Claudia Kemfert über den Dächern von Berlin

Nachhaltigkeit ist nicht gleich Verzicht: Expertin erklärt, wie Veränderung gelingen kann

Unser Leben ist CO₂-intensiv. Das möchte die Energieökonomin Claudia Kemfert ändern. Im Interview verrät die gefragte Wissenschaftlerin, wie Veränderungen gelingen können, was sie begeistert und weshalb sie die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgibt.

Frau Kemfert, Sie haben das Buch „Unlearn CO₂“ mit herausgegeben. Im Intro schreiben Sie, dass Sie eine Geschichte des Wandels erzählen und ein Kompass für den Weg aus der Frustration sein wollen. Außerdem setzen Sie sich das Ziel, Lust auf Veränderung zu machen. Wie machen Sie das?

Claudia Kempfert: Die Motivation zum Buch bestand genau darin, rauszukommen aus dieser Frustrationsfalle. Im Moment hören wir zuhauf negative Nachrichten. Wir wollen mit dem Buch zeigen: Ja, es gibt eine lebenswerte Zukunft. Dazu gehört es, Freude zu machen und auf die vielen positiven Möglichkeiten hinzuweisen. Das Buch ist letztlich ein Kompass, um aus der Frustration herauszufinden. Es befinden sich viele Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und einem breiten Spektrum darin. Ich selbst habe ein positives Bild von der Zukunft. Am Ende des Tages geht es darum, dass wir die Umwelt und das Klima schützen sowie eine gesunde und lebenswerte Welt erhalten.

Weniger CO2, mehr Gesundheit

Ihr Buch wagt einen umfassenden Blick. Weshalb und was hat Sie darin bestärkt?

Ja, wir wollten unbedingt unterschiedlichste Perspektiven einbringen. Wie Verbraucher sich nachhaltiger verhalten und dass es eine Transformation hin zu mehr erneuerbarer Energie braucht, ist vielen geläufig. Doch wir zielen darauf ab, die Perspektive zu erweitern. Was ist etwa mit dem Bereich der Fast Fashion? Hier gibt es viele Probleme, die angepackt werden können. Oder das Thema Ernährung und Gesundheit – hier verschärft der Klimawandel die weltweite Lage. Darüber hinaus finden sich viele relevante Themen. Der umfassende Blick ist nötig, um zu einer klimaneutralen Welt zu gelangen.

„Unlearn CO₂“ heißt übersetzt „CO₂ verlernen“. Kann man das überhaupt? Oder ist das eher ein naiver Wunsch?

Nein, das ist möglich! Im Buch beschreiben die Autorinnen und Autoren, wie es geht. In den unterschiedlichen Bereichen – vom Auto bis zur Mode – ist viel Veränderung möglich. Insofern ist es möglich, CO2 zu verlernen – auf eben ganz unterschiedliche Art und Weisen.

Unser Lebensstil ist eben noch sehr CO2-intensiv und das gilt es zu verändern. Wenn wir das schaffen, haben wir eine bessere Gesundheit und sauberere Luft. Letztlich bedeutet CO2 verlernen, sich und der Gesellschaft Wohlbefinden und auch Glück zu erarbeiten.

Verändert denken

Anknüpfend an das Glück: Im Vorwort schreiben Sie davon, dass eine klimaneutrale Welt immer nachhaltiger, gesünder und sozial gerechter wird. Vermutlich geht da die Mehrheit der Bevölkerung mit. Doch ein Veränderungswunsch ist weniger ausgeprägt. Wie kann dieser angeregt werden?

Wir wollen die Angst vor Veränderungen nehmen. Wir alle verändern uns im Laufe des Lebens – wir selbst sowie die Generationen. Und auch größer: Es gibt einen Strukturwandel aus volkswirtschaftlicher Perspektive. Es gibt neue Technologien, umwälzende Veränderungen – auch im eigenen Leben.

Doch: Veränderungen sind nichts Negatives, sondern können auch etwas Positives sein. Es ist doch gut, wenn Veränderungen geschehen, hin zu einem gerechteren, gesünderen und glücklicheren Leben. Da gibt es eigentlich keine Ausreden mehr. Dass Veränderungen negativ sind, wird leider dennoch viel geäußert. Es ist hilfreich, hier einen Weg aufzuzeigen und aus klassischen Wirtschaftsinteressen rauszukommen. Hier gilt es, nicht nachzulassen und positive Schritte zu gehen.

In Ihrem Kapitel über Wachstum schreiben Sie: „Mehr Wirtschaftswachstum heißt mehr Energieverbrauch heißt mehr CO₂-Emission heißt mehr Klimakrise.“ Also ist Wachstum das Problem?

Ja, das ungebremste Wachstum, welches den Planeten zerstört, ist das Problem. Hier braucht es Veränderung hin zu einem nachhaltigen Wachstum.

Drei Komponenten sind entscheidend. Die Effizienz: Die Wirksamkeit kann erhöht werden. Die Suffizienz: Es braucht gesunde Schrumpfungsprozesse. Und die Konsistenz: Mehr Kreislaufwirtschaft und die Recyclingfähigkeit der Wirtschaftswelt. Die drei Komponenten gehören zusammen. Die Hinwendung zu einem nachhaltigen Wachstum bedeutet übrigens nicht gleich Verzicht. Stattdessen stellen wir uns besser auf und machen die Wirtschaft nachhaltiger und damit zukunftsfähig.

Haben denn Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft verstanden, dass es diese drei Komponenten braucht und diese gut austariert werden müssen?

Wenn wir allein von dem Wachstumsbegriff ausgehen und wie er auch in den Narrativen in all unseren Köpfen drin ist, muss man sagen: nein. Bislang ist es nicht gelungen, andere Indikatoren zu etablieren, die ein nachhaltiges Wachstum darstellen. Und auch die mediale Darstellung ist noch schief: Statt kurz vor der Tagesschau um 20:00 Uhr Börsenkurse zu zeigen, wäre es doch eine Idee, zu zeigen, wie es unserem Planeten und damit letztlich auch der Menschheit geht und warum. Kurz: Die bisherigen Merkmale, wie etwa auch das Bruttosozialprodukt (BIP), bauen auf einen schädlichen Wachstumsbegriff. Es gibt etliche alternative Indikatoren, die aber noch nicht ausreichend verwendet werden.

Es gibt viel Positives

Sie schreiben außerdem, man müsse Werbung machen für lebendige Natur, frische Luft, eine Stadt der kurzen Wege, faire Preise und ein friedliches Miteinander als lebenswerte Zukunft …

Ja, es wäre schön, wenn Werbung positive Beispiele und Entwicklungen anpreisen würde, so wie es für so viele Dinge Werbung gibt. Großartig wäre es, wenn wir wegkommen von den Erzählungen, die uns immer in die Bewahrung der Vergangenheit zwingen. Besser ist es, wenn wir in die positive Zukunft blicken und wir uns dahin bewegen können. Hier kann die Zivilgesellschaft eine große Rolle spielen.

Sie wirken überzeugt. Frau Kemfert, was begeistert Sie persönlich an einer klimaneutralen, nachhaltigen und sozial gerechteren Welt?

Mich begeistert alles daran. Seit mehr als 30 Jahren beschäftige ich mich mit der ganzen Thematik und schon früh habe ich erkannt, dass wir so nicht weitermachen können.

In vielen Studien habe ich untersucht, welche Wege wir beschreiten müssen, um in eine lebenswerte Zukunft zu gehen. Die Zerstörung und all das Schlimme bewegen mich, noch überzeugender zu sein, denn ein anderes Leben ist möglich. Es treibt mich an und ich finde es wichtig, dass wir darüber sprechen und viele Menschen darüber Bescheid wissen.

In Energie- und Klimadebatten sind Sie eine wichtige Stimme in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Sind Sie zufrieden damit?

Ich bin glücklich, dass ich einen Beruf habe, der mir unglaublich viel Spaß macht. Mein Motto ist: Suche dir einen Beruf, den du liebst und du brauchst nie in deinem Leben zu arbeiten. So habe ich das große Privileg und den Luxus, an Themen zu arbeiten, die mir unglaublich viel Spaß machen. Und die Erarbeitung eben dieser Erkenntnisse ist das, was mich jetzt auch seit Jahrzehnten antreibt und glücklich macht.

Seit 2021 sind Sie außerdem auch Podcasterin und betreiben beim MDR „Kemferts Klima-Podcast“. Was motiviert Sie dabei?

Mir macht es Freude, unterschiedliche Perspektiven aufzuzeigen und selbst durch die Zuhörer bereichert zu werden. Wir gehen im Podcast oftmals sehr aktuellen Themen nach und besprechen die Entwicklungen.

Natürlich dürfen auch neue Studien nicht fehlen. Spannend sind immer die Fragen der Hörer. Es macht Spaß zu hören, was die Menschen so umtreibt und welche Fragen sie haben. Die Begeisterung der Hörerschaft steckt an.

Politische Rahmenbedingungen verbessern

Wenn wir schon bei aktuellen Themen sind: Was denken Sie zur Klimakonferenz in Baku, die im November 2024 stattfand? Braucht es überhaupt solche Konferenzen?

Von der Klimakonferenz in Baku konnte man von vornherein nicht allzu viel erwarten. Die Präsidentschaft hatte mit Aserbaidschan ein Öl- und Gasland inne. Zum Start der Konferenz sagte der Staatschef, Öl und Gas seien ein Geschenk Gottes. Das war auch das Man­tra dieser Konferenz.

Die schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet: Die Ergebnisse der Konferenz waren nicht im Ansatz ausreichend, um die Klimakrise abzuwenden. Aber dennoch halte ich es für sinnvoll, dass solche Konferenzen stattfinden – und auch in der Regelmäßigkeit. Es ist überlegenswert, ob man nicht auch unterschiedliche Geschwindigkeiten der Handlungen einbaut: Denn es gibt Länder der Willigen, die dann schneller vorangehen wollen, denen man noch mehr Aufgaben zutraut als Bremsern oder welchen, die leiden. Ziel muss sein, einen zielführenden Weg zu zeichnen, um schneller vorwärtszukommen.

In Deutschland ist die Ampel-Koalition zerbrochen. Eine neue Wahl bringt neue Verhältnisse. Kann daraus etwas Positives für die Klimapolitik entstehen?

Das Ampel-Aus im November 2024 kam zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, um eine Regierungskrise zu haben. Gerade in Zeiten, in denen die Amerikaner eine Rolle rückwärts machen in so vielerlei Hinsicht.

Es ist wichtig, dass Europa stark ist und sich gut positioniert. Und nicht vom Klimaschutz abrückt. Nach der Neuwahl hoffe ich darauf, dass sich schnell eine Regierung bildet, die in Richtung Nachhaltigkeit unterwegs ist. Beim Klimaschutz habe ich durchaus etwas Hoffnung. Denn nahezu jede Partei hat sich verpflichtet, für Klimaschutz einzustehen. Da erwarte ich, dass das dann auch in Taten umgesetzt wird. Denn hier muss schnell sehr viel passieren.

Glauben Sie daran, dass Deutschland im Jahr 2045 klimaneutral sein wird?

Ja! Wir und viele andere Forschungseinrichtungen haben in etlichen Studien gezeigt: Deutschland kann 2045 klimaneutral sein. Das Ziel kann sehr wohl gut erreicht werden, wenn jetzt nicht Prozesse rückabgewickelt werden. Wichtig ist, dass wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien nicht nachlassen. Barrieren, die jetzt mühselig abgebaut wurden, dürfen nicht wieder aufgebaut werden. Stabile politische Rahmenbedingungen sind entscheidend – sie geben Planbarkeit und damit auch Investitionssicherheit für Unternehmen. Dann sind die Ziele 2045 auch erreichbar.

Was schenkt Ihnen Hoffnung?

Dass sich die meisten politischen Akteure das Klimaneutralitätsziel 2045 verpflichtend ins Programm geschrieben haben. Daran müssen sie sich messen lassen, aber die Grundlage ist gegeben. Mein großer Wunsch und meine größte Hoffnung ist, dass wir Zukunftsfähigkeit gewinnen. Heißt: Dass wir als Wirtschaftsmacht durchaus mit Umweltschutz, mit Klimaschutz und mit einer grünen Technologie und Wirtschaft punkten können. Und dass wir die Wettbewerbsnachteile wieder aufholen. Dann können wir das Ansehen der Welt auch wieder genießen.

Vielen Dank für das Interview!

Die Fragen stellte Johannes Schwarz. Er leitet die andersLEBEN-Redaktion.

 

Claudia Kemfert ist eine der wichtigsten deutschen Wissenschaftlerinnen für Energie- und Klimaökonomie. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Leuphana Universität. Seit 2016 gehört Kemfert dem Sachverständigenrat für Umweltfragen an und berät somit die deutsche Bundesregierung. Sie ist eine mehrfach ausgezeichnete Spitzenforscherin, gefragte Expertin für Politik und Medien und Bestsellerautorin.

Mehr zum Buch „Unlearn CO₂ – Zeit für ein Klima ohne Krise“

Das fossile System bröckelt. Ein Klima ohne Krise ist in Reichweite. Was es jetzt braucht: dass die Gesellschaft endlich die Abhängigkeit von CO2 verlernt – und zwar in allen Bereichen unseres Lebens. In diesem prominent besetzten Sammelband präsentieren Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis, Journalismus und Aktivismus vielfältige Lösungen, mit denen wir das fossile System überwinden können. In konstruktiven und fachlich fundierten Essays zeigen sie Wege in eine klimagerechte Zukunft.

Claudia Kemfert, Julien Gupta, Manuel Kronenberg (Hrsg.): Unlearn CO₂ – „Zeit für ein Klima ohne Krise“ (ullstein)

Kemferts Klima-Podcast

Seit 2021 produziert der MDR Aktuell den „Kemferts Klima-Podcast“, Moderatoren sind Theresa Liebig und Marcus Schödel. Hier bespricht Claudia Kemfert aktuelle Studien zum Klimawandel und ordnet sie ein. Sie beobachtet die deutsche Klimapolitik und bewertet sie. Die Klimaökonomin gibt im Podcast außerdem Tipps für ein nachhaltigeres Leben.