerikaner eine Rolle rückwärts machen in so vielerlei Hinsicht.

Es ist wichtig, dass Europa stark ist und sich gut positioniert. Und nicht vom Klimaschutz abrückt. Nach der Neuwahl hoffe ich darauf, dass sich schnell eine Regierung bildet, die in Richtung Nachhaltigkeit unterwegs ist. Beim Klimaschutz habe ich durchaus etwas Hoffnung. Denn nahezu jede Partei hat sich verpflichtet, für Klimaschutz einzustehen. Da erwarte ich, dass das dann auch in Taten umgesetzt wird. Denn hier muss schnell sehr viel passieren.

Glauben Sie daran, dass Deutschland im Jahr 2045 klimaneutral sein wird?

Ja! Wir und viele andere Forschungseinrichtungen haben in etlichen Studien gezeigt: Deutschland kann 2045 klimaneutral sein. Das Ziel kann sehr wohl gut erreicht werden, wenn jetzt nicht Prozesse rückabgewickelt werden. Wichtig ist, dass wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien nicht nachlassen. Barrieren, die jetzt mühselig abgebaut wurden, dürfen nicht wieder aufgebaut werden. Stabile politische Rahmenbedingungen sind entscheidend – sie geben Planbarkeit und damit auch Investitionssicherheit für Unternehmen. Dann sind die Ziele 2045 auch erreichbar.

Was schenkt Ihnen Hoffnung?

Dass sich die meisten politischen Akteure das Klimaneutralitätsziel 2045 verpflichtend ins Programm geschrieben haben. Daran müssen sie sich messen lassen, aber die Grundlage ist gegeben. Mein großer Wunsch und meine größte Hoffnung ist, dass wir Zukunftsfähigkeit gewinnen. Heißt: Dass wir als Wirtschaftsmacht durchaus mit Umweltschutz, mit Klimaschutz und mit einer grünen Technologie und Wirtschaft punkten können. Und dass wir die Wettbewerbsnachteile wieder aufholen. Dann können wir das Ansehen der Welt auch wieder genießen.

Vielen Dank für das Interview!

Die Fragen stellte Johannes Schwarz. Er leitet die andersLEBEN-Redaktion.

 

Claudia Kemfert ist eine der wichtigsten deutschen Wissenschaftlerinnen für Energie- und Klimaökonomie. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Leuphana Universität. Seit 2016 gehört Kemfert dem Sachverständigenrat für Umweltfragen an und berät somit die deutsche Bundesregierung. Sie ist eine mehrfach ausgezeichnete Spitzenforscherin, gefragte Expertin für Politik und Medien und Bestsellerautorin.

Mehr zum Buch „Unlearn CO₂ – Zeit für ein Klima ohne Krise“

Das fossile System bröckelt. Ein Klima ohne Krise ist in Reichweite. Was es jetzt braucht: dass die Gesellschaft endlich die Abhängigkeit von CO2 verlernt – und zwar in allen Bereichen unseres Lebens. In diesem prominent besetzten Sammelband präsentieren Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis, Journalismus und Aktivismus vielfältige Lösungen, mit denen wir das fossile System überwinden können. In konstruktiven und fachlich fundierten Essays zeigen sie Wege in eine klimagerechte Zukunft.

Claudia Kemfert, Julien Gupta, Manuel Kronenberg (Hrsg.): Unlearn CO₂ – „Zeit für ein Klima ohne Krise“ (ullstein)

Kemferts Klima-Podcast

Seit 2021 produziert der MDR Aktuell den „Kemferts Klima-Podcast“, Moderatoren sind Theresa Liebig und Marcus Schödel. Hier bespricht Claudia Kemfert aktuelle Studien zum Klimawandel und ordnet sie ein. Sie beobachtet die deutsche Klimapolitik und bewertet sie. Die Klimaökonomin gibt im Podcast außerdem Tipps für ein nachhaltigeres Leben.

Natürliche Ressourcen: Alle Menschen könnten gut auf der Erde leben

Der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen beginnt bei jedem Einzelnen. Die Berechnung des persönlichen ökologischen Fußabdrucks ist da ein Anfang, erklärt der Experte Johannes Küstner von Brot für die Welt.

Ein CO2-Rechner erklärt mir, für wie viel CO2-Ausstoß ich verantwortlich bin. Ihr bei „Brot für die Welt „messt den ökologischen Fußabdruck. Welcher Gedanke steckt dahinter?

Die Wissenschaftler Mathis Wackernagel und William Rees sind in den 1990er-Jahren aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive rangegangen. Sie haben gesagt: „Jedes Unternehmen hat doch eine Einnahmen- und eine Ausgabenrechnung. Man guckt, wie viel Geld man einnimmt und kann in der Regel auch nur so viel ausgeben. Wie seltsam ist es, dass wir für die ökologischen Ressourcen, die unsere Lebensgrundlagen sind, so eine Einnahmen- und Ausgabenrechnung nicht machen, sondern einfach verbrauchen, als wäre unendlich viel davon da und damit auch Substanz zerstören. Und dann haben sie so eine Einnahmen- und Ausgabenrechnung erstellt, eine Ökobilanz.

Wie kann man eine solche Bilanz für den ganzen Planeten errechnen?

Man stellt die Frage: Was gibt es eigentlich auf der Welt für Flächen, die uns Umweltdienstleistungen zur Verfügung stellen? Eine Ackerfläche beispielsweise hat die höchste Bioproduktivität, weil sie uns Nahrung liefert. Ein Wald hat auch eine relativ hohe Bioproduktivität, ein Ozean eine etwas geringere, weil da nur an den Küstenregionen Fische entnommen werden und CO2 gespeichert wird. Und eine Wüste hat eine sehr geringe Bioproduktivität, weil da nichts wächst. So wurde über Satellitenaufnahmen ausgerechnet, welche Flächen es auf der Welt gibt und wie hoch ihre Umweltdienstleistungen sind. Die Gesamtheit dieser zur Verfügung stehenden Umweltdienstleistungen ist die Biokapazität. Wenn der Mensch mehr verbraucht, als Biokapazität vorhanden ist, dann betreibt er Raubbau.

„Wenn der Mensch mehr verbraucht, als Biokapazität vorhanden ist, dann betreibt er Raubbau“

Wisst ihr, wer den Rechner vor allem nutzt?

Ungefähr 40 Prozent der Nutzer sind unter 20, aber es benutzen ihn Leute aus allen Altersgruppen. Zuschriften kommen sogar überwiegend von älteren Leuten, die sehr umweltbewusst leben und dann frustriert sind, dass ihr Fußabdruck so schlecht ist. Das Beantworten nenne ich inzwischen Ökoseelsorge. Es geht darum, zu verarbeiten: Was mache ich jetzt mit dieser Erkenntnis, dass mein Fußabdruck überhaupt nicht nachhaltig ist?

Was antwortet ihr diesen Leuten?

Oft sind es Leute, die schreiben: „Ich baue doch schon Gemüse in meinem Garten an“ oder so. Wenn sie dann auch kein Auto fahren und nicht fliegen, haben sie gar nicht mehr so viele Optionen, mit persönlichen Verhaltensänderungen ihren Fußabdruck zu verkleinern. Denen sagen wir: „Es hat eigentlich keinen Sinn, jetzt noch mehr Energie da reinzustecken, weiter den persönlichen Fußabdruck zu verkleinern, sondern es ist viel besser, wenn Sie die vielen Kompetenzen, die Sie haben, der Gesellschaft zur Verfügung stellen, sodass andere Leute auch lernen zu gärtnern oder ohne Auto zurechtzukommen oder so.“ Es ist nur schwer möglich, einen nachhaltigen Fußabdruck zu erreichen, weil der Sockelbetrag in Deutschland schon so hoch ist.

Nämlich die allgemeinen Ressourcen, die das Leben in Deutschland verbraucht?

Ja. Sockelbetrag meint, dass wir in unserer Gesellschaft viele Dinge nutzen, deren Ökobilanz wir nicht unmittelbar selbst beeinflussen können. Wir profitieren von Straßen, Öffentlichem Nahverkehr, Polizei – die ganze öffentliche Daseinsversorgung. Wenn die Gesellschaft insgesamt richtig nachhaltig funktionieren würde mit maßvoller E-Mobilität, fairen Produkten und so weiter, würde dieser Sockelbetrag deutlich geringer ausfallen. Ich versuche den Leuten auch zu erklären, dass die Intention dieser Seite nicht ist, dass man sich jetzt stresst: Wie schaffe ich es bloß, diesen fairen Wert zu erreichen? Sondern eine wesentliche Funktion des Fußabdrucks ist, zu zeigen, wie gewaltig der Veränderungsbedarf ist und dass zu dem persönlichen Verhalten die Strukturveränderungen notwendigerweise hinzukommen müssen.

Macht man den Leuten mit so einem Rechner dann aber nicht ein schlechtes Gewissen – obwohl das Problem bei den Strukturen und in der Wirtschaft und Politik liegt?

Ich finde, man muss das nicht so gegeneinander ausspielen, sondern man kann auch versuchen, das Interesse der Menschen an Umweltschutz und an eigenen Veränderungsmöglichkeiten zu nutzen. Und sie dann auch ermutigen, sich politisch zu engagieren.

Ausgerechnet der Öl- und Gaskonzern BP hat ja vor 20 Jahren einen CO2-Rechner beworben, um bewusst von seiner Verantwortung abzulenken und sie auf den Einzelnen abzuwälzen …

Ich finde das auch kritisch zu hinterfragen, warum BP einen CO2-Rechner bewirbt. Gleichzeitig fände ich es problematisch, wenn man damit insgesamt dieses Konzept des Ökologischen Fußabdrucks aus der Hand geben würde, nur weil BP es aus niederen Interessen benutzt hat. Mathis Wackernagel, der den ökologischen Fußabdruck erfunden hat, hat schon lange vor BP einen Onlinetest dazu veröffentlicht. Durch BP ist der Gedanke wesentlich bekannter geworden. Es gibt durchaus viele Leute, die eine große Motivation für Schöpfungsbewahrung haben, aber nicht wissen, welche Verhaltensweise wie stark was ins Gewicht fällt.

Die machen sich zum Beispiel totalen Stress mit veganer Ernährung, haben aber überhaupt nicht überlegt, wie die weite Fahrt mit dem SUV in den Biosupermarkt in die Bilanz fällt. Es geht nicht darum zu sagen: „Du sollst das und das machen“, sondern zu zeigen, was wie sehr ins Gewicht fällt.

„Es ist genug für jedermanns Bedürfnis, aber nicht für jedermanns Gier.“

Was ist denn der entscheidende Punkt, der geschehen muss, damit unser Planet bewohnbar bleibt?

Ich finde den Satz von Mahatma Ghandi hilfreich, der sagt: „Es ist genug für jedermanns Bedürfnis, aber nicht für jedermanns Gier.“ Ich bin davon überzeugt, dass alle Menschen auf dieser Welt gut leben können. Aber dieses gute Leben wird nicht so aussehen können, wie bei uns, wo sich ein ressourcenverschwenderischer Lebensstil breitgemacht hat.

Die persönlichen Veränderungsmöglichkeiten sind allerdings begrenzt. Was müsste denn global passieren?

Die Frage, die dahintersteckt, lautet ja: Wer muss anfangen? Und die Antwort darauf ist, dass schon die Frage Teil des Problems ist. Wenn man überlegt, wer anfangen muss, dann schieben sich die verschiedenen Akteure in Politik, Wirtschaft oder auch von individueller Ebene immer die Verantwortung hin und her. Eigentlich muss aber auf allen Ebenen so viel wie möglich, so schnell wie möglich passieren. In der Landwirtschaft, in der Energiewirtschaft, in der gesamten Produktionskette, wie wir mit Ressourcen umgehen und die wiederverwenden, in unserer Ernährungsweise. Überall sind Veränderungen notwendig.

Was ist bei dieser Transformation meine Rolle als einzelne Person?

Diese politischen und strukturellen Veränderungen sind meines Erachtens nicht erreichbar, wenn nicht ein ausreichend großer Teil der Gesellschaft dafür ein Bewusstsein hat und es auch selbst ein Stück weit kulturell vorgelebt hat. Ein schönes Beispiel finde ich immer die Energiewende. Jahrzehntelang haben Menschen in gesellschaftlichen Nischen mit erneuerbarer Energie experimentiert. Haben kleine Windräder gebaut oder an kleinen Photovoltaikanlagen gebastelt oder mit Solarthermie experimentiert. Und es gab eine Anti-AKW-Bewegung, die jedes Jahr demonstriert hat. Und irgendwann war dann der Moment da, wo die Politik bereit war zu sagen: „Okay, wir wagen jetzt den Atomausstieg.“ Hätte es diese langen Vorbereitungen nicht gegeben, dann wären gar nicht die Optionen da gewesen, die Erneuerbaren Energien als Energiequelle zu erschließen.

Und ich glaube, so ist es in vielen Transformationsbereichen. Eine Ernährungs- und Landwirtschaftswende gelingt viel leichter, wenn Menschen aus freien Stücken, sei es für Gesundheit oder Klima, weniger tierische Produkte nutzen und sozusagen lernen, wie man sich auch mit Gemüse gut ernähren kann. Wenn man jetzt einfach auf einen Schlag tierische Produkte fünfmal so teuer machen würde, aber in der Gesellschaft gar keine kulturellen Ressourcen da sind, damit umzugehen, dann funktioniert so eine Veränderung nicht. Weil das ineinandergreift, ist auch die Ebene des persönlichen Lebensstils total wichtig. Nicht als Ablenkung von der Strukturveränderung, sondern als Ermöglichung und Motivation dafür.

Brot für die Welt verbindet man ja eher mit Hunger- und Armutsbekämpfung. Warum engagiert ihr euch für Klima- und Umweltschutz?

Das Wichtige bei der Arbeit von Brot für die Welt im Globalen Süden ist ja vor allem, dass wir mit Partnerorganisationen vor Ort zusammenarbeiten. Schon ganz früh waren wir mit Akteuren aus Ländern des Südens im Gespräch darüber, wie gerechte und nachhaltige Entwicklung funktionieren kann. Und die haben uns schon in den 70er-Jahren gesagt: „Ihr müsst anders leben, damit wir überleben können.“ Ein gutes Leben für alle ist nur möglich, wenn wir nicht so sehr über unsere Verhältnisse leben und nicht so sehr Ressourcen aus anderen Ländern beanspruchen.

Johannes Küstner ist Bei „Brot für die Welt“ seit 2012 für die außerschulische Bildungsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zuständig. Er ist verantwortlich für die Aktionen „5000 Brote“, „Teller statt Tonne“ oder den Ökologischen Fußabdruck.

Der niederschwellige Fußabdruck-Rechner von „Brot für die Welt“ verzeichnet täglich über 2.000 Zugriffe. 13 Fragen sind zu beantworten, das ist in sechs Minuten erledigt – ohne dass eine Heiz- oder Warmwasserrechnung hervorgekramt werden muss.

Die Fragen stellte Anja Schäfer

Nachhaltige Mode: Neue Jeans aus alten Stoffen

Bei „Bridge and Tunnel“ stellen talentierte Frauen aus verschiedenen Ländern aus zerschlissenen Jeans neue Schätze her. Die Entwürfe des Hamburger Labels wurden schon mit dem German Design Award ausgezeichnet.

In einem Gewerbegebiet im Hamburger Süden, hinter Reifenhandel und Autolackiererei, kommt links die Einfahrt. Die Gebäude hier ähneln denen anderer Gewerbekomplexe, aber dieses Areal wirkt nicht anonym und menschenleer. Topfpflanzen und Lastenräder stehen vor den Türen, Menschen werkeln herum, eine Gruppe Schüler hält Raucherpause auf dem Hof. Etliche Vereine und Sozialträger haben sich hier angesiedelt: Kleiderkammer, Sprachkurse, ein alternativer Kaffeehandel. Mittendrin, irgendwo im zweiten Stock: ein 280 Quadratmeter großes Atelier. In Regalen hoch bis zur Decke sind ausrangierte Jeans gestapelt.

ZUKUNFTSPROZESS

Das Modelabel Bridge&Tunnel ist hier seit 2016 zu Hause – anfangs unter dem Dach eines Sozialträgers, mittlerweile als eigenständige GmbH. Von Schmucketuis über Hipbags und Jacken bis hin zu großen Plaids sind mittlerweile viele Produkte im Online-Shop erhältlich. Daneben werden Upcycling- und Reparaturaufträge verschiedener Firmen und Vereine übernommen.

Im Atelier herrscht gelöste Konzentration. Am Fenster arbeiten Näherinnen aufmerksam über ihre Maschinen gebeugt. Am großen Schneidertisch in der Mitte fachsimpeln Mitarbeiterinnen über neue Entwürfe für Weihnachten.

Seine Wurzeln kann das kleine Unternehmen bis zu einem Projekt eines engagierten Bürgerkreises zurückverfolgen, der um das Jahr 2000 einen Zukunftsprozess für den verwahrlosten Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg anstieß. Behörden wurden ins Boot geholt und gemeinsam erarbeitete man Perspektiven: neue Wohnungen, verbesserte Verkehrsanbindung und Bildung. Schließlich nahm man die anstehende Internationale Bauausstellung 2013 zum Anlass, den Stadtteil auf der Elbinsel unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten weiterzuentwickeln. Auch Kultur- und Kreativprojekte sollten begleitend im international geprägten Stadtteil entstehen.

Das war der Punkt, an dem Constanze Klotz dazustieß. Ich treffe sie im Atelier. Sie führt mich von der großen offenen Halle über eine Stahltreppe hinauf zur Balustrade mit Blick über das Geschehen. An einem Holztisch nehmen wir Platz und sie erzählt von den Kreativprojekten der IBA, deren Projektleitung sie als Kulturwissenschaftlerin übernahm. „Wir wussten, hier auf der Elbinsel beherrschen viele Leute das Handwerk noch ganz anders, weil es in ihrem Herkunftsland eine andere Rolle spielt“, erzählt Conny. „Deshalb hat die IBA damals gesagt: Ein Ort, wo textile Skills gefördert werden, wäre doch total cool.“

Geplant wurde ein Coworking-Space für Mode- und Textildesign, mit viel Freiraum für Kreativität. Nähmaschinen und Geräte für Siebdruck standen bereit. Allein übernehmen wollte Conny das Projekt auf Dauer aber nicht: „Ich kann ganz vieles, aber nicht nähen, und so haben wir jemanden gesucht, der den operativen Bereich stemmt und Workshops konzipiert.“ Das Jobangebot teilte Conny über Facebook, wo sie seit ein paar Jahren auch schon mit Charlotte Erhorn lose verbunden war. „Zwei Minuten später hat Lotte mir eine E-Mail geschrieben: ‚Conny, du suchst mich!‘“ Lotte war gerade in den Stadtteil gezogen und wünschte sich eine Teilzeitstelle im Kreativbereich. „Wir waren also erst Kolleginnen und sind dann richtig gute Freundinnen geworden. Und ich glaube, es ist total gut, dass wir ohne Gepäck erst mal in die berufliche Beziehung gestartet sind, und dann konnte sich über die gegenseitige berufliche Wertschätzung auch die private etablieren.“

NÄHKURS IN DER MOSCHEE

Nach dem Anschub durch die Bauausstellung ging der Co-Working-Space an einen sozialen Träger über. Kreative mieteten sich ein, Menschen aus der Nachbarschaft kamen zu Workshops. Jemand erzählte von einem Nähkurs in der Moschee, für den jedes Mal alle Maschinen hin- und hergeräumt werden mussten. Conny und Lotte luden die Frauen kurzerhand in ihre Räume ein. Zu sehen, welche großen Nähfertigkeiten sie aus ihren Herkunftsländern mitgebracht hatten, führte zu weiteren Überlegungen. „Bei uns in Deutschland braucht man ja für alles Zertifikate und Diplome“, sagt Conny, „aber man kann großartige Talente und Fähigkeiten nicht nur damit messen.“ Viele der Frauen waren schon seit 15 oder 20 Jahren in Deutschland, hatten aber noch nie eine sozialversicherungspflichtige Stelle gehabt. „Wir haben gesagt: ‚Näh doch mal vor, zeig doch mal, ob du dieses Produkt nähen kannst‘“, erzählt Conny. „‚Wie lange brauchst du dafür? Wie ist die Qualität?‘ Wenn man sich die Zeit nimmt, kann man ziemlich gut erfassen, ob es passt.“

Und bei vielen Frauen passte es. Conny und Lotte trafen die Entscheidung: Sie gründeten ein Label, das Menschen in Arbeit bringt, die sehr gut nähen können, unabhängig davon, ob sie ein Zeugnis haben. Es geht ihnen um die Frauen, aber auch darum, das lokale Handwerk wieder stark zu machen. „Wir versuchen, textiler Arbeit ein Gesicht zu geben, dass die Leute sichtbar werden, die die Produkte nähen“, sagt Conny. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass auf den Waschlabels in den Produkten immer reihum eine Näherin unterschreibt. Und öfter reagieren Kundinnen darauf und mailen zurück: ‚In meinem Blouson steht drin, er wurde von Mandeep genäht. Vielen lieben Dank noch mal an Mandeep!‘ Das stärkt die Wertschätzung für die Menschen, aber auch für die Mode. Gut vorstellbar, dass Kleidungsstücke, deren Geschichte man ein bisschen kennt, länger und sorgsamer getragen werden.

EXPERIMENTE MIT JEANS

Der Labelname Bridge&Tunnel spielt auf die Lage des Stadtteils an: Gelegen auf einer Flussinsel, ist er nur über Brücken und Tunnel zu erreichen. Vielleicht nicht zufällig erinnert er auch an Gürtelschlaufen und Hosenbeine – und ganz sicher daran, dass Frauen hier eine Brücke in den Arbeitsmarkt finden.

Das Signature Piece, das wiedererkennbare Stück in ihrem Online-Shop, ist das Oberteil aus schräg zusammengenähten Jeansteilen, den es als Sweater und Blouson gibt. Schon zu Zeiten vom Coworking-Space hatten sie die LKWs beobachtet, die regelmäßig die Kleiderkammer auf demselben Gewerbehof belieferten – randvoll beladen mit Altkleidern. Darunter viele Jeans. Damit begannen sie zu experimentieren. „Wenn Jeans kaputtgehen, sind die ja maximal am Knie, am Popo kaputt. Aber die komplette Beinvorder- und Rückseite kann man noch supergut benutzen, wenn man sie in Filetstreifen schneidet.“ So nahmen sie die Hosen, die zu zerschlissen waren, um sie noch an Bedürftige weiterzugeben, mit in die Werkstatt und experimentierten. „Wir haben einen Teppich geflochten, ein paar Taschen ausprobiert und haben gemerkt: Das ist ein richtig gutes Material.“

Micht alle ihre Stücke sind aus Jeans, aber alle wurden schon einmal benutzt oder stammen aus Produktionsresten. Und das ganz bewusst.

SCHON EINMAL GELIEBT

„Mode ist ein krasser Klimakiller“, erklärt Conny. „Viele Leute wissen das nicht oder blenden es aus. Aber die Textilindustrie mit allen Stoffen und Vorhängen, Berufsbekleidung und so weiter ist laut Schätzungen für mehr Treibhausgase verantwortlich als Flugindustrie und Kreuzfahrt.“ Berechnungen gehen davon aus, dass weltweit bald 200 Milliarden Kleidungsstücke produziert werden – jedes Jahr. Mitsamt allen Konsequenzen wie Ressourcenverbrauch und CO2-Output. Die Frage ist: Wie lässt sich die Modeindustrie umkrempeln?

Ein zukunftsfähiger Ansatz ist, Materialien zu nutzen, die bereits da sind. „Deshalb verarbeiten wir nur Jeans, die schon mal an zwei Beinen durchs Leben gelaufen sind“, sagt Conny schmunzelnd. Zusätzlich wird der Lagerbestand für den Shop bewusst überschaubar gehalten. Produziert wird, wenn Kundinnen und Kunden bestellen. Verpackt und verschickt wird gleich vor Ort.

Neben dem Shop für Privatkunden setzen Conny und Lotte auf die Zusammenarbeit mit Unternehmen und Vereinen. Auch hier sind immer gebrauchte Stoffe im Spiel. Mal werden alte Banner auf Wunsch zu Weekendern oder ausrangierte Arbeitskleidung zu Hipbags, mal werden Waren repariert, die mit kleinen Fehlern angeliefert wurden. Ein allgemeiner Reparaturservice ist das neuste Standbein.

IMMER KREATIVE LÖSUNGEN

Die Daseinsform von Bridge&Tunnel sei für manche schwer zu greifen, erzählt Conny. „Wir empfinden uns da als Weltenwandlerinnen. Manchen sind wir für eine Zusammenarbeit zu sozial, für manche Fördergelder sind wir zu wirtschaftlich.“ Schwarze Zahlen schreibt Bridge&Tunnel auch nach sieben Jahren noch nicht ganz. „Als kleines Unternehmen zwei Jahre Pandemie abzufedern, war schon crazy genug“, sagt Conny. „Dann startet der schreckliche Krieg in der Ukraine. Inflation und Konjunkturschwäche erschweren natürlich gerade kleinen Firmen mit wenig Rücklagen das Leben.“ Leute gucken stärker, wofür sie Geld ausgeben – und landen oft wieder bei Fashion und Waren, die billig zu haben sind. Verständlich, findet Conny, ihr gehe es nicht anders, aber es gefährde aktuell viele Firmen und Initiativen, die fair und nachhaltig arbeiten – Modelabel genauso wie Unverpacktläden und Biobetriebe. „Und dann gehen die Konzepte nicht auf, obwohl die eigentlich genau das transportieren, was wir uns doch für die Zukunft wünschen.“

Das Gehalt einiger Mitarbeiterinnen wird durch ein Programm des Jobcenters gefördert, was sehr hilft. Und sonst bleiben sie hartnäckig, um immer wieder kreative Lösungen zu finden: „Wir machen viel Fundraising, haben seit sieben Jahren eine tolle Partnerschaft mit einer großen Firma, seit letztem Jahr haben wir einen Investor an Bord.“

ZEIT FÜR NACHHALTIGKEIT

Wenn man mit Conny spricht, kann man sich ihren Spaß am Netzwerken gut vorstellen – und ihr Geschick, auch mit Wirtschaftsleuten über Kooperationen ins Gespräch zu kommen. Eine ansteckende Leidenschaft für die Themen hilft sicher zusätzlich – und Lotte mit ihrer Begabung für Design, Technik und Finanzfragen klingt nach der perfekten Business-Partnerin.

Ihre Mitarbeiterinnen arbeiten bewusst nur 20 Stunden, damit genug Zeit für Familie und anderes bleibt. Für die Gründerinnen gilt das nicht: „Wir arbeiten rund um die Uhr“, lacht Conny, „aber mit voller Begeisterung.“ Drei Tage sind beide im Atelier, zwei Tage im Homeoffice. Beide haben zwei Kinder und ihren Alltag gut organisiert. „Wenn keiner krank ist, läuft das super“, sagt Conny. Ihre erste Tochter kam im zweiten Jahr nach der Gründung zur Welt und stand oft in der Babywippe im Atelier – zur Freude der Mitarbeiterinnen. Und auch heute kommen die Kinder öfter mal mit, wenn Betreuung ausfällt und auch die Väter Termine haben. Ohnehin ist es ihnen wichtig, ihren Kindern die Werte von Nachhaltigkeit und Wertschätzung zu vermitteln. Und nicht nur ihnen. „Wir wollen auch in die Gesellschaft hineinwirken und sagen: Mode ist kein Bubble-Thema. Sie geht uns alle an. Niemand ist nackt.“

Wir alle treffen dauernd Kaufentscheidungen. Und ob wir Gebrauchtes kaufen, auf Siegel achten oder billige Schnäppchen jagen, hat Auswirkungen. Für nachhaltige und oftmals hochpreisige Modelabels hat allerdings nicht jeder das passende Budget. „Und das sind auch nicht diejenigen, an die wir uns wenden. Wir richten uns an diejenigen, die die Möglichkeit hätten, sich die Zeit zu nehmen, um nachhaltiger zu kaufen, es aber – auch aus Gewohnheit an Fast Fashion – nicht tun.“

VIELFALT VON WEGEN

Eine faire Produktion aus gebrauchten Materialien in Deutschland ist zweifellos nachhaltig, aber auch für Conny nicht der einzige Ansatz. Denn ob es sinnvoll wäre, unsere sämtliche Kleidung komplett in Europa fertigen zu lassen, ist fraglich. Zum Beispiel, weil dann Näherinnen in Bangladesch oder Vietnam arbeitslos würden. „Ich glaube, es braucht ganz viele verschiedene Ansätze, die auf unterschiedliche Art nachhaltig sind“, sagt Conny. Secondhand gehört genauso dazu wie faire Fabriken im Globalen Süden oder auch das Recycling von Fasern aus abgetragener, geschreddeter Kleidung.

„Unsere Textilien, die wir upcyceln, sind ja schon hier – die zurück nach Bangladesch zu transportieren, macht keinen Sinn.“ Gleichzeitig müssen konsequente Lieferkettengesetze für menschenwürdige Arbeitsbedingungen im Globalen Süden sorgen. Wenn Arbeiterinnen Windeln tragen müssen, weil in ihren 14-Stunden-Schichten keine Zeit ist, aufs Klo zu gehen, dann liegen die notwendigen Verbesserungen auf der Hand. „Und das klappt vor allem dann, wenn wir uns bewusst werden, wie wir konsumieren“, sagt Conny. „Denn natürlich gibt es eine Wechselwirkung: Wenn wir weiter günstige Kleidung nachfragen, wird immer weiter viel günstige Kleidung produziert.“

Wie man es dreht und wendet – am Ende ist und bleibt aber der entscheidende Schlüssel für den Modekonsum die Menge: Wenn wir meinen, viel Neues zu brauchen, werden viele Ressourcen verbraucht, Müll und Emissionen fallen an – und die Preise müssen niedrig sein. Wenn wir uns auf wenige Teile beschränken, kann das einzelne Kleidungsstück mehr kosten und eine faire Produktion wird möglich.

Sich selbst nehmen die beiden Unternehmerinnen aus dieser Denke nicht heraus. In diesem Jahr haben sie sich beide eine Challenge gestellt: Lotte hat sich eine „Capsule Wardrobe“, eine feste Garderobe aus 30 Kleidungsstücken zusammengestellt – ausschließlich aus Second-Hand-Stücken. Conny hat eine „Outfit Repetition“ gemacht: Vier Wochen lang hat sie jeweils ein Kleidungsstück eine Woche lang getragen und immer anders kombiniert. „Ich kenne jetzt viel mehr Kombinationsmöglichkeiten für meine Kleidungsstücke. Es ist eben alles Übung.“

Übung hilft zweifellos beim nachhaltigen Modekonsum – und Wertschätzung gehört unbedingt dazu: Wertschätzung für Kleidung, Menschen, Talente, Stoffe, Handwerk, letztlich für unsere Schöpfung. Als ich die Stahltreppe wieder heruntersteige, arbeitet gerade eine Mitarbeiterin am Schneidertisch. Auf ihrem T-Shirt steht: „Liebe. Immer.“ Wie passend hier, denke ich.

Anja Schäfer ist Redaktionsleiterin von andersLEBEN. Online-Shop von Bridge and Tunnel: bridgeandtunnel.de

Pionier der Energiewende: „Wir haben genug Wissen und Technik“

Der Schweizer Unternehmer Josef Jenni entwickelt bereits seit den 1970er-Jahren alternative Energietechnik. 1990 baute er das erste Haus, das ganzjährig mit Sonnenenergie versorgt wird. Der Pionier macht es vor, wie die Energiewende funktionieren kann.

„Ich gehe selten arbeiten“, sagt Josef Jenni. Dabei ist er 50 Stunden in der Woche mit alternativer Energietechnik beschäftigt. „Für mich ist es generell so, dass ich mit und in der Firma lebe“, erzählt er. Meist klingelt sein Wecker morgens um halb sechs, um kurz vor sieben ist er schon im Büro. Dafür geht er nur ein paar Meter von seiner privaten Wohnung hinüber zum Firmengebäude seiner Jenni Energietechnik AG, die auf dem gleichen Gelände im Schweizer Oberburg liegt. Jenni könnte reisen, Touren mit seinem E-Fahrrad unternehmen und es sich gut gehen lassen, denn der bald 70-Jährige ist offiziell seit fünf Jahren im Ruhestand. „Damit hat meine Arbeit eine gewisse Freiwilligkeit. Ich bin auch nicht mehr besonders teuer für die Firma. Ich bin der Meinung, dass mich das jung hält. Mir ist nie langweilig“, sagt er beinahe spitzbübisch lächelnd. Er geht gern in die Produktionshalle seines Unternehmens und begleitet neue Mitarbeiter. „Dafür haben unsere Monteure aktuell keine Zeit“, sagt er. Denn seit der Energiekrise sind seine rund 75 Mitarbeitenden überbeschäftigt. Auf einmal fragen die Leute von überall her nach Solaranlagen mit Wärmespeichern und alternativen Energietechniken, für die die Firma Jenni bekannt ist.

Autofreie Sonntage

Josef Jenni engagiert sich bereits seit fünfzig Jahren dafür. Er gilt als der Solarpionier. Schon während seines Studiums zum Elektroingenieur wurde er zum Kritiker fossiler Energien und zum Klimaschützer. Als er in den 1970er-Jahren die Studie „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome las, die in verschiedenen Szenarien die Zukunft der Weltwirtschaft mit den begrenzten Rohstoffvorräten darstellt, war das für ihn der Auslöser zu handeln. „Ich habe mit drei Studienkollegen eine nationale Volksinitiative in der Schweiz angeschoben für die Einführung von zwölf autofreien Sonntagen. Das hat sehr viel Arbeit gemacht. Aber dabei habe ich gelernt zu arbeiten und auch, wie man verhandelt und Dinge organisiert.“

Es war klar, dass nur eine nachhaltige, sinnstiftende Arbeit für ihn infrage kommt. Deshalb gründete er 1976 nach seinem Studienabschluss, ganz ohne Kapital, seine eigene Firma und stellte im Keller seiner Eltern Steuerungen für Solaranlagen her und verschrieb sich den erneuerbaren Energien. „Die ersten zehn Jahre in der Firma habe ich praktisch nichts verdient. Am Anfang haben meine Eltern für meinen Unterhalt gesorgt, später meine Frau Karin. Sie hat die Wohnung bezahlt und den Lebensunterhalt bestritten. Als sie dann mit in die Firma Jenni einstieg, sagte Karin zu mir: ‚Es gibt zwei Bedingungen. Erstens heiraten wir und zweitens kriege ich einen einigermaßen guten Lohn.‘ “

Jenni machte auf seine Pionierarbeit mit einer innovativen Aktion aufmerksam, welche die Kraft der Sonnenenergie zeigen sollte: 1985 organisierte er die erste „Tour de Sol“ vom Bodensee bis zum Genfer See, gemeinsam mit der Schweizerischen Vereinigung für Sonnenenergie. Dies war das erste Rennen für Fahrzeuge, die mit Solarantrieb anstatt mit einem Verbrennungsmotor fuhren.

Erstes autarkes Wohnhaus

Dennoch musste Jenni weiter um Aufträge für seine Firma kämpfen. Europaweit bekannt machten ihn seine Entwicklungen zur Solarthermie. Er speicherte das mit Sonnenkollektoren auf dem Dach erhitzte Wasser in großen Tanks. Dass diese Nutzung von Sonnenenergie ausreicht, um ein ganzes Haus ganzjährig zu versorgen, wollte ihm kaum jemand glauben. Aber ausgelacht zu werden, das war er inzwischen gewohnt.

Jenni trat den Beweis an: Zusammen mit seinem Bruder Erwin Jenni errichtete er in Oberburg das erste Wohnhaus Europas, das ganzjährig zu 100 Prozent autark mit Sonnenenergie versorgt wird, also ohne herkömmliche Heizung auskommt. Für mehr Bekanntheit bauten die Brüder noch einen Außenpool, der mit der überschüssigen Sonnenenergie beheizt wurde. Bei Minusgraden im Winter badeten die Brüder und Mitarbeiter der Firma darin. „Dieses Bild ging um die Welt“, erzählt Jenni. Das war 1990.

Damals wohnten seine Frau Karin und er noch in der Wohnung über der Produktionshalle der Firma. Ihre Töchter Esther und Tabea waren schon auf der Welt. Danach folgte ihr Sohn Josef. Die Kinder sind inzwischen erwachsen, zwei arbeiten in der Firma mit. Aber die Energiewende ist nach einem halben Jahrhundert noch immer nicht geschehen. Trotzdem wird Jenni nicht müde, dafür zu arbeiten. „Die Beharrlichkeit sei meine beste und meine schlechteste Eigenschaft, meint meine Frau“, erzählt er schmunzelnd.

Nächstenliebe im Betrieb

Er sieht auch Fortschritte: „Also rein marktmäßig passiert ja gerade einiges für die erneuerbaren Energien. Zudem hat es sicherlich positive Effekte, wieviel Strom beispielsweise in Deutschland heutzutage durch Wind erzeugt werden kann. Photovoltaik ist eher sommerlastig, im Winter leider etwas erbärmlich. Mir ist es wichtig, diese physikalischen Gegebenheiten richtig zu erfassen. Es hilft nichts, wenn wir uns Illusionen darüber machen, was erneuerbare Energien können oder nicht können“, meint Jenni.

Die Schöpfung zu bewahren, ist für ihn als Christ ein wichtiger Antrieb in seiner Arbeit. Wertmaßstäbe auf Basis der Nächstenliebe versucht er so gut wie möglich in seinem Betrieb umzusetzen. „Nur gute Arbeit, welche den Menschen dient und Rücksicht nimmt, gibt Zufriedenheit“, steht auf seiner Internetseite. Er hat viele langjährige Mitarbeitende. Manche von ihnen traten bei Jenni Energietechnik ihre erste Stelle an und gehen nun in Pension. Jetzt rücken junge Leute nach.

Seit Beginn wächst seine Firma durch engagierte Mitstreitende und Jennis Einfallsreichtum. Heute produziert sie große Solarspeicher und montiert Sonnenkollektoren, Solarzellen, Gesamt-Wärmesysteme, Wärmerückgewinnungsanlagen, Holzheizungen und vieles mehr. Auch für die Finanzierung seiner Projekte hat er unkonventionelle Ideen genutzt: Als er 1983 in Oberburg die erste Werkstatt baute, konnte er sich das nur leisten, weil er die Jenni Liegenschaften AG gründete und jeden dritten Kunden überzeugte, sich am Aktienkapital zu beteiligen. Danach finanzierten die Liegenschaften den Bau des zweiten und dritten Produktionsgebäudes und der nächsten Innovation: 2007 errichtete Firma Jenni das erste ganzjährig solar-beheizte Mehrfamilienhaus Europas. Dafür wurde ihr Erfinder mit dem Energy Global Award ausgezeichnet. 2008 erhielt Jenni für sein Lebenswerk zugunsten der Solarenergie noch den Preis „Watt d‘Or“ vom Bundesamt für Energie.

In einer seiner sonnenversorgten Wohnungen lebt Josef Jenni inzwischen mit seiner Frau. „Für mich wäre es am idealsten, wenn ich dort leben würde, bis ich in einer Kiste die Wohnung verlasse“, sagt er. Wie es aussieht, wird das noch dauern. Jenni fühlt sich gut, ist viel mit dem E-Fahrrad im hügeligen Emmental unterwegs, im Urlaub radelte er sogar von der Schweiz bis zum Nordcap.

Optimum Energiemix

Ansonsten tüftelt er weiter. Er zeichnet, konzipiert und arbeitet gerne mit den Händen. Vieles davon lernte er vor seinem Studium in der Ausbildung zum Industrieelektroniker. Die Maschinen in seinen Werkhallen sind Eigenbau, die meisten entwickelte er selbst. Jenni rechnet auch gerne. Nach seinen Berechnungen ist eine Kombination verschiedener erneuerbarer Energiequellen das Optimum. Dafür plädiert er seit Jahrzehnten. Die wichtigsten Säulen der Energiewende sind für ihn der Solarstrom und die solare Wärme. Denn die Energiewende sei nicht zu schaffen, wenn sie in den Köpfen vieler bloß eine „Stromwende“ bedeute. Die Nutzung der thermischen Sonnenenergie sei gesamtheitlich betrachtet die umweltschonendste aller erneuerbaren Energien. Dann gebe es noch die dritte Säule mit anderen erneuerbaren Quellen wie zum Beispiel Energiespartechnik, Energiespeicherung und Einsatz von Biomasse.

Seine Tatkraft für Klimaschutz und erneuerbare Energien brachte er auch politisch ein: Bis 2012 war er sechs Jahre lang Großrat für die Evangelische Volkspartei im Kanton Bern, also Abgeordneter im dortigen Landtag. Das war ein Spagat. „Josef, was machst du hier eigentlich?“, dachte er an manchem Abend, wenn er nach einem Parlamentstag „nudelfertig“ zu
Hause ankam.

Immer noch gibt es viel zu tun. Deshalb ist für Jenni jeder gute Mitbewerber ein Kämpfer für das gleiche Ziel. „Wir brauchen europaweit noch viel mehr Leute, die an erneuerbaren Energien konkret arbeiten. Wir haben genug Wissen und Technik, die wir eigentlich anwenden könnten.“

Eine weitere Botschaft des Solarpioniers wird nicht gerne gehört: „Wir müssen bescheidener werden und den eigenen Energiebedarf reduzieren. Brauchen wir das alles wirklich?“ Er selbst leistet sich keinen Luxus, der bei einem erfolgreichen Unternehmer vielleicht üblich wäre: Er besitzt kein Ferienhaus und auch kein großes Auto. Er fährt einen VW Polo mit Kleinstausstattung. Vom Boom der heutigen Elektroautos hält er nicht viel. Schwer und hochmotorisiert verbrauchten sie zu viel Energie. „Brauchen wir derart große und schnelle Autos? Ich kann für mich sagen: Es kann sehr entspannend sein, wenn man nicht alles haben muss. Auch das ist Freiheit.“

Anne Albers ist freie Autorin und Journalistin in Hamburg

Hafer, Mandel, Soja – Wie sinnvoll sind Milchalternativen?

Wer Kuhmilch nicht verträgt oder aus anderen Gründen darauf verzichtet, kann mittlerweile auf eine Fülle von Ersatzprodukten zurückgreifen. Doch wie gut sind die Milchalternativen wirklich? Sind sie verträglicher und besser für die Umwelt?

Aus den Szene-Cafés sind pflanzliche Milchdrinks längst nicht mehr wegzudenken. Wer einen Hafermilch-Cappuccino oder einen Chai mit Sojamilch bestellt, erntet hier kaum mehr fragende Blicke. Und für den Umstieg von Kuhmilch zur Alternative gibt es gute Gründe.

Umwelt

Hafermilch & Co. haben geringere ökologische Auswirkungen auf unseren Planeten als Milch von Kühen. Für ihre Produktion wird weniger Wasser und Land verbraucht, denn nicht nur die Kühe selbst haben Durst, vor allem für den Anbau ihres Kraftfutters sind viel Wasser und Fläche nötig. Besonders Hafer und Soja schneiden im Vergleich gut ab, aber selbst Mandeln und Reis, die warme Klimabedingungen brauchen, haben eine bessere Bilanz. Hafermilch aus in Deutschland angebautem Getreide punktet zudem mit kurzen Transportwegen.

„Für Soja wird doch Regenwald abgeholzt!“, wenden Kritiker gern ein. Tatsächlich verwenden die Hersteller von Sojadrinks aber meist Rohstoffe aus Europa, etwa Soja aus Italien oder Rumänien. Wer unsicher ist, wirft einen Blick auf die Packung – die verrät es in der Regel.

Ernährung

Nicht nur jene, die allergisch auf die Lactose in der Kuhmilch reagieren, sind aus gesundheitlicher Sicht mit den pflanzlichen Alternativen gut beraten. Auch wer auf eine ausgewogene Ernährung achtet, kann zugreifen: Meist enthalten die Drinks weniger gesättigte Fette und Cholesterin und haben eine höhere Nährstoffdichte. Sojamilch beispielsweise enthält in der Regel mehr Protein und Kalzium als Kuhmilch. Hafermilch ist sehr ballaststoffreich und damit verdauungsfördernd. Auch hier hilft es, die Packungsangaben zu überprüfen, da die Nährstoffzusammensetzung je nach Hersteller und Produkt variieren.

Gluten enthalten Hafer- und Sojamilch übrigens nicht. Wenn auf dem Feld allerdings vorher glutenhaltige Getreidesorten standen oder dieselben Maschinen dafür benutzt werden, kann es passieren, dass Allergiker das spüren. Sie sollten auf den Hinweis
„glutenfrei“ achten.

Verwendung

In Kaffee und Tee sind die Milchalternativen Geschmacksache, Hafermilch gilt als besonders mild. Wer gern Schaum mag, ist mit Sojamilch besser beraten oder sollte bei Hafermilch zu Barista-Produkten greifen, die Sonnenblumenöl oder andere Zusätze enthalten oder länger fermentiert sind und dadurch besser schäumen.

Auch für Müsli und zum Kochen und Backen eignen sich die Drinks. Da bei der Herstellung von Hafermilch Stärke in Zucker umgewandelt wird, ist der Geschmack etwas süßlich, deshalb kommen Rezepte zum Teil mit weniger Honig oder Zucker aus. Bei manchen Hafermilchsorten kann es wegen bestimmter enthaltener Enzyme vorkommen, dass Pudding beim Backen nicht fest wird. Da hilft:
ausprobieren.

Anja Schäfer

Wie nachhaltig sind Südfrüchte?

Der Gang durch die Obstabteilung gleicht oft einer Weltreise: Bananen aus Costa Rica, Avocados aus Peru, Orangen aus Marokko, jederzeit verfügbar. Lässt sich das mit einem klimabewussten Einkauf vereinbaren?

Äpfel lassen sich schon sprichwörtlich nicht mit Birnen vergleichen – und bei exotischem Obst sieht die Sache nicht anders aus. Denn die Welt ist so komplex wie das Obstregal bunt ist. Wie umweltverträglich Lebensmittel sind, hängt an vielen Faktoren: Anbau, Wasserbedarf, Flächenverbrauch, Transport. Äpfel etwa können frisch vom eigenen Baum stammen, monatelang im Kühllager gelegen haben oder aus Chile angeschifft worden sein.

Bei Südfrüchten macht uns oft der Weg, den sie zurücklegen, ein schlechtes Gewissen. Jedoch schreibt der britische Nachhaltigkeitsforscher Mike Berners-Lee in seinem aktuellen Buch „Planet B“: „Der Transport sorgt meist nur für einen geringen Teil des generellen CO2-Fußbdrucks von Lebensmitteln.“ In Großbritannien sei der Transport nur für sechs Prozent des CO2-Fußabdrucks aller Supermarktwaren verantwortlich. Viel mehr Treibhausgase würden in der Landwirtschaft freigesetzt. „Der Transport von Lebensmitteln wird nur dann ein großes Problem, wenn die Waren mit dem Flugzeug kommen.“ Im Flieger fallen für eine Ananas beispielsweise pro Kilogramm Frucht 15,1 kg CO2-Äquivalente an, im Schiff hingegen nur 0,6 kg. Eine Flug-Ananas verursacht also 25-mal mehr Klimagase als Schiffsware.

Vergleichen ist nötig

Keine Frage: Frisch vom eigenen Strauch gepflückt hat Obst eine noch viel bessere Bilanz. Aber diesen Luxus hat nicht jeder und schon gar nicht das ganze Jahr über. Wer sich gesund ernähren will, für den führt kaum ein Weg am Obstregal oder Marktstand vorbei. Ein genauer Blick auf Herkunft und Anbau kann aber nicht schaden. Denn was hierzulande im beheizten Treibhaus wächst, kommt zwar aus der Region, muss aber für den Planeten nicht immer besser sein als die Exoten: „Lokale Tomaten, die in einem energieintensiven Gewächshaus im Winter angebaut werden, sind oft weniger nachhaltig als per Schiff angereiste Alternativen aus sonnigeren Regionen“, schreibt Berners-Lee.

Das alles bedeutet: genau hingucken und vergleichen. Das zeigt sich auch, wenn man die Zahlen ganz anderer Lebensmittel danebenlegt. Vor allem im Vergleich zu Fleisch und anderen tierischen Produkten schneiden Südfrüchte in ihrer Klimabilanz insgesamt immer noch sehr gut ab. Darauf verweist auch das Inkota-Netzwerk, das sich in Kampagnen und Bildungsarbeit für eine gerechtere Welt engagiert: „Während pro Kilogramm Äpfel aus der Region 0,3 beziehungsweise 0,4 kg CO2-Äquivalente entstehen (je nachdem, ob sie saisonal im Herbst oder im April konsumiert werden), ist der Fußabdruck von per Schiff importierten Bananen, Avocados oder Ananas mit je 0,6 Kilogramm CO2-Äquivalenten nur wenig größer.“ Zum Vergleich: Rindfleisch ist pro Kilogramm für 13,6 kg verantwortlich und liegt damit meilenweit über den verschifften Südfrüchten.

Das heißt: Weil Früchte wie Bananen und Orangen in den Anbauländern unter natürlichem Sonnenlicht statt in beheizten Gewächshäusern gedeihen und weil sie problemlos verschifft werden können, ist ihre Klimabilanz insgesamt nicht viel schlechter als die von heimischem Obst.

Pestizide und Wassermangel

Häufig werden Südfrüchte in Monokulturen angebaut, worunter nicht nur die Artenvielfalt, sondern auch die Widerstandskraft der Landschaft und das Grundwasser leiden: Denn Schädlinge können sich bestens vermehren, werden mit Pestiziden bekämpft, die ins Grundwasser getragen werden. Bei einer Probe von Öko-Test 2018 bekamen nur fair gehandelte Bio-Bananen die Bestnote „Sehr gut“. Andere Sorten waren nachweisbar mit Pestiziden belastet. Zitrusfrüchte wie Orangen und Grapefruits hat das Lebensmittel- und Veterinärinstitut Oldenburg auf Pestizidbelastung getestet. Von den Sorten aus Bio-Anbau waren 16 von 17 rückstandsfrei, 80 Prozent der konventionellen Früchte hingegen belastet. Das ist eine schlechte Nachricht für die Menschen in den Anbauländern – und für uns, wenn wir die Früchte essen.

Auch der Wasserverbrauch spielt für die Bewertung der Nachhaltigkeit von Lebensmitteln eine große Rolle. Der Anbau etwa von Avocados mit künstlicher Bewässerung verstärkt den Wassermangel in Anbauländern, die ohnehin mit Wasserknappheit und Dürre zu kämpfen haben. Die künstliche Bewässerung können sich oft nur reiche Großplantagenbesitzer leisten, wodurch kleine Familienbetriebe zunehmend um ihre Existenz bangen. In Chile etwa ist Wasser Privatbesitz. Die Wasserrechte liegen in den Händen großer Avocado-Barone, während die Bevölkerung unter der extremen Trockenheit leidet und mancherorts mittlerweile auf Trinkwasser aus Tankwagen angewiesen ist.

Laut Waterfootprint.org haben Äpfel einen Wasserverbrauch von 125 Litern, bei Orangen sind es 560 Liter, bei Bananen 790 Liter, bei Mangos 1.800 Liter. Zum Vergleich der Blick auf andere Lebensmittel: Für Käse werden 3.000 Liter verbraucht, für Rindfleisch 15.000 Liter. Südfrüchte schneiden also etwas unterschiedlich ab. Milchprodukte und Fleisch liegen aber meist um das Mehrfache darüber.

Druck auf Bauern

Aufgrund ihrer Beliebtheit sind Bananen und Orangen wichtige Einkommensquelle für zahlreiche Kleinbauernfamilien in den Anbauländern. Diese werden jedoch mehr und mehr von Großplantagen verdrängt, für die außerdem riesige Flächen Land teilweise illegal abgeholzt werden. Die Bauern leiden unter dem Niedrigpreisdruck von Exporteuren, Importeuren und Supermärkten, da das Monopol in den Händen weniger großer Firmen liegt. Die Orangensaftfabriken etwa werden zu 75 Prozent von drei Großkonzernen kontrolliert. Diese drücken den Orangenpreis teilweise unter die Produktionskosten. Kleinbauernfamilien können diesem Druck nicht standhalten und verarmen. Durch den Klimawandel bedingte Naturkatastrophen wie Überschwemmungen bringen zusätzlich Ernteverlust und Qualitätseinbußen mit sich.

Gerade bei Südfrüchten und Orangensaft ist es daher sinnvoll, auf fair gehandelte Produkte zu achten. Für sie erhalten Kleinbetriebe nicht nur eine angemessene Bezahlung, auch die Arbeitsbedingungen sind besser und Kinderarbeit wird ausgeschlossen. Oftmals sind sie biologisch angebaut. Vor allem Bananen und Orangensaft werden vielfach auch aus fairem Handel angeboten.

Lisa-Maria Mehrkens ist freie Journalistin und Psychologin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

 

Crowdfarming direkt vom Baum

Orangen, Mangos, Grapefruits und Co. lassen sich auch direkt beim Bauernhof bestellen. Das sogenannte Crowdfarming unterstützt kleine Familienbetriebe in Ländern wie Spanien und Italien, manchmal auch in Deutschland. Das ist meist teurer als im Supermarkt, dafür sind viele Früchte biologisch angebaut und der unmittelbare Bezug zur Herkunft der Lebensmittel ist inklusive. Wer noch einen Schritt weitergehen möchte, kann hier auch einen Baum adoptieren und neben den Kosten für die Lieferung auch die Kosten für die Pflege vorab übernehmen. Dafür wird die gesamte Baumernte der Saison geliefert (crowdfarming.com).

 

7 Faustregeln

1. Unschlagbar: Unbehandeltes Obst aus dem eigenen Garten oder von wilden Hecken
2. Wenn es im Sommer und Herbst heimisches Obst gibt, auf Südfrüchte verzichten
3. Flugobst generell meiden
4. Südfrüchte aus dem nahen Ausland gegenüber denen aus Regenwaldgebieten bevorzugen
5. Es ist wirkungsvoller, Fleisch und Milchprodukte zu reduzieren als Südfrüchte
6. Wegen der Anbaubedingungen ist es bei Südfrüchten besonders sinnvoll, auf Fairtrade zu achten
7. Bio-Siegel sollten für Verzicht auf schädliche Dünger, Pestizide und Maßnahmen zum Artenschutz stehen, auch wenn das in anderen Ländern manchmal nicht so streng kontrolliert wird wie bei uns

Gelebte Nachbarschaft: So profitiert jeder von der Gemeinschaft

Gute Nachbarschaft ist eine echte Chance – nicht nur für Gemeinschaft, sondern auch für mehr Nachhaltigkeit. Wie so etwas gehen kann hat Lisa-Maria Mehrkens herausgefunden.

Angefangen hatte im Hamburger Quartier Nettelnburg alles mit der Idee von vier Nachbarinnen: Unter ihren Carports wollten sie zeitgleich Flohmarktstände aufbauen. Carolin Goydke verteilte Flyer in der Nachbarschaft und richtete zur Organisation eine WhatsApp-Gruppe ein. Ein überschaubarer Aufwand. Doch sie hatten den Enthusiasmus der Nachbarn unterschätzt: „Die Resonanz war riesig, viele wollten sich beteiligen und sogar das Wochenblatt wurde informiert“, erinnert sich Carolin ans erste Mal zurück. Schon beim ersten Flohmarkt waren dann über 50 Haushalte dabei – und schnell stand fest, dass neben dem seit Jahrzehnten etablierten Laternenfest mit Umzügen und Feuerwerk im September und dem Pflanzenmarkt auf dem Kirchplatz im Frühjahr nun auch der Flohmarkt regelmäßig in der Nachbarschaft stattfinden sollte. Abgesehen von den erfolgreichen Verkäufen blieben vor allem die Gemeinschaft und der Austausch miteinander positiv im Gedächtnis.

Zudem entwickelte sich die Chatgruppe zum Nachrichtenorgan der Siedlung. Und das war eine entscheidende Wende im nachbarschaftlichen Miteinander, denn irgendeine Plattform zur Kommunikation braucht es, damit Austausch entsteht. Sei es das Schwarze Brett im Vereinslokal oder Supermarkt, sei es eine Facebook-Seite oder eben eine Chatgruppe – entscheidend ist, dass Begegnungen und Ideen in welcher Form auch immer möglich werden. Als die Gruppe bei WhatsApp nicht mehr wachsen konnte, wechselte man in Hamburg zu Signal. Hinweise auf Blitzer, entlaufene Haustiere oder Fundsachen finden hier ebenso ihren Platz wie Fragen nach Ärzten und Handwerkern – und weiterhin werden hier auch alte Schätzchen verkauft und noch öfter verschenkt. Die kurzen Wege in der Nachbarschaft ermöglichen es, sich manches gute Stück auch erst einmal nur anzuschauen. Und nicht selten stehen in oder vor den Carports nun Zu-verschenken-Kisten.

ESSBARE FREUDE TEILEN

Eine Sonderform des Verschenkens ist das immer beliebter werdende Foodsharing, eine bundesweite Initiative gegen Lebensmittelverschwendung mit über 2.500 involvierten Betrieben. Können diese ihre noch genießbaren Lebensmittel nicht mehr alle verwerten und Institutionen wie die Tafeln haben keinen Bedarf, holen sogenannte „Foodsaver“ die Lebensmittel zu vorgegebenen Zeiten ab und verteilen sie – oft in der Nachbarschaft – weiter, bevor sie im Müll landen. Häufig werden auch sogenannte „Fairteiler“ eingerichtet: öffentlich zugängliche Schränke, zu denen jeder seine nicht mehr benötigten Lebensmittel bringen oder sich kostenlos etwas mitnehmen darf.

Paul ist Foodsaver in Chemnitz. Für ihn gehört das Teilen von Lebensmitteln und anderen Dingen als Ausdruck von Nächstenliebe zu einer guten Nachbarschaft dazu: „Eine ideale Gesellschaft handelt in meinen Augen sozial und ganz im Sinne von Foodsharing sollte Teilen eine Selbstverständlichkeit sein. Dabei denkt man nicht an sich, sondern an andere“, sagt Paul. Wer Lebensmittel in der eigenen Nachbarschaft weitergibt, reduziert nicht nur den CO2-Ausstoß, da weniger Lebensmittel, in die Energie und Ressourcen geflossen sind, weggeschmissen werden, sondern fördert oft auch Beziehungen und Begegnungen zwischen Menschen.

Ganz oft ist das der schöne Nebeneffekt von nachbarschaftlichem Engagement: Wer sich auf einer Ebene schon mal gesprochen hat, findet beim nächsten Mal noch schneller den Anknüpfungspunkt, um gemeinschaftlich zu handeln. Denn Vertrauen ist der Kitt, der uns in Gruppen zusammenhält.

Und Vertrauen ist auch nötig, wenn es darum geht, Dinge zu verleihen. Haushaltsgeräte, Werkzeug oder Party-Deko werden oft nur gelegentlich genutzt und sie auszuborgen statt zu kaufen, spart ebenso Geld wie Ressourcen. Im Leihladen KarLeiLa in Chemnitz hat man diesen Gedanken professionalisiert. Wer mitmachen will, zahlt eine monatliche Nutzungsgebühr von 36 Euro – und bringt selbst auch einen eigenen Gegenstand in den gemeinsamen Leihpool ein. „Damit wird das Verleihen eher zum Teilen, weg von der Dienstleistung hin zum solidarischen Handeln. Denn es geht um die gemeinschaftliche und sinnvolle Nutzung von Ressourcen“, erklärt die ehrenamtliche Mitarbeiterin Cindy Paukert. Bewusst hätten sie sich hier für einen Standort in einem chaotischen, bunten, diversen und sich dynamisch wandelnden Stadtteil mit allen Sozialschichten entschieden, da der Verleihladen etwas für alle Bevölkerungsgruppen sein soll. Die Teammitglieder des Ladens hätten teilweise selbst auf Reisen schon häufig unter einfachen Bedingungen gelebt und seien auf andere angewiesen gewesen. Gerade dieses Miteinander schätzt Cindy Paukert: „Ich finde, dass das Leben schöner ist, wenn man etwas zusammen tut, sich unterstützt, Dinge miteinander teilt, egal ob Gegenstand oder Not.“ Für sie hat der Leihladen auch etwas mit Gemeinschaft und Eigenverantwortung zu tun: „Wir wollen, dass Menschen den Laden mitgestalten und sind da sehr offen für Ideen. Und wir fördern auch die Verantwortung für den anderen und dafür, was er braucht. Wir wollen einen Begegnungsort, an dem man miteinander redet“, sagt sie. Gern sähe sie noch viel mehr von Anwohnern selbst verwaltete Verleih-Läden – am liebsten gleich mit Reparaturcafés, die Geräten eine längere Nutzungsdauer verschaffen.

REPARATUR MIT PLAUSCH

Die Idee der Reparaturcafés geht auf die Niederländerin Martine Postma zurück. Ihr Konzept hat sich seit 2010 weltweit etabliert. Sie sei es leid gewesen, dass so viele Produkte, die eigentlich nur etwas Pflege und Reparatur bedürfen, einfach weggeworfen und durch neue ersetzt werden, weil es einfacher und schneller sei. „Ich wollte Reparaturen wieder in unseren Alltag bringen“, beschreibt sie ihre Idee. Dafür musste Reparieren billiger und attraktiver als ein Neukauf werden. „So kam ich auf die Idee eines Reparaturcafés: aus Reparieren ein Event machen, einen tollen Ort, an dem Ehrenamtliche dir gegen eine freiwillige Spende deine kaputten Sachen reparieren oder dich selbst dazu anleiten, wo du einen netten Plausch mit deinem Nachbarn oder eine Tasse Kaffee genießen kannst.“ Wer ein solches Reparaturcafé ins Leben rufen will, findet mittlerweile in einem Starter Kit in fünf verschiedenen Sprachen Anregungen zum Loslegen.

Für Martine Postma sind Reparaturfähigkeiten auch für eine gute Nachbarschaft hilfreich: „Sie helfen, miteinander Probleme zu lösen. Eine ideale Nachbarschaft ist eine resiliente Nachbarschaft, die Reparaturkünste und die Menschen, die diese haben, gleichermaßen schätzt“, sagt sie. Gleichzeitig würden Reparaturcafés Nächstenliebe fördern. „Dort kann man Hilfe von einem Freiwilligen bekommen, den man auf der Straße nie wahrgenommen hat. Dadurch sieht man diese Person in einem neuen Licht, nämlich als wertvollen Menschen mit wertvollem Wissen. Das nächste Mal, wenn man ihn oder sie auf der Straße trifft, sagt man Hallo und fragt, wie es ihm oder ihr geht.“

ONLINE VERNETZEN

Mittlerweile gibt es im Internet zahlreiche Foren, die verschiedene Aspekte einer sozialen Nachbarschaft miteinander verbinden. Die wohl größte und bekannteste Plattform ist nebenan.de. „Wir bringen Menschen zusammen, die in der gleichen Nachbarschaft leben und sich trotzdem oft gar nicht kennen“, erzählt Ina Remmers, eine der Mitgründerinnen. „Die Plattform ist ein Werkzeug, um Einsamkeit und Anonymität abzubauen und die lokale Gemeinschaft zu stärken.“ Über sie können Menschen sich für gemeinsame Unternehmungen verabreden, Initiative für ihr Viertel ergreifen oder sich gegenseitig Tipps und Hilfe geben. „In einer idealen Nachbarschaft treffen sich ganz unterschiedliche Menschen. Durch kleine Alltagsbegegnungen und gegenseitige Hilfe werden Vorurteile abgebaut und das Vertrauen ineinander gestärkt, was sich positiv auf das Gefühl auswirkt, sich in der eigenen Nachbarschaft zu Hause zu fühlen“, sagt Ina und hat in ihrer Arbeit schon zahllose Erfahrungen gehört, wo genau das gelungen ist. „Eine meiner Lieblingsgeschichten ist die von Ulla und Edgar aus Koblenz“, erzählt sie „Im Rahmen unserer jährlichen Aktion ‚Weihnachten nebenan‘ hat Ulla ihre Nachbarinnen und Nachbarn über nebenan.de zum gemeinsamen Weihnachtsessen eingeladen. Mit am Tisch saß Edgar, 75 Jahre alt und verwitwet: Dies wäre sein drittes Weihnachten alleine in Folge gewesen – wäre da nicht Ullas Einladung gekommen.“

Ob solche schönen Geschichten geschehen und wie wohl wir uns in unserer Nachbarschaft fühlen, haben wir nicht immer vollkommen in der Hand. Aber wir können es mitbeeinflussen, indem wir auf Menschen zugehen, um Hilfe bitten, Unterstützung anbieten und danach fragen, was im eigenen Viertel gebraucht wird.

Gerade in einer unübersichtlichen Weltlage wie heute gewinnt das Lokale wieder stärker an Bedeutung: Wenn die Welt bedrohlich wirkt, ist es beruhigend, wenn das direkte Umfeld vertraut und wohlgesonnen ist. Eine gute Nachbarschaft sei als soziale Säule der Gesellschaft vor allem in Krisenzeiten wichtig, findet auch Ina Remmers: „Sei es die Restaurantbesitzerin um die Ecke, die uns mit Vornamen begrüßt, der Nachbar, der den Ersatzschlüssel der Wohnung hütet, oder die Nachbarschaftsgruppe, mit der wir gemeinsam den Stadtgarten pflegen – Nachbarschaften können in einer immer undurchsichtigeren und sich schnell verändernden Welt das Gefühl von Zugehörigkeit geben.“

GESELLSCHAFT IM KLEINEN

Es scheint, als sei die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Verbindung zu anderen in unserer von Individualität geprägten Gesellschaft heute größer denn je. Cindy Paukert vom Verleihladen sagt, sie beobachte, dass mit zunehmender finanzieller Unabhängigkeit auch die Einsamkeit von Menschen steige. Für sie herrscht in einer idealen Nachbarschaft die perfekte Mischung aus Individualität und Kollektivität: „Eine gute Nachbarschaft ist ein Ort, der Bedürfnisse eines Individuums erfüllt, aber ihm trotzdem Raum lässt. Man schaut auch hin, was uns als Gemeinschaft guttut und was wir tun können, um das Leben zusammen schöner zu machen. Man sollte sich menschlich begegnen und unterstützen, wo es möglich ist“, meint sie. Martine Postma glaubt, dass das eigene Wohnumfeld und das große Ganze sich beeinflussen: „Nachbarschaften sind unsere Gesellschaft im Kleinen. Wenn die Nachbarschaften nicht gut funktionieren, funktioniert auch die Gesellschaft als Ganzes nicht gut“, glaubt sie. Umgekehrt sei eine Nachbarschaft, in der man sich sicher und geschätzt fühlt ein Ort, an dem man etwas Gutes beitragen möchte: „Starke Gemeinschaften sind meiner Meinung nach entscheidend für eine nachhaltige Zukunft.“

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin.

„Manchmal fällt es mir schwer, optimistisch in die Zukunft zu schauen“

Der Moderator Willi Weitzel stellt nicht nur kluge Kinderfragen, sondern ist auch neugierig. Im Interview verrät er, was ihn bewegt und was ihm Hoffnung gibt.

Manchmal hat Willi Weitzel ein schlechtes Gewissen. So wie jetzt, als ein Cappuccino mit Kuhmilch vor ihm steht: Der Kaffee ist zwar bio, aber leider war die Hafermilch alle. Dabei ist ihm Nachhaltigkeit wichtig. Für viele ist Willi Weitzel, 49, immer noch der Moderator der Fernsehsendung „Willi wills wissen“, der von 2002 bis 2009 Familien die Welt erklärte. Neugierig, fröhlich, mit großen Augen. Auf der Höhe seines Erfolgs stieg er aus der Sendung aus und begab sich auf die Suche danach, wer er jenseits seiner Sendung eigentlich ist und sein möchte. Fragen stellen, reisen, die Welt erforschen und verrückte Ideen ausprobieren – das tut Willi Weitzel immer noch, als Reporter, Moderator, in seinen Vorträgen und Filmen. Aber sein Ton ist nachdenklicher geworden.

Nachhaltigkeit ist für dich ein wichtiges Thema. Du hast drei Töchter – wie lebt ihr das Thema als Familie?

Im Vergleich zu vor zehn Jahren hat sich schon viel getan. Bei uns gibt es zu Hause zum Beispiel keinen Fisch mehr aus dem Meer. Wenn, dann aus dem Ammersee, wo wir wohnen, oder aus geschützten Beständen. Ich lebe zu 90 Prozent vegetarisch, manchmal sind es auch hundert. Ich kann allerdings nicht immer auf Fleisch verzichten. Und ich weiß auch, woran das liegt: Weil wir viel von unserem Geschmack mit der Kindheit verbinden. Deswegen ist es auch mein Ziel, meinen Kindern Dinge auf den Tisch zu bringen, über die sie vielleicht in dreißig Jahren sagen: „Ach toll, heute gibt es wieder Falafelbällchen, wie früher beim Papa!“

Das klingt gut! Wie sieht es mit Wohnen und Mobilität aus?

Wir wohnen als Familie auf dem Land und beziehen hier Naturstrom. Leider haben wir es bisher als Mieter noch nicht geschafft, eine Solaranlage aufs Dach zu bekommen. Aber wir haben seit zwei Jahren ein Elektroauto. Das nutzen wir eigentlich nur, um von Dorf zu Dorf zu kommen und für den Kindertransport. Aber inzwischen sind 25.000 Kilometer drauf und ich bin dankbar, dass diese nicht in die Luft verpufft sind. Es ist nicht die Lösung aller Lösungen, aber etwas, das ich tun kann. Insgesamt ist es nicht so leicht, in den Medien das gute Vorbild zu erklären und das dann auch im Alltag zu leben. Manchmal denke ich auch: „Hoffentlich guckt jetzt keiner rein“, wenn ich mir noch eine Scheibe Wurst abschneide.

In deinen Filmen und Reportagen geht es neben Klimawandel oft auch um schwierige Themen wie Krieg, Flucht, Ausbeutung. Wie gelingt es dir, trotzdem eine gewisse Leichtigkeit zu behalten?

Ehrlich gesagt: Persönlich gelingt mir dieser Spannungsbogen nicht immer so gut. Manchmal fällt es mir schon schwer, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Zum Beispiel war ich für meinen Kinofilm „Willi und die Wunderkröte“ mit dem Wissenschaftler Martin Jansen vom Senckenberg-Forschungsinstitut im Süden Boliviens unterwegs. Dort habe ich wirklich ein Natur-Paradies entdeckt. Die vielen Bäume dort wurden inzwischen abgeholzt. Ein Rinderbaron wollte einfach noch mehr haben – schreckliche Realität. In solchen Momenten hilft mir
nur noch mein Optimismus. Ich wohne nicht weit vom Kloster Andechs. Der dortige Abt, Johannes Eckert, hat sein neuestes Buch über die Apokalypse geschrieben und die Quintessenz hat mich getröstet. Seiner Meinung nach ist es, wenn du Christ bist, nicht fünf nach zwölf. Es bleibt fünf vor zwölf. Daran orientiere ich mich. Weil ich ein Vorbild – auch für meine eigenen  Kinder – bin, versuche ich, einfach zu machen und mich nicht zu Tode zu grübeln.

Vor 13 Jahren, mit 36, hast du dir eine Auszeit bei „Willi wills wissen“ erbeten, weil du eine Pause brauchtest. Du bist damals einfach allein über die Alpen gewandert, vier Wochen lang. Wie war das?

Es war damals unglaublich befreiend, selbstbestimmt den Takt vorzugeben und aus der Maschinerie der Sendung herauszukommen. Es war ein Weggehen und Ankommen. Mit meinem Erfolg bei „Willi wills wissen“ hatte ich auch eine gewisse Eitelkeit entwickelt. Aber allein mit dem Rucksack, im Zelt, auf Hütten – das hat mich total geerdet und mich unglaublich glücklich gemacht. Die Welt unten im Tal und die Probleme waren oben auf dem Berg so klein. Und ich war dem Himmel näher als der Realität. In dieser Situation habe ich die Entscheidung getroffen, mit „Willi wills wissen“ aufzuhören. Für diesen Entschluss bin ich bis heute dankbar – und bereue ihn zugleich.

Du bist anschließend für einige Tage in ein Benediktiner-Kloster gegangen. Was hast du dir davon erhofft?

Ich glaube, ich wollte mir nochmal diesen Himmel, den ich in den Bergen erfahren hatte, in meine Nähe holen. Im Kloster konnte ich – abseits aller Alltagseinflüsse – mein Leben neu sortieren und die Weichen neu stellen, sowohl beruflich als auch privat. Aber eigentlich ging es nur um das Gewinnen, oder vielleicht auch Zurückgewinnen einer inneren Haltung. Wer bin
ich? Was will ich? Die Frage taucht ja nicht nur in meinem Leben auf. Streben wir nicht alle nach Zufriedenheit? Antworten und Wegbeschreibungen zu echter Zufriedenheit finden wir nur in uns selbst – und nicht in Büchern oder dem Internet.

Du warst früher Messdiener und Sternsinger, kamst dann zum Theologiestudium nach München. Den christlichen Glauben hast du mal als Wurzel bezeichnet. Warum lässt er dich nicht los?

Diese Wurzeln sind unglaublich stark, das merke ich. Obwohl ich es im Moment sehr schwierig finde. Ich bin den Katholiken ja schon seit 49 Jahren treu. Seit zwanzig Jahren heißt es:  „Wenn wir alle austreten würden, können wir nichts von innen heraus verändern.“ Leider ändert sich aber auch so nichts. Nun fangen die Ersten in leitenden Positionen an auszutreten und ich selbst hadere auch. Vor allem mit der katholischen Kirche aber auch mit meinem Glauben. Und trotzdem sind da diese Wurzeln, die schon früh in der Kindheit angelegt worden sind. Ich rieche den Weihrauch, höre das Te Deum – das schafft eine Gänsehaut und eine Anbindung. Die Frage ist: Werden die Wurzeln mich davon abhalten, mich weiterzuentwickeln? Oder geben sie mir vielleicht die Anbindung, die mich auch durch die gegenwärtigen Zeiten bringt? Es wird mich wahrscheinlich bis zum Lebensende so zwiespältig begleiten.

Du bist mit einem Esel 180 Kilometer von Nazareth nach Bethlehem gewandert. Wie kam es dazu?

Ich hatte in der Weihnachtszeit meiner damals fünfjährigen Tochter die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Auf ihre Frage, wie lange Maria und Josef dafür unterwegs gewesen waren, dachte ich, dass es doch eigentlich meine Aufgabe ist, solche Kinderfragen zu beantworten. Mein neues Projekt: zu Fuß von Nazareth nach Bethlehem, begleitet von einem Esel. Vor Ort fand ich nach zwei Tagen einen Esel, mit dem ich bis zum Westjordanland kam. Allerdings durfte er nicht mit über die Grenze, weil es auch schon bombenbeladene Esel gegeben hatte. Ich konnte mir dort einen anderen Esel kaufen, der mich bis in die Nähe von Jericho brachte. Leider ist er zwei Tagesetappen vor Bethlehem nachts abgehauen. Für das letzte Stück habe ich einen Beduinen gefunden, der mir seinen Esel zwar nicht verkaufen konnte, mich aber zwei Tage lang mit ihm begleitet hat. Nach zwölf Tagen hatte ich es endlich geschafft.

Das klingt wirklich abenteuerlich …

Was jetzt als fluffige Geschichte daherkommt, war vor allem eins: anstrengend. Ein Heidenrespekt, wenn Maria das hochschwanger gemacht haben soll! In der öden, heißen Wüste hatte ich das Gefühl nicht voranzukommen, denn alles sah gleich aus. So ging es auch meinem beduinischen Begleiter, der zehn Kilometer vor Bethlehem sagte, er kann nicht mehr, jetzt drehen wir um. Er hat nicht verstanden, warum ich bis nach Bethlehem wollte und sich geweigert. Ich sagte ihm, es sei ein heiliger Weg. Er fragte: „Like Hadj?“ (Also die berühmte Pilgerreise der Muslime). Ich sagte: „Ja!“ Er ging sofort und kommentarlos weiter bis nach Betlehem.

In welchen Momenten hast du den Glauben sonst besonders stark erlebt?

Vor einigen Jahren war ich mit meinem besten Freund in Jerusalem. Ich wusste, wenn morgens um fünf Uhr die Grabeskirche aufgeschlossen wird, ist noch niemand da. Wir standen also vor dem Grab und auf einmal guckte ein Mönch aus der Grabkammer heraus und lud uns ein, mit ihm zusammen Gottesdienst zu feiern. Das taten wir, übermüdet wie wir waren. Ich habe die Lesung gemacht und er hat uns Wein und Brot gegeben. Wir waren unglaublich bewegt und hatten danach sogar feuchte Augen, weil wir noch nie zuvor eine so intensive Glaubenserfahrung gemacht hatten.

Interview: Debora Kuder

Startup gegen den Hunger: Eine innovative Methode zum Gemüseanbau

Immer mehr Menschen hungern. Der Klimawandel verschärft das Problem noch weiter. Daniel Johansson und David Rösch haben mit „Global Food Garden“ neue Anbaumethoden für wasserarme Regionen entwickelt. Ein Lichtblick.

Es ist sonnig, als ich mich auf mein Fahrrad schwinge, um den „Global Food Garden“ zu besichtigen. Während ich durch Freiburg fahre, genieße ich die Gegend. Uns umgibt hier viel Grün. Wasser und fruchtbarer Boden ermöglichen eine hohe Lebensqualität. Ich muss daran denken, wie anders es in den Gebieten aussieht, für die der „Global Food Garden“ sich einsetzt. Regionen, in denen kaum etwas wächst und Dürreperioden es den Menschen schwer machen, sich ihre Lebensgrundlage zu erarbeiten.

Angekommen auf dem Freiburger Gelände fällt zuerst die große Hydroponik-Anlage aus leuchtend gelben Balken auf. Hinter großen Fensterscheiben sprießen zahlreiche Salatköpfe aus einer weißen Wand. Ich werde bald erfahren, dass diese Form des Gemüseanbaus der Anfang war von allem.

Wasser zielgenau nutzen 

Der gelernte Schiffsingenieur Daniel Johansson hörte von einem Kollegen davon. Aufgewachsen auf einem Schiff der christlichen Organisation OM hatte Daniel selbst mehrere Jahre auf einem solchen Schiff gearbeitet, bevor er 2010 mit seiner Familie in die deutsche OM-Zentrale nach Mosbach im Odenwald kam. Hier erfuhr er, dass sich mit dieser Methode Gemüse in Regionen anbauen lässt, in denen das mit herkömmlichen Herangehensweisen nicht oder kaum möglich ist.

In einem solchen hydroponischen System wachsen Pflanzen nicht in Erde, sondern in mit Nährstoffen angereichertem Wasser, was – so wie hier – auch einen vertikalen Anbau ermöglicht. Eine solche Anlage benötigt aber nicht nur weniger Raum, sondern vor allem bis zu 90 Prozent weniger Wasser als Äcker, da das Wasser zirkuliert oder zielgenau bereitgestellt wird, nicht aber versickert.

Die Vorstellung, mit solchen Systemen eine mögliche Antwort auf den Hunger in der Welt und die zunehmenden klimatischen Herausforderungen zu haben, ließ den heute 43-Jährigen nicht mehr los. „Mir ist es wichtig, einen guten Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen“, sagt er in unserem Gespräch. „Oft sind wir Christen schnell im Dagegen-sein, dabei wäre es doch viel besser zu sagen: Wir haben hier einen positiven Beitrag und eine Antwort.“

2018 kam er mit einem anderen Visionär ins Gespräch: David Rösch. Er träumte von einer Ausbildungsstätte, die junge, geflüchtete Männer für einen Ausbildungsplatz vorbereitet und ihnen damit eine berufliche Perspektive in Deutschland gibt.

Aus dem Gespräch wuchs eine Kooperation mit Zukunftsperspektive. David Röschs Projekt [p3]-Werkstatt hatte die nötigen Ressourcen für den Bau erster Hydroponik-Anlagen, während Daniel Johansson über Kontakte ins Ausland verfügte, um Gemüseanbau-Projekte zu starten und Menschen im Bereich der Hydroponik zu schulen. Genau genommen sind es also sogar zwei Projekte, die ich hier besichtigen darf.

Innovative Möbelstücke

Als wir die Halle von [p3] betreten, herrscht eine ruhige aber gesellige Atmosphäre. Es duftet nach frischem Holz. Moderne Möbelstücke sind zu sehen. Dass hier Wert auf Qualität und Design gelegt wird, fällt auf. An der Wand wachsen Zimmerpflanzen in einem langen Rohr – ebenfalls eine Hydroponik-Anlage, wie ich später erfahre. Mittlerweile sind schon in mehreren Freiburger Restaurants Anlagen dieser Art zu bestaunen.

In drei Werkstätten für Holz, Elektrik und Metall werden hier Schüler unterrichtet. Einige arbeiten gerade hochkonzentriert an Holzaufbauten für Fahrräder, die diese zu einer mobilen Küche oder einem fahrbaren Infostand machen. Seit 2019 werden hier auch Hydroponik-Anlagen entwickelt, gebaut und vertrieben. Ohne große Werbung kommen immer wieder Anfragen von Schulen, Restaurants und Firmen, die Pflanzen auf diese Weise anbauen wollen. Auch nach den hydroponischen Möbelstücken, aus denen Kräuter oder Zimmerpflanzen wachsen, herrscht rege Nachfrage. Innovative, nachhaltige Produkte, geeint mit einem starken Fokus auf das Soziale, kennzeichnet die [p3]-Werkstatt und macht sie damit zum perfekten Partner für Daniels “Global Food Garden”.

Mittlerweile wohnt Daniel mit seiner Familie im Schweizerischen Oberdorf im Baselland und hat zahlreiche Projekte mitgeholfen umzusetzen – mit hydroponischen oder anderen Anlagen, die Gemüseanbau in trockenen Regionen ermöglichen. In Kenia beispielsweise entstanden aus einfachsten Mitteln sogenannte „Wicking Beds”. Unter diesen Hochbeeten zirkuliert Wasser unter einem Erde-Mist-Gemisch. Überschüssiges Wasser läuft zurück und wird erneut ins Beet gepumpt. Sie wurden zur lokalen Attraktion, als es darin selbst in der Trockenzeit grünte und blühte.

Auch in einem abgelegenen Küstendorf in Grönland ist der „Global Food Garden“ aktiv. Normalerweise wird frisches Gemüse hier ausschließlich aus dem Ausland angeliefert. Nun soll bald mit einer Indoor-Farming-Anlage Gemüse vor Ort produziert werden, sodass lange Transportwege entfallen und nebenbei Arbeitsplätze entstehen. Eine Pilotanlage ist gebaut und wird aktuell noch getestet.

Während der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass neben den großen Anlagen, die im Bau und der Vorbereitung sehr abhängig von der Begleitung des “Global Food Gardens” sind, noch einfachere und möglichst unabhängige Lösungen hilfreich wären. Also reduzierte man die nötige Technik auf ein Minimum, sodass sie nun in eine Kiste passt. Mithilfe einer kleinen Solaranlage mit Akku wird hier die Pumpe eines hydroponischen Systems betrieben, das eine Nährlösung in den Pflanzbereich pumpt, wo die Wurzeln sie aufnehmen können, bevor überschüssiges Wasser zurück in den Wasserspeicher fließt. Rund 400 Euro kostet eine solche „Africa Food Garden Box“, die etwa 400 Gemüsepflanzen bewässern kann und so eine Familie mit Nahrung und einem kleinen Einkommen versorgt.

Bei einem Projekt in Nigeria hat sich jedoch gezeigt, dass es mit innovativen Anbaumethoden allein noch nicht getan ist. Es stellen sich auch Fragen nach geeigneter Lagerung, Transport und Verkauf des Gemüses, damit dieses tatsächlich auch seinen Weg zu den Menschen findet. Deshalb muss der „Global Food Garden“ ein Netzwerk mit einer Vielzahl an Akteuren sein.

Ausbildungszentren überall

Als Daniel vor ein paar Jahren überlegte, wie ein Vision Statement für sein Leben aussehen würde, wurde ihm klar: „Wenn ich am Ende alles aus eigener Kraft erreicht habe, dann habe ich zu wenig groß geträumt oder geglaubt.“ Ihm ist wichtig, das, was er angeht, mit Gottvertrauen zu tun: „Ich möchte erleben, wovon die Bibel spricht, nämlich dass wir noch Größeres als Jesus vollbringen dürfen.“ Für seine Arbeit mit dem „Global Food Garden“ hat er dabei ein biblisches Vorbild: Josef aus dem Alten Testament, der mit Gottes Hilfe und der Fähigkeit und Weisheit, die er ihm anvertraute, das ganze Land mit Nahrung versorgte.

So sehr Daniel Teamplayer ist und innovative Ideen hat – die Entwicklung von Geschäftsideen und Business-Entwicklung waren ihm bislang fremd. Doch nach und nach und nicht ohne Zweifel und Rückschläge fuchste er sich in die Sache hinein: „Wenn man sich gebrauchen lässt, gehen Türen auf“, ist er überzeugt – und: „Wenn ich das kann, dann können das auch andere.“ Er träumt von Ausbildungszentren überall auf der Welt, in denen Modellprojekte der verschiedenen Systeme gezeigt und gelehrt werden, damit für jede Region das passende System vermittelt werden kann.

Zahlreiche Qualifikationen und Berufsfelder schweben ihm vor: Vom Gemüseanbau und der Fischzucht über den Bau und Betrieb von Gewächshaussystemen bis zur Saatgutherstellung oder Lebensmittelveredelung wäre vieles denkbar. Auch hier befruchten sich die beiden Projekte wieder. „Eigentlich haben wir hier in Freiburg mit der [p3]-Werkstatt schon so ein Ausbildungszentrum im Kleinformat“, sagt Daniel. Die Ausbildungserfahrung, die [p3] bei der Arbeit mit Geflüchteten sammelt, die teilweise wenig oder keine Schulbildung haben, ist hilfreich für Projekte in Ländern mit geringem Bildungsstand.

Dorothee Bühler de Arcos ist Lehrerin in Freiburg. Mehr zum Global Food Garden: globalfoodgarden.de
Mehr zum Projekt [p3]: p3-werkstatt.de