Schlagwortarchiv für: Nachhaltigkeit

Echelon IMG / iStock / GettyImages Plus

Eigentlich müsste niemand hungern

Ein Drittel unserer Lebensmittel landet im Müll. Almut Völkner erklärt, was das bedeutet und was wir dagegen tun können.

Wäre das nicht absurd? Wir backen einen leckeren Kuchen. Dann lösen wir ihn aus der Form und dritteln ihn. Ein Drittel des Kuchens packen wir auf einen schönen Teller. Damit gehen wir aber nicht zur Nachbarin und auch nicht zu Freunden. Nein, wir gehen damit zur Mülltonne und schmeißen ihn weg.

Zwei Milliarden mehr ernähren

Mir tut diese Vorstellung weh. Doch laut Welternährungsorganisation passiert genau das im übertragenen Sinne tagtäglich: Ein Drittel aller Lebensmittel weltweit landet im Müll. Bei einem Kuchen können wir uns ein Drittel gerade noch vorstellen. Doch denkt man globaler, kommt man schnell auf unfassbare Zahlen, die in vielen Ländern Schätzungen bleiben müssen, weil Daten fehlen. Doch in Deutschland musste das Bundesregierung die Zahlen gerade an die EU-Kommission melden: 10,92 Millionen Tonnen sind 2020 allein in Deutschland auf dem Müll gelandet. 10.920.000 Tonnen. Das sind 10.920.000.000 Kilogramm. In der Schweiz sind es Laut ETH Zürich 2.800.000.000 Kilogramm. Und all das sind eindeutig zu viele Nullen.

Mich machen diese Zahlen absolut fassungslos. Ich wusste, dass viele Lebensmittel weggeworfen werden. Aber wie enorm hoch diese Zahlen sind, das weiß ich erst seit Kurzem. Lebensmittelverschwendung ist ein ethisches Problem. Das würden viele so sehen. Aber wie absurd es ist, zeigt sich, wenn man einen Blick auf wichtige Zahlen wirft: Von 7,9 Milliarden Menschen auf der Erde haben laut Welthunger-Index 2021 über 800 Millionen nicht genug zu essen. Mehr als jeder zehnte Mensch auf diesem Planeten leidet Hunger. Während wir Lebensmittel wegschmeißen. Genau genommen könnten wir laut Welternährungsorganisation sogar zwei Milliarden Menschen mehr ernähren, wenn Lebensmittel, die noch genießbar sind, nicht weggeworfen würden. Denn wie wir alle gerade erst am Beispiel von Weizen und Sonnenblumenöl vorgeführt bekommen haben, gehören auch Lebensmittel zum globalen Welthandel. Je mehr wir verschwenden und damit verbrauchen, desto höher die Nachfrage und die globalen Preise.

Einsparpotenzial: Ein Sechstel der Fläche

Neben den skandalösen Hunger-Zahlen sind auch die vergeudeten Ressourcen ein Problem. Denn für die Lebensmittel, die in Landwirtschaft und Industrie, im Handel, in Restaurants und in privaten Haushalten weggeworfen werden, wurden jede Menge Wasser, Energie und ganze Hektare an Land verbraucht. Laut einer Studie des WWF Deutschland könnte durch vermeidbare Lebensmittelverluste eine Fläche von über 2,6 Millionen Hektar eingespart werden – fast 15 Prozent der gesamten Fläche, die wir in Deutschland für unsere Ernährung benötigen. Auch das Klima wird zusätzlich belastet. Schätzungen zufolge entstehen acht bis zehn Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen für Nahrungsmittel, die nie gegessen werden. Im „Food Waste Report 2021“ erklärt das Umweltprogramm der Vereinten Nationen: „Wenn der Verlust und die Verschwendung von Lebensmitteln ein Land wären, wären sie die drittgrößte Quelle von Treibhausgas-Emissionen.“

Die deutsche Bundesregierung will mit einer „Nationalen Strategie gegen Lebensmittelverschwendung“ gegen das Problem vorgehen. Die Wertschätzung für Nahrungsmittel soll in der gesamten Kette von Ernte über Verarbeitung und Handel bis zu Privatpersonen und Gastronomie geschärft werden. In der Schweiz hat der Bundesrat gerade im April einen Aktionsplan verabschiedet mit dem Ziel, die Verschwendung bis 2030 gegenüber 2017 zu halbieren.

Private Haushalte verursachen besonders viel Biomüll

Einer, der ganz dringenden Handlungsbedarf sieht, ist der Nürnberger Jesuit Jörg Alt. Im Dezember 2021 hat er sich einer Aktion zum sogenannten „Containern“ angeschlossen. Dabei werden aus den Müllkübeln von Supermärkten noch genießbare Lebensmittel geholt, um sie zu verwerten und vor der Vernichtung zu retten. Juristisch ist das Diebstahl, weil auch der Müll den Supermärkten gehört. Um auf die Sache aufmerksam zu machen, hat Pater Alt nach seiner Container-Aktion Anzeige gegen sich selbst erstattet und damit medial einige Öffentlichkeit erregt.

So weit muss vielleicht nicht jeder gehen. Aber dass alle einen Beitrag leisten können, zeigen die Zahlen: Denn 59 Prozent der 10,92 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle fielen in privaten Haushalten an. Abfälle, für die wir übrigens natürlich auch bezahlt haben. Ein Großteil davon waren Obst und Gemüse, gefolgt von Backwaren, Getränken und Milchprodukten, aber auch fertig zubereitete Mahlzeiten landen regelmäßig im Müll. Insgesamt produzieren wir im Schnitt somit 78 Kilo Lebensmittelabfälle pro Kopf und Jahr.

Deshalb will ich mir die Frage gefallen lassen: Was kann ich selbst dafür tun, um Lebensmittel wertzuschätzen und weniger wegzuschmeißen?

Das kann ich tun

Die Grundregeln: Einkäufe gut planen, einen Einkaufszettel erstellen, einen Überblick über die Vorräte behalten, nicht zu Spontankäufen oder Großpackungen verlocken lassen, sondern nur das in den Einkaufskorb legen, was wirklich gebraucht wird. Die richtige Lagerung hilft, dass Lebensmittel nicht verderben, sondern möglichst lange halten. Bei abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum nicht sofort ans Wegwerfen denken, sondern genau hingucken, dran riechen, probieren.

Als Familie starteten wir vor einigen Jahren das Experiment „ewiger Speiseplan“: Dafür haben wir Mahlzeiten für zwölf, später für 16 Wochen festgelegt, deren Reihenfolge sich dann immer wiederholt. So lässt sich der Wocheneinkauf gut planen. Frische Zutaten kaufen wir am Tag davor dazu. Mittlerweile kenne ich fast alle Rezepte auswendig und weiß genau, was wir benötigen, sodass kaum Reste übrigbleiben. Weiterer Vorteil: Das ewige Nachdenken, was man heute kochen könnte, entfällt. Flexibilität erhalten wir uns durch Wunsch- und Saisontage.

Und sollte doch mal etwas übrigbleiben vom Mittagessen, schaue ich gern auf der Website Restegourmet.de nach, auf der man Rezepte nach den Zutaten suchen kann, die man aufbrauchen möchte. Auch bei Frag-Mutti.de finden sich viele alltagstaugliche Rezepte zur Resteverwertung. Ähnlich funktioniert die App von „Eat Smarter“.

Seit einer Weile sind wir zudem Fans der App „To Good To Go“. Bäckereien und Läden bieten dort zu günstigen Preisen meist Backwaren und frische Produkte an, die sonst weggeworfen werden würden.

Wer noch engagierter ist, kann sich bei Foodsharing.de registrieren. Privatpersonen holen hier bei Betrieben, die mitmachen, Lebensmittel ab und geben sie an andere weiter, oft zu festen Zeiten, an festen Orten, sogenannten Fairteilern. Bei allen guten Ideen: Vor allem hilft das Bewusstsein, dass Lebensmittel etwas Wertvolles sind. Dass für ihre Herstellung sehr viele Ressourcen gebraucht und verbraucht werden und wir einen großen Beitrag dazu leisten können, Lebensmittelverschwendung einzudämmen.

Almut Völkner schreibt unter almut-wortkunst.de

Schon abgelaufen – trodem genießbar?

Dran schnuppern und probieren sollte man immer, aber die meisten Lebensmittel in unbeschädigten Verpackungen sind auch über das Haltbarkeitsdatum hinaus noch gut.

Sehr viel länger haltbar:
Salz, Zucker, Marmelade, Honig, Konserven, trockene Hülsenfrüchte, Senf, eingeschweißter Kaffee und Kakao

Meistens länger haltbar:
Nudeln, Mehl, Süßwaren, Knabberkram, Eis, Eingemachtes, Reis, H-Milch

Sorgfältig prüfen:
Milchprodukte, Säfte

Extrem kritisch sein:
Fleisch, Wurst, Fisch, Nüsse

7 Tipps gegen Food Waste

• Einkäufe planen
• Vorräte vorher checken
• An den Einkaufszettel halten
• Spontankäufe und unnötige Großpackungen meiden
• Lebensmittel richtig lagern
• Abgelaufenes nicht automatisch wegwerfen, sondern auf Genießbarkeit prüfen
• Rezepte finden, um Reste zu verwerten

Lebensmittelabfälle

10,92 Mio. Tonnen pro Jahr in Deutschland

59 % private Haushalte
17 % Gastronomie
15 % Lebensmittelverarbeitung
7 % Handel
2 % Landwirtschaft

(Quelle: Statistisches Bundesamt)

Vermeidbare Lebensmittelverschwendung in privaten Haushalten

4,0 % Fleisch & Fisch

6,9 % Sonstiges

5,9 % Fertigprodukte

8,9% Milchprodukte

11,9% Getränke

14,9 % Zubereitetes

12,9 % Backwaren

34,7 % Obst & Gemüse

(Quelle: Gesellschaft für Konsumforschung 2020)

Kathrin Lederer backt Brote, Foto: Johanna Ewald

Kathrin will grüner leben – mit fünf Kindern!

Kathrin Lederer möchte in ihrer Großfamilie nachhaltig leben. In manchen Aspekten klappt das super, in anderen so gar nicht.

Den Tag X, an dem wir beschlossen, unser Leben komplett umzustellen, gibt es nicht. Nachhaltiger zu leben, war eine langsame Entwicklung, die uns auch heute mal mehr und mal weniger gut gelingt. Ein nachhaltigeres Leben verstehe ich dabei allumfassend: Es geht mir nicht nur darum, weniger gelbe Säcke an die Straße zu stellen, um mich gut zu fühlen.

Mein Herzensanliegen ist, die Menschen hinter den Produkten zu sehen, weniger Ressourcen zu verbrauchen, so gut es eben geht, nicht auf Kosten anderer zu leben, soziale Gerechtigkeit zu fördern und dabei realistisch weiter unseren Familienalltag mit meinem Mann Frank und unseren fünf Kindern zwischen zwei und 18 Jahren zu leben. Anfänglich war ich die treibende Kraft unseres Wandlungsprozesses. Inzwischen ist es ein Familienprojekt – oder vielmehr eine Familienhaltung – geworden.

Suppe, Seife, Seelenheil

Als Jugendliche hörte ich zum ersten Mal vom alten Leitsatz der Heilsarmee: „Suppe, Seife, Seelenheil“. Erst sollen die elementaren Grundbedürfnisse eines hilfesuchenden Menschen gesichert werden („Suppe“), dann soll dieser Mensch Unterstützung darin bekommen, Ordnung in sein Leben zu bringen und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren („Seife“) und erst wenn eine Beziehung zu dem Menschen aufgebaut wurde, vom Glauben zu erzählen („Seelenheil“).

Diesen Ansatz finde ich großartig und gut übertragbar auf das, was mich immer wieder antreibt: Es ist mir ein Anliegen, dass alle Menschen dieser Erde satt werden („Suppe“), dass jeder Mensch ein Dach über dem Kopf und Zugang zu Medizin und Bildung bekommt („Seife“) und jeder Mensch frei entscheiden darf, an wen und was er glaubt („Seelenheil“). Dazu möchte ich meinen kleinen Beitrag leisten – wohlwissend, dass ich die Welt nicht komplett verändern werde durch mein Verhalten. 

Haarseife statt Shampoo war ein No-Go

Ich wünsche mir, dass wir es als Eltern durch praktisches Vorleben schaffen, unsere Kinder dafür zu sensibilisieren, woher unsere Nahrung kommt und dass es viele Menschen gibt, die es so viel schlechter haben als wir. Ich würde ihnen gern zeigen, dass wir einen kleinen Beitrag leisten wollen, um diese Ungerechtigkeit zu lindern, zum Beispiel durch unser nachhaltigeres Leben, aber auch durch Kinderpatenschaften, Spenden an Hilfsprojekte und unsere Gebete. Ich glaube, es ist wie bei allen Dingen im Leben: Wofür wir uns interessieren, das prägt unser Denken, unser Handeln. Womit wir uns im Internet beschäftigen, wen wir bei Instagram abonnieren, das formt uns mit. 

In den letzten Jahren haben wir als Familie sehr viel ausprobiert. Einiges haben wir auch wieder verworfen. Haarseife statt Shampoo zum Beispiel ging gar nicht. Danach probierten wir festes Shampoo. Das funktioniert bei manchen der Familienmitglieder, bei anderen nicht. Jetzt haben wir festes Shampoo und zusätzlich flüssiges im Zehn-Liter-Kanister, das wir selber abfüllen. Auch Zahnputztabletten fanden wir alle fürchterlich. Dank Unverpacktladen kaufen wir jetzt Zahnpasta, die wir uns in eine Glaspumpflasche abfüllen.

Die mit viel Liebe von mir zubereitete Hafermilch wurde von allen verschmäht, ebenso der selbst gemachte Frischkäse (obwohl ich ihn schon ganz hinterlistig in einer leeren Frischkäsedose serviert habe!). Viele andere Ideen, um nachhaltiger zu leben, sind aber inzwischen zur Routine geworden und gar nicht mehr anders denkbar für uns. 

Keine Erdbeeren im Winter

Wir begannen damit, Schokolade und Brotaufstriche nur noch fair gehandelt zu kaufen. Die Kinder haben es sich inzwischen zur Challenge gemacht, wer zuerst die Fairtrade-Marken im Regal findet. Wir beschäftigten uns damit, woher Obst und Gemüse kommen und verzichten beispielsweise auf weit gereiste Erdbeeren im Winter. Für mich war es irgendwann eine logische Konsequenz, Vegetarierin zu werden. Der Rest der Familie isst nun sehr wenig und dafür gutes Fleisch direkt vom Erzeuger.

Und dank Milchtankstelle und Supermärkten, in denen man eigene Dosen mitbringen kann, ist es mittlerweile viel einfacher geworden, nachhaltig einzukaufen. Vor allem in den überall eröffnenden Unverpacktläden hole ich mir ganz viele Ideen und auch als Neuling kann man ganz unkompliziert mit zwei bis drei Produkten anfangen, die man sich abfüllt.

Schnäppchen gibt es Secondhand

Bei sieben Personen, von denen fünf noch in der Wachstumsphase stecken, sind Kleidung und Schuhe ein großes Thema. Vor vielen Jahren startete ich den Selbstversuch, in der Fastenzeit keine Kleidung für mich zu shoppen. Ich fand das damals megaschwer auszuhalten. Als ich für mich reflektierte, warum mir das Einkaufen von Kleidung so viel bedeutete, habe ich festgestellt, dass Shoppen ein Belohnungsprinzip für mich war nach dem Motto: „Du hast die letzten Wochen so viel für die Prüfungen gelernt, jetzt darfst du dir auch was Schönes kaufen.“ Das Wissen um all die Kleidermüllberge in der Welt und das Betrachten meines völlig überfüllten Kleiderschrankes hat mich dann überzeugt, etwas zu ändern.

Schnell habe ich festgestellt, dass ich dank Klamottenbörsen, Secondhandläden und Webseiten wie Kleiderkreisel trotzdem nicht in den immer selben Outfits herumlaufen muss. Heute kaufen wir fast ausschließlich Secondhandkleidung oder selten auch Fairtrade-Neuware. Selbst die Kinder (wir haben drei sehr modebewusste Pubertiere zu Hause!) finden es völlig ok, sich im Internet und Secondhandladen einzudecken. Auch Möbel, Fahrräder und Küchengeräte finden wir eigentlich fast immer gebraucht über Ebay-Kleinanzeigen und freuen uns total, wenn wir geniale Schnäppchen machen. 

Waschmittel zum Selbermachen

Ich habe festgestellt: Je länger ich mich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftige, desto einfacher wird die Umsetzung. Vieles stelle ich heute völlig routiniert und ohne weiteren Aufwand selber her: Kastanienwaschmittel (den Kindern macht das Sammeln ohnehin Spaß) und flüssiges Waschmittel (da können die Kids super die Seife raspeln …). Ich backe Brot und Brötchen (das spart unheimlich viel Geld!) und stelle Nudeln selber her.

Mit dem Obst zweiter Wahl vom Wochenmarkt, das supergünstig und dabei immer noch richtig gut ist, koche ich Marmeladen ein. Unser Eigenanbau im Garten war bisher nur sehr mäßig erfolgreich, deshalb freue ich mich über Felder, auf denen wir je nach Saison Erdbeeren oder Heidelbeeren selber pflücken. Dazwischen blüht noch der Holunder und ich kenne keine günstigere, köstlichere Limonade als kaltes Mineralwasser mit Holunderblütensirup und Zitronenscheiben – und alle unsere Gäste lieben sie ebenfalls. 

Gespräche über modernen Sklavenhandel

Ich freue mich immer sehr, wenn die Kinder beim Ernten sehen, wie die Früchte wachsen, wir uns die Bäuche vollschlagen mit Vitaminen und danach gemeinsam im Auto besprechen, was wir mit unserer Ernte nun alles anstellen können. In diesem Sommer war die Erdbeerernte etwas ganz Besonderes: Bewaffnet mit Getränken, Sonnenschutz und unseren Körben betraten wir das Feld zum Selberpflücken und begegneten vielen fremdländisch aussehenden Erntehelfern.

Unsere elfjährige Tochter war ganz verwundert, all diese Menschen zu sehen, die in der prallen Sonne pflückten, und sie fragte mich, warum sie denn alle hier seien. Es folgte ein langes Gespräch über die Bedingungen von Erntehelfern, über die Gründe, warum viele dieser Menschen extra für die Ernten nach Deutschland kommen, über soziale Ungerechtigkeit und modernen Sklavenhandel. Es war noch tagelang Thema bei uns. 

Abschminkpads für Menschen in Not

Beim Selbermachen frage ich mich oft: Was kann ich damit Gutes tun? Irgendwann habe ich meine Stapel alter Handtücher betrachtet und angefangen, daraus waschbare Abschminkpads zu nähen.

Das geht total schnell und ich freue mich inzwischen jeden Tag beim Reinigen meines Gesichtes über diese tollen, bunten Mini-Quadrate, die Wegwerf-Pads überflüssig machen. Über Facebook habe ich sie außerdem gegen eine Spende für ein soziales Projekt verkauft. Unsere Kinder durften die bestellte Ware mit einpacken und zur Post bringen. Sie freuen sich bei diesen Projekten immer riesig, wenn wir Bilder anschauen können, die zeigen, was mit dem Geld Sinnvolles passiert ist und wie Menschen in Not konkret Hilfe erfahren haben.

Einkochen wie zu Omas Zeiten

Ich freue mich sehr, dass es immer noch neue Ideen gibt, die ich ausprobieren kann. Mein neuestes Projekt ist das Einkochen wie zu Omas Zeiten. In unserem Großfamilienhaushalt stehe ich ohnehin oft in der Küche, große Töpfe habe ich sowieso und Marmeladengläser sammle ich schon seit Jahren.

Dem Internet und seinen Interessengruppen sei Dank, füllen sich unsere Vorratsschränke nun immer mehr mit eingelegtem Paprika, Apfelmus, fertigen Rinderrouladen, gebackenen Kuchen, Pflaumenkompott … Ich jedenfalls freue mich darüber wie bekloppt. Und nachhaltig zu leben, darf ja auch ein bisschen glücklich machen, finde ich.

Kathrin Lederer ist Sozialpädagogin und lebt mit ihren fünf angenommenen Kindern und Ehemann Frank in Delmenhorst in der Nähe von Bremen. Auf Instagram ist sie zu finden unter @dielederers, außerdem bloggt sie unter herzeltern.de.

Symbolbild: Getty Images / iStock / Getty Images Plus / Christian Horz

Kommentar: Grüne Energien nicht übersehen!

Wie können wir Energie sparen? Diese Frage ist spätestens jetzt hochaktuell. Für Redakteurin Anja Schäfer gehen die Überlegungen jedoch in die falsche Richtung.

Seit Putins Angriffskrieg ist die Frage, wie wir unseren Energiebedarf reduzieren, noch dringlicher geworden als wegen der Klimakrise ohnehin schon. So gut es ist, schnelle, pragmatische Lösungen für unsere Energieversorgung zu schaffen – etwa durch neue LNG-Terminals –, langfristig zukunftsträchtiger sind die drei E: Effizienz, Einsparung und Erneuerbare Energien. Man kann sich fragen, ob diese drei aktuell die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Warum gibt es beispielsweise noch keine sichtbare Bewegung zum Energiesparen – sowohl für Privathaushalte wie auch für die Industrie?

Stattdessen soll es Zuschüsse geben für Unternehmen, deren Strom- und Gaskosten von Februar bis September 2022 um mehr als 100 Prozent steigen. Leider wird mit den veranschlagten fünf bis sechs Milliarden Euro die Nutzung fossiler Energie weiter subventioniert und die Gaspreise werden hochgehalten.

Fortschritte bei erneuerbaren Energien

Immerhin: Laut sogenanntem „Osterpaket“ wurden die Ausbauziele für die Erneuerbaren kurzfristig noch einmal erhöht und sollen ein „überragendes öffentliches Interesse“ bekommen, was Genehmigungen beschleunigt. Bis 2035 soll die Stromversorgung komplett auf Erneuerbare umgestellt werden. Abstandsregeln zu bestimmten Radaranlagen werden geändert, sodass rund 1.000 Windkraftanlagen kurzfristig genehmigt werden können. Die Planungen sind ambitioniert und sollen im Sommer konkretisiert werden.

Merkwürdigerweise haben sie in Medien und Gesellschaft wenig Echo ausgelöst. Stattdessen werden in Talkshows und Diskussionen oft lieber alte Technologien wie Fracking und Atomkraft aufgewärmt, von denen wir uns aus guten Gründen schon verabschiedet hatten. Zumal der 6. IPCC-Bericht gerade erst wieder belegt hat, dass Erneuerbare Energien flächendeckend billiger sind als alle konventionellen Energien.

Selber anpacken!

Gleich selbst loslegen können wir mit unserer persönlichen Energiewende: Das Auto öfter stehenlassen. Alle Dinge länger nutzen und weniger neue kaufen. LEDs nutzen. Seltener duschen. Eine Solaranlage für Dach oder Balkon anschaffen. Zu einem glaubwürdigen Ökostrom-Anbieter wechseln (z. B. mit Gütesiegel „Grüner Strom“), denn das sorgt für Investitionen. Und dann: Über all die Veränderungen reden. Nachbarn und Bekannte begeistern. In Kirche und Sportverein Veränderungen anregen. Eine Aufbruchstimmung wecken. Alle packen für die Energiewende mit an – das wär doch was.

Anja Schäfer

Ideen zum Sromsparen

Kühlen
• Kühler als 7°C muss ein Kühlschrank nicht sein. Jedes Grad weniger spart 6 % Strom.
• Speisen abkühlen lassen, bevor sie in den Kühlschrank kommen.
• Je kleiner der Kühlschrank, desto weniger Stromverbrauch.
• Den Gefrierschrank regelmäßig abtauen.

Kochen
• Zum Topf passende Kochplatte wählen.
• Deckel aufsetzen.
• Wasser lässt sich am energieeffizientesten im Wasserkocher erhitzen.
• Nur so viel erhitzen, wie benötigt wird.

Backen
• Backofen nicht vorheizen.
• Einige Minuten früher ausschalten, um Restwärme zu nutzen.
• Umluft statt Unter-/Oberhitze wählen.

Spülen
• Geschirrspüler komplett befüllen.
• Eco-Einstellung und niedrige Temperaturen wählen.
• Kurzprogramme haben meist einen höheren Stromverbrauch.

Waschen
• Maschine voll beladen.
• Dank neuer Waschmittel reichen vielfach schon 20°C oder 30°C.
• Eco-Programme wählen.
• An der Luft trocknen.

Surfen
• Handys lieber während einer Mahlzeit laden als über Nacht. Die Aufladung nur zwischen 30 % und 70 % zu halten, schont auch den Akku.
• Laptop nicht ständig am Kabel lassen, sondern ausstöpseln, wenn er geladen ist.
• Bildschirmhelligkeit herunterregeln.
• Dank Steckdosenleisten mit Schalter lassen sich Elektrogeräte schnell vom Netz trennen, denn auch Stand-by verbraucht Energie.
• Weniger Bildschirmzeit = weniger Stromverbrauch.

Mimi Sewalski, Foto: Florian Gobbetz

Avocadostore-Leiterin: Kleine Label können sich oft kein Nachhaltigkeits-Siegel leisten

Mimi Sewalski ist Geschäftsführerin von Avocadostore, Deutschlands größtem grünen Online-Marktplatz. Im Interview erzählt die 32-Jährige, warum gesunder Menschenverstand oft wichtiger als Siegel ist und wie sie selbst prüft, von welchen Firmen sie Produkte kaufen möchte.

Du bist bereits in der Gründungsphase von Avocadostore eingestiegen und hast die Plattform mit aufgebaut. Was hat dich daran gereizt?
Nach meinem Studium habe ich erst fast fünf Jahre bei E-Commerce-Unternehmen in Israel und danach hier in Deutschland in der Werbung gearbeitet. Das fand ich allerdings völlig sinnlos. Später habe ich die Gründer von Avocadostore kennengelernt, die mir erzählten: „Es gibt sehr viele nachhaltige Label – aber keiner kennt sie. Wir haben deshalb eine Online-Plattform gegründet, wo wir alle versammeln wollen. Dort gibt’s dann für jedes herkömmliche Produkt eine nachhaltige Alternative.“ Dieser Satz hat mich entflammt. Viele Leute bekommen ja bei den Stichworten „Öko“ und „Reformhaus“ Gänsehaut, weil sie so viele Vorurteile haben. Kurz gesagt: Ich habe als Mission für mich gesehen, zu zeigen, dass Nachhaltigkeit Spaß macht.

Euer Erkennungszeichen ist die Avocado. Die ist nicht besonders klimafreundlich. Warum habt ihr gerade sie gewählt?
Den Namen gabs schon, als ich eingestiegen bin. Sie stand als Symbolfrucht für die vegane Bewegung. Zu der Zeit war auch noch nicht klar, wie umweltschädlich der Anbau von Avocados sein kann. Natürlich könnten wir uns umbenennen. Aber einmal wäre das markentechnisch sehr unklug. Und ich finde es auch deshalb gut, sie zu behalten, weil Nachhaltigkeit eben nie Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß bedeutet. Dafür steht die Avocado auch. Denn sie hat die guten Fette und ist eine super Alternative zum Fleischkonsum. Genau diesen Diskurs wollen wir führen. Die Leute dazu bringen, Fragen zu stellen.

Auswahl mit Menschenverstand

Welche Nachhaltigkeitskriterien müssen Produkte erfüllen, damit ihr sie verkauft? 
Wir sind kein Ökotest oder Stiftung Warentest: Wir prüfen nicht, sondern machen eine Vorauswahl, um Transparenz zu schaffen und Orientierung zu geben. Label oder Ladengeschäfte, die bei uns verkaufen wollen, bewerben sich und wir schauen dann im Dialog, ob das Unternehmen nachhaltig ist. Wofür steht es? Welche Produkte gibt es? Wenn wir dann grünes Licht geben, schauen wir uns noch mal jedes einzelne Produkt an, das bei uns hochgeladen wird. Neben diesen beiden Stufen haben wir zehn Nachhaltigkeitskriterien, von denen mindestens eins erfüllt sein muss.

Das klingt auf den ersten Blick nicht sehr anspruchsvoll …
Einerseits ja – aber wir haben noch ein elftes Kriterium und das heißt gesunder Menschenverstand. Das heißt, wenn ein Anbieter sagt: Die Bratpfanne ist vegan, dann würden wir sagen: Ganz ehrlich – jede Bratpfanne ist vegan, das reicht uns nicht. Außerdem gibt es einzelne Kriterien, die so stark sind, dass kein anderes mehr erfüllt sein muss – wie z. B. bei „Cradle to Cradle“, das für Kreislaufwirtschaft steht.

Wo wird jeder Euro eingesetzt?

Wäre es nicht einfacher, auf bekannte Zertifikate und Siegel zu setzen?
Es gibt viele kleine Label, die Unglaubliches leisten und von Anfang an die Nachhaltigkeit in ihrer DNA haben und alles Mögliche beachten – aber sich eben kein Siegel leisten können. Wir wollen auch für diese Marken die Tür offen halten. Deshalb verlassen wir den typischen Zertifizierungsansatz und gehen vielmehr in die Transparenz, geben aber auch durch die Vorauswahl Orientierung.

Vor der Herausforderung zu prüfen, stehen wir als Privatpersonen ja auch im Alltag. Viele Firmen werben inzwischen damit, nachhaltig oder grün zu sein. Wie erkenne ich, ob die Produkte wirklich nachhaltig produziert sind – oder die Firma nur Greenwashing betreibt?
Das wird tatsächlich immer schwieriger. Für mich selbst bedeutet Nachhaltigkeit Ganzheitlichkeit. Das heißt, wenn ich etwas kaufe, überlege ich: Wenn ich Aktionärin wäre und diesem Unternehmen einen Euro geben würde – was würde mit diesem Euro passieren? Und bei einem ganzheitlich nachhaltigen Unternehmen habe ich das Gefühl: Egal, was die mit dem Euro machen – es ist etwas Gutes. Das heißt: Die produzieren nicht nur tolle Produkte, sondern achten auch auf Umweltschutz und auf ein faires Miteinander – auch in ihrem Team hier in Deutschland und nicht nur in dem Land, in dem produziert wird.
Wenn ich das vergleiche mit einem Unternehmen, das sagt: Ich habe hier eine Kollektion mit zwanzig Prozent grünen Produkten – dann heißt das eben auch, dass achtzig Prozent ihrer Produkte nicht grün sind. Und der Euro, den ich dieser Firma gebe, finanziert eben auch die achtzig Prozent schlechter Produkte.

„Warum gibt es noch nicht den nachhaltigen Computer?“

Euer Ziel bei Avodastore ist es, für jedes herkömmliche Produkt eine nachhaltige Alternative zu finden. Wo gelingt das gut – wo ist es schwierig?
Im Modebereich hat sich in den letzten zehn Jahren wahnsinnig viel getan. Da gibt es inzwischen sowohl sportliche als auch elegante Marken und das Ganze auch in verschiedenen Preisklassen. Schwierig ist der ganze Elektronik-Bereich. Warum gibt es noch nicht den nachhaltigen Computer? Immerhin gibt es schon nachhaltige Mäuse und Stromkabel.

Welche Produkte sind bei euren Kundinnen und Kunden am beliebtesten?
Eco-Sneaker waren ein großes Thema in den letzten Jahren, auch die faire Jeans, die lange hält, gut sitzt, fair produziert ist und keine Chemie an die Haut lässt. Und dann alle Produkte, die helfen, das Leben plastikfreier zu gestalten – wie z. B. Brotbeutel oder Aufbewahrungsgläser.

Weniger, aber besser kaufen

Man sagt ja immer „Der beste Konsum ist der, der nicht stattfindet“. Ist es dann nicht widersprüchlich, eine Onlineplattform zu betreiben, die zwar mit nachhaltigen, aber dennoch schönen Produkten Anreize zum Kaufen gibt?
Natürlich sind wir ein Geschäftsmodell und leben vom Verkauf, aber wenn man unsere Seite mal genauer anschaut, dann findet man dort ganz viele Informationen rund um nachhaltiges Leben, die gar nichts mit Verkaufen zu tun haben. Unser Ziel ist es, Leute zu motivieren, weniger, aber besser zu kaufen. Das hat viel mit dem Prozess der Nachhaltigkeit überhaupt zu tun. Wenn man erst mal angefangen hat, wird man immer weitermachen und neue Bereiche für sich entdecken.

Was hat dich selbst dazu motiviert, auf Nachhaltigkeit zu achten und deinen Lebensstil umzustellen?
Mein Opa war Jäger, das war sicherlich ein wichtiger Einstieg für mich. Wir haben zusammen Heinz Sielmann-Filme angeguckt und sind gemeinsam auf die Jagd gegangen. Er hat mir dann immer die Zusammenhänge in der Natur erklärt, dadurch habe ich einen Bezug zum Naturschutz bekommen. Außerdem gab es so einen Moment der Erkenntnis, in dem ich dachte: Schon krass, was man alles besitzt! Wo kommt das eigentlich alles her? Seit diesem Moment höre ich nicht auf, mich bei allem, was ich täglich in der Hand habe, benutze oder kaufe, zu fragen: Was verursacht mein Kauf? Und will ich das so unterstützen? Davon kommt man dann auch nicht mehr los.

Kaufende machen den Unterschied

Jetzt bemühen sich viele, in ihrem Alltag nachhaltiger zu leben – aber gleichzeitig sieht man, wie die Industrie weiterhin große Mengen an Schadstoffen ausstößt. Da denkt man doch oft: Ob ich jetzt eine Zahnbürste aus Bambus oder Plastik benutze, macht doch keinen großen Unterschied. Was motiviert dich, trotzdem nachhaltig zu leben?
Mich motiviert total die Tatsache, dass in den letzten zehn Jahren unglaublich viel passiert ist. Ich erinnere mich daran, dass ich vor ein paar Jahren mal in einem Interview gesagt habe: Also wenn Zalando mal grüne Mode verkauft – das schien mir so absurd und so weit weg – dann habe ich mein Ziel erreicht. Und jetzt machen die das immerhin schon teilweise.
Noch ein Beispiel, das mich motiviert: Der Hambacher Forst war ja sehr präsent in den Medien und auch die Frage, warum und wofür die Leute dort demonstrieren. Und genau in der Zeit haben sich so viele Menschen wie noch nie in Deutschland neu für Ökostrom angemeldet. Somit hatten viele einzelne in der Summe einen richtig großen Einfluss, weil dadurch viele Tonnen CO2 eingespart wurden. Einfach, weil so viele Leute einen kleinen Schritt gemacht haben und ihren Stromanbieter gewechselt haben.
Das hat mich beeindruckt zu sehen, wie viele Leute plötzlich etwas ändern. Dass die großen E-Commercer nachhaltige Mode verkaufen, machen sie ja nicht, weil es ihnen plötzlich ein Bedürfnis ist, sondern, weil die Nachfrage da ist. Das heißt, weil wir Konsumentinnen und Konsumenten Entscheidungen treffen, fangen die Großen an, sich danach zu richten. Und das ist doch großartig! Ich glaube wirklich, dass an dem Satz „Jeder Kauf ist ein Stimmzettel“ was dran ist. Wir können etwas bewegen!

Interview: Melanie Carstens

Mimi Sewalski (32) ist Soziologin, Autorin des Buches „Nachhaltig leben JETZT“ (Knesebeck) und hat den 2010 gegründeten grünen Online-Marktplatz Avocadostore seit 2011 mit aufgebaut. Heute ist sie Geschäftsführerin des Unternehmens mit 70 Mitarbeitenden, das 350.000 Produkte von über 4.000 Marken anbietet. Avocadostore agiert als Vermittler und bekommt 17 Prozent vom Verkaufspreis, die von Miete über Personal bis Marketing alles abdecken müssen. Produkte, die ins Sortiment aufgenommen werden, müssen mindestens eins von zehn Nachhaltigkeitskriterien erfüllen: Rohstoffe aus Bio-Anbau, haltbar, made in Germany, Ressourcen schonend, Cradle to Cradle, fair und sozial, recycelt und recycelbar, CO2-sparend, schadstoffreduzierte Herstellung, vegan. Im Web: avocadostore.de

Tearfund will den Müllbergen in Pakistan die Stirn bieten. Foto: Tearfund

Pakistan: Innovatives Projekt verwandelt Abfall in Dünger

In den Slums von Karachi sorgen Müllberge für Krankheiten. Das Hilfswerk Tearfund will dem Problem mit einer ungewöhnlichen Idee ein Ende bereiten.

Kommt der leere Pizzakarton in den Papiermüll oder in den Restmüll? Und muss ich meinen Joghurtbecher ausspülen, bevor ich ihn entsorge? Vor diesen Fragen stehen wir hierzulande gelegentlich, seitdem Anfang der 90er-Jahre die Mülltrennung eingeführt wurde. Zehn Anbieter regeln heute Abtransport und Verwertung von Verkaufsverpackungen. Die gesetzlich vorgeschriebenen Recycling-Quoten steigen regelmäßig.

Nicht so in Pakistan. Rubina ist 25 und lebt in einem Slum. Sie arbeitet hart, um genug Geld für sich und ihre drei Kinder zu verdienen. Der neunjährige Javed ist Rubinas ältester Sohn und mit einer Behinderung zur Welt gekommen. Seine Atmung macht ihm Probleme. Obwohl Rubina Mühe hat, die zusätzlichen Rechnungen zu bezahlen, muss sie ihn regelmäßig mit dem Taxi ins Krankenhaus bringen. Einer der Gründe: Müll.

Müllberge vor der Haustür

Da es in ihrem Slum keine Müllabfuhr gibt, sammelt sich der Müll auch vor Rubinas Haustür und verbreitet Krankheiten wie Cholera. Die Müllberge werden regelmäßig verbrannt, wobei giftige Dämpfe freigesetzt werden, die zu Lungenproblemen führen. Rubina macht sich große Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder. Als ihr jüngerer Sohn drei Jahre alt war, hat er sich beim Spielen im Müll schwer verletzt.

Für Menschen, die ohnehin bereits in Armut leben, stellen die Müllberge ein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zu einem Leben in Würde dar. Nach öffentlichen Angaben werden nur 50 bis 60 Prozent der Müllabfälle auf offiziellen Halden gelagert. Moderne Deponietechnik? Fehlanzeige. Und das bei jährlich etwa 20 Millionen Tonnen Haushaltsmüll, der die Straßen Pakistans zur Müllhalde werden lässt. Sondermüll wird selten separat gesammelt, geschweige denn fachgerecht entsorgt. Die Entsorgungswirtschaft steht buchstäblich in den Kinderschuhen: In dem Land, in dem das Durchschnittsalter bei 22,5 Jahren liegt und fast ein Drittel der Bevölkerung in Armut lebt, sammeln in erster Linie Kinder wiederverwertbare Gegenstände wie Glas, Plastikflaschen, Dosen oder Metall, um sie an Schrotthändler oder Firmen weiterzuverkaufen.

Überschwemmungen sind Nährboden für Ungeziefer

Gigantische Mengen an Müll übersäen in Pakistan nicht nur ganze Landschaften, sondern auch Teile des Meeres. Müll wird häufig einfach in den nahegelegenen Fluss geworfen. Von dort aus bahnt er sich seinen Weg ins Meer, blockiert unterwegs Flussmündungen und sorgt somit für Überschwemmungen. Die wiederum sind Nährboden für Fliegen, Mücken und Ratten, durch die sich Krankheitserreger ausbreiten. Was nicht verrottet, landet meist als Plastikmüll im Meer, wo es sich über die Jahre zu Mikroplastik zersetzt und von Fischen und anderen Meeresbewohnern aufgenommen wird.

Was also tun?

Weniger Müll, mehr Jobs

Damit besonders die Menschen in Slums nicht im Müll versinken, wird in Karachi, der zweitgrößten Stadt Pakistans, an einer innovativen Lösung gearbeitet. Das große Ziel: den Müll zu Dünger verwandeln. Das Projekt „Hariyali Hub“ (übersetzt: Grünes Zentrum) ging im Januar an den Start. Neben einem lokalen Partner der Abfallwirtschaft ist auch das Hilfswerk Tearfund beteiligt. „Hariyali Hub“ und seine geplanten Ableger in verschiedenen Städten sollen neben dem Müllproblem auch die Armut bekämpfen. Jedes Zentrum schafft 25 neue Arbeitsplätze für Menschen aus den Slums. Sie sammeln Nass- und Trockenmüll, der anschließend mithilfe von Maschinen verarbeitet und recycelt wird.

Vorläuferprojekte haben gezeigt, dass auf diese Weise 80 bis 90 Prozent der Abfälle recycelt und dabei unter anderem zu fruchtbarem Dünger umgewandelt werden können. Durch seinen Verkauf kann sich ein Projekt nach kürzester Zeit wirtschaftlich selbst tragen. Was nicht wiederverwertet werden kann, wird zu einer regulären Mülldeponie außerhalb der Stadt gebracht. Menschen wie Rubina erhalten auf diese Weise eine Zukunftsperspektive und ihre Kinder eine sauberere und sicherere Umgebung zum Aufwachsen.

Videos zeigen Lösungen auf

Aber ist das auch mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein? Klar ist: Um das riesige Müllproblem in einzelnen Slums und Stadtteilen Pakistans in den Griff zu bekommen, braucht es mehr als kleine, innovative Recyclingzentren allein. Nötig ist ein langfristiges Umdenken vieler Menschen. Es braucht das Bewusstsein, dass Müll und seine Verbrennung Menschenleben bedroht und die Natur zerstört.

Als christliches Hilfswerk setzt Tearfund dabei auf die Zusammenarbeit mit den Kirchen vor Ort. Ehrenamtliche und Pastoren erhalten Fortbildungen zum Müllproblem. Pastor Amir Shahzad hat in seiner St.-Lukas-Kirche in Karachi schon die kleinen animierten Videos gezeigt, die für diesen Zweck probeweise produziert wurden. Er berichtet begeistert von den positiven Reaktionen der Gemeindemitglieder – und möchte diese Erklärvideos nun auch außerhalb des Gottesdienstes verwenden, um noch mehr Menschen aufmerksam zu machen auf das Problem und vor allem auf die Lösungen, zu denen sie durch Mülltrennung und ordnungsgemäße Entsorgung beitragen können.

Jelena Scharnowski ist Theologin und leitet die Kommunikationsabteilung des christlichen Hilfswerks Tearfund Deutschland e. V. (tearfund.de).

Symbolbild: Getty Images / E+ / imaginima

Mitarbeiterin verrät: So gelingt Nachhaltigkeit im Unternehmen

Wie kann es gelingen, als Firma Umweltschutz zu fördern? Mara Hermann erzählt von Learnings aus der Praxis.

Wir sind ein mittelständisches IT-Projekthaus mit rund 450 Mitarbeitenden und mehreren Standorten in ganz Deutschland. Nachhaltigkeit war in unserem Unternehmen schon immer ein Begriff. Früher allerdings wurden darunter eher langfristige Kundenbeziehungen und langlebige Software-Lösungen verstanden. Mittlerweile ist durch Eigeninitiative der Mitarbeiterschaft ein Team entstanden, das sich um die ökologischen und sozialen Aspekte kümmert – ein Zeichen dafür, dass sich Angestellte gerade in der IT-Branche zunehmend mit ihrem Unternehmen identifizieren können möchten. Dazu gehören auch Bemühungen in Sachen Nachhaltigkeit.

Als internes strategisches Team setzen wir uns aus freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammen, die neben ihrer Haupttätigkeit in Teilzeit an den Nachhaltigkeitsthemen arbeiten. Zudem sind wir Teammitglieder auf verschiedene Standorte verteilt. Um uns abzustimmen und unsere Themen voranzutreiben, tauschen wir uns hauptsächlich über den Firmen-Messenger Slack aus und treffen uns zusätzlich zu regelmäßigen Orga-Terminen oder freiwilligen Coworking-Sessions per Videocall.

Nachhaltigkeits-Tipp des Monats

Da wir alle keine ausgebildeten Fachleute auf diesem Gebiet sind, legen wir Wert darauf, ausgiebig zu recherchieren und zu evaluieren, welche Maßnahmen für uns sinnvoll, wirksam und umsetzbar sein können. So sind wir zum Beispiel auf den Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) und die Änderungsvorschläge der EU-Kommission für die verpflichtende Nachhaltigkeitsberichterstattung, die sogenannte „Corporate Sustainability Reporting Directive“ (CSRD), gestoßen. Damit können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen wollen wir Erfolge im Bereich Nachhaltigkeit ohnehin gern messbar machen, Schwachstellen offenlegen und die Ergebnisse teilen. Zum anderen können wir uns durch unsere frühe Recherche proaktiv auf die neue Richtlinie, die für Unternehmen wie uns ab 2024 verpflichtend sein wird, vorbereiten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist der Austausch mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dadurch stärken wir bei ihnen das Bewusstsein für unsere Arbeit und profitieren außerdem von lebendigen Diskussionen und konstruktivem Feedback. Beispielsweise veröffentlichen wir über Slack einen Nachhaltigkeits-Tipp des Monats und haben zudem ein Austauschformat über Fragen der Nachhaltigkeit in der Mittagspause gestartet. Neben unserer eigenen Recherche ist die Mitarbeiterschaft eine wichtige Quelle für neue Ideen zu nachhaltigen Maßnahmen. Außerdem nehmen wir gelegentlich sowohl methodische als auch inhaltliche Unterstützung von externen Beratungen, die sich auf das Thema Nachhaltigkeit spezialisiert haben, in Anspruch.

Einige konkrete Maßnahmen haben wir in den letzten drei Jahren im Unternehmen erfolgreich umgesetzt:

1. Arbeitsalltag: Gegen Lebensmittelverschwendung

Das Fundament unserer Nachhaltigkeitsbemühungen sind die Maßnahmen, die schnell und zentral umgesetzt werden können. Das waren vor allem Änderungen in unserem Arbeitsalltag, zum Beispiel:

• Energieversorgung: Außer an einem beziehen wir mittlerweile an allen Standorten Ökostrom und werden auch bei dem einen wechseln, sobald vertraglich möglich.
• Lebensmittel: Bei der Versorgung an den Standorten und bei Events achten wir auch verstärkt darauf, zumindest nachhaltige Alternativen anzubieten oder sogar ganz auf nachhaltigere Produkte (bio, regional, pflanzlich, …) umzusteigen. Um unnötigen Essensmüll zu vermeiden, haben wir in den Kühlschränken unserer Büros ein sogenanntes „Shared Shelf” eingeführt – ein Fach, in dem übrig gebliebene Lebensmittel der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden können.
• Plastikflaschen: An einem unserer Standorte haben wir Wasserflaschen komplett durch einen am Wasserhahn installierten Wasserspender ersetzt und prüfen aktuell die Akzeptanz und die Umsetzbarkeit für weitere Standorte.
• Projekte: Gerne unterstützen wir auch soziale oder regionale Projekte und beziehen zum Beispiel Getränke von Viva con Agua, Fritz und Charitea sowie an einigen Standorten Klopapier von Goldeimer.
• Neben der schnellen und zentralen Umsetzung konnten wir durch solche Maßnahmen eine Verankerung des Themas Nachhaltigkeit im Unternehmen schaffen, ohne direkt eine Verhaltensänderung der Mitarbeitenden zu fordern. Letzten Endes wird eine solche Änderung aber erforderlich sein, wenn ein tiefgreifender Wandel geschehen soll: Als Dienstleistungsunternehmen besteht unser Fußabdruck nicht nur aus den Faktoren, die unsere eigene Arbeitsumgebung ausmachen.

2. Mobilität: Bahn statt Flugzeug

Ein wichtiger Punkt sind deshalb auch unsere Reisen. Regelmäßig prüfen wir die Option, Nahverkehrstickets an den jeweiligen Standorten zu unterstützen und wollen gern Roller-Sharing anbieten. Generell wird (auch ohne Corona) darauf geachtet, die Reisezeit zwischen den Standorten und zum Kunden möglichst gering zu halten, ohne das Projekt zu beeinträchtigen. Außerdem wird bei Buchungen angeregt, Reisen möglichst mit dem Zug statt mit dem Flugzeug anzutreten. Da wir keine Verbots-Kultur pflegen möchten, macht sich hier unsere jahrelange Arbeit immer mehr bezahlt: Die Akzeptanz für nachhaltigere Ansätze ist in der Mitarbeiterschaft deutlich gestiegen.

3. Weitere Felder: Langlebige Software

Maßgeblich für unseren Fußabdruck ist auch die Projektarbeit, die wir bei unseren Kunden verrichten. Dabei stellen sich beispielsweise Fragen wie: Sind die Softwarelösungen effizient und langlebig konzipiert? Welchem Zweck dienen unsere Produkte? Als Team Nachhaltigkeit versuchen wir in unseren Austauschformaten und durch Abschlussarbeiten Querschnittsthemen wie z. B. nachhaltige Programmierung im Unternehmen voranzutreiben. Während wir uns mit Maßnahmen zum Arbeitsalltag, zur Mobilität und zum internen Austausch schon eingehend beschäftigt haben, stehen wir hier noch relativ am Anfang. Gerade diese projektbezogenen Querschnittsthemen aus Digitalisierung/IT und Nachhaltigkeit werden voraussichtlich in Zukunft ein zentraler Teil unserer Arbeit sein.

Mara Hermann arbeitet als Data Scientist sowie Data Engineer bei der Firma inovex am Standort Hamburg.

Symbolbild: Getty Images / iStock / Getty Images Plus / hillaryfox

Earthship: Was sich hinter diesen alienhaften Häusern verbirgt

Nein, dieses Haus ist kein Filmset. Wir erklären, was Earthships sind und wie sie uns helfen können, die Welt zu retten.

Sie klingen wie eine Erfindung aus Star Wars und sehen auf ersten Blick auch so aus: Earthships sind Passivhäuser aus recycelten Materialien. Das Konzept wurde in den 70er-Jahren von dem US-amerikanischen Architekten Michael Reynolds entwickelt, heute soll es weltweit etwa 1.000 Earthships geben. Bei aller Variation kennzeichnen einige Eigenschaften fast alle dieser Gebäude:

Passivhaus aus Erde und Glas: Tragende Wände bestehen aus gestapelten Autoreifen, die mit verdichteter Erde gefüllt sind. Das wird mit einer Glaswand auf der Sonnenseite des Hauses kombiniert. So heizen sich die Wände tagsüber auf und geben die Wärme nachts wieder ab. Das ermöglicht eine stabile Raumtemperatur.

Recycelt: Statt neuer Baumaterialien wird Material kreativ weiterverwendet, allein für die Mauern mehrere hundert alte Autoreifen. Eine Sitzbank besteht zum Beispiel aus Coladosen, und alte Glasflaschen werden zum bunten Mosaikfenster oder zur Füllung von Holzkonstruktionen für Innenwände.

Strom aus eigener Herstellung

Autark: Nicht nur die Bauweise, auch die Nutzung des Hauses soll umweltfreundlich sein. Statt aus konventionellen Strom-, Wasser- oder Heiznetzen kommt die Energie aus eigener Produktion. Trinkwasser wird nur dort verwendet, wo es wirklich gebraucht wird. Das nur wenig verschmutzte Grauwasser etwa aus der Waschmaschine wird durch Pflanzen in einem Indoor-Gewächshaus gefiltert und anschließend in Spülkasten oder Dusche geleitet. Stark verdrecktes Abwasser etwa aus der Toilette fließt in einen Abwassertank und wird in Biogas und Dünger für die Gärten verwandelt.

Eigene Lebensmittel: Drinnen wie draußen wird eigenes Obst und Gemüse angebaut.

Die ersten Earthships wurden im Wüstenklima des US-Bundesstaats New Mexico errichtet; dessen klimatische Verhältnisse sind für diese Bauweise ideal. Im kühleren Mitteleuropa herrschen andere Bedingungen, die Temperierung ist schwieriger, es besteht die Gefahr von Schimmelbildung, was mehr Dämmung nötig macht. Ein erstes genehmigtes Projekt in Deutschland hat die Gemeinschaft Tempelhof in Baden-Württemberg umgesetzt.

Text: Nicole Heymann

"Dafür stehe ich mit meinem Namen." Dieser Satz hat Claus Hipp berühmt gemacht. Zum 83. Geburtstag erzählt der Unternehmer, wie er die Landwirtschaft revolutionierte und was der Glaube für ihn bedeutet.

Claus Hipp im Interview: Das treibt den Kult-Unternehmer an

Claus Hipp war Vorreiter beim Thema Babynahrung. Im Interview erzählt der 83-jährige Unternehmer, wie er die Landwirtschaft revolutionierte und was der Glaube für ihn bedeutet.

Auf dem Weg ins Büro kommt Claus Hipp immer an der Wiege des Unternehmens vorbei: Der Reibstein, in dem sein Großvater 1899 Zwieback für den Brei seiner Zwillinge mahlte, steht im Foyer der Unternehmenszentrale. Umrahmt ist er von einem Kruzifix und großflächigen abstrakten Ölbildern, die Claus Hipp am Feierabend in seinem Forsthaus-Atelier malt. Nach rund 50 Jahren in der Unternehmensleitung hat er den Staffelstab mittlerweile an seine beiden Söhne abgegeben. Seitdem schläft er an manchen Tagen auch mal ein bisschen länger als bis 4:30 Uhr. So richtig zurücklehnen mag er sich trotzdem nicht: „Der Schreibtisch ist voll und die Arbeit geht weiter. Ich komme rein, helfe, wo ich kann, und bin wie ein Austragsbauer“, sagt er und spielt damit auf Landwirte an, die ihren Hof an die nächste Generation überschrieben haben. Hipp lebt immer noch auf dem Bauernhof seiner Familie, um dessen landwirtschaftlichen Betrieb er sich schon als Schüler gekümmert hat.

Bio seit den 1950ern

Herr Prof. Hipp, Sie werden oft als Bio-Pionier bezeichnet. Gefällt Ihnen das?
Ja. Denn dafür habe ich mich sehr engagiert, schon seit den Fünfzigerjahren. Das tue ich auch weiterhin und halte es für sehr wichtig. Die Bio-Bewegung ist nicht von einer Partei ausgegangen, sondern von der Wirtschaft.

Nehmen Sie uns doch mal hinein in das Jahr 1956, in dem Sie den organisch-biologischen Landbau für Ihr Unternehmen vorangetrieben haben.
Es geht sogar noch weiter zurück. Meine Mutter war Schweizerin und hat nach dem Krieg meinen Vater gedrängt, auch in der Schweiz Babynahrung zu verkaufen. Die Schweizer wollten aber kein deutsches Produkt und schon gar keine Babynahrung. Dass die Idee nicht funktioniert hat, hat sich unser damaliger Geschäftsführer so zu Herzen genommen, dass er krank wurde. Sein Arzt, Dr. Bircher-Benner, riet ihm dazu, seine Ernährung umzustellen und morgens mit einem Müesli anzufangen. Da sagte mein Vater: „Wenn es für Sie gut ist, ist es für andere auch gut“. Daraufhin haben wir in Deutschland das erste Müesli entwickelt, das wir dann in der Schweiz verkauft haben.

Weg von den Pestiziden

Das ist ja schon ein bisschen frech.
Durch Zufall sind wir dabei auf Dr. Hans Müller in Großhöchstetten gekommen, den Pionier des ökologischen Landbaus in der Schweiz. Er hat uns mit Getreide und Obst beliefert. Er war viel bei uns, hat mich oft bis spät in die Nacht unterrichtet und mich für biologischen Landbau begeistert. Damals habe ich als Schüler unseren Hof geleitet. Auf seinen Rat hin haben wir unsere Landwirtschaft auf bio umgestellt. Er hat uns auch davon überzeugt, Babynahrung aus Bio-Rohstoffen herzustellen, denn wir wollten in unserer Babynahrung keine Pestizid-Rückstände haben. Unser Schluss war: Wenn sie in der Rohstofferzeugung nicht angewandt werden, ist das die größte Sicherheit dafür, dass sie im Endprodukt nicht drin sind.

Hat Ihnen dieser Weg gleich eingeleuchtet?
Ja. Aber es war natürlich schwierig, weil die Umgebung nicht reif dafür war. Als erste Tätigkeit nach der Schule habe ich Bauern beraten und konnte sie davon überzeugen, biologischen Landbau zu betreiben. Ausschlaggebend war, dass die Gesundheit des ganzen Hofes zunimmt, wenn nicht mit Gift gespritzt wird. „Gesunde Pflanzen, gesundes Tier, gesunde Menschen“ – das hatte Albrecht Thaer schon 1750 gepredigt. Die Bauern wollten natürlich wissen, wie es mit dem Ertrag aussieht. Wir haben ihnen versprochen, Ernteausfälle zu vergüten, wenn sie weniger ernten würden. Dadurch haben dann manche Landwirte damit angefangen. Später wurden es immer mehr.

Nie gezweifelt

Sie haben die Produktion schrittweise auf Bio umgestellt. Gab es auch Momente, in denen Sie dachten: Was ist, wenn es nicht funktioniert oder wenn wir doch falsch liegen?
Nein, denn ich war überzeugt davon, dass es der richtige Weg ist. Und mit der nötigen Konsequenz im Handeln hat es dann auch geklappt.

Woher haben Sie den Mut genommen, es anders zu machen? Noch als Schüler entließen Sie den Verwalter Ihres Hofs, weil er ihn nicht so biologisch führen wollte wie Ihre Familie. Ist dieser Mut angeboren?
Unternehmer müssen immer weiter schauen. Bereit sein, Dinge anders zu machen und bestrebt sein, besser zu sein als die Mitbewerber.

Das hat Sie angetrieben.
Ja. Aber ich war auch überzeugt davon, dass das der richtige Weg ist. Viele Jahre später hatten wir einen harten Wettbewerb mit Nestlé und deren Marke Alete. Mit unserer Umstellung auf Bio haben wir dem Handel gesagt: „Wir bringen etwas Neues, aber wir werden teurer.“ Der Handel hat das eingesehen, mit Ausnahme unseres Hauptkunden. Daraufhin haben wir 20 Prozent unseres Umsatzes von heute auf morgen verloren. Das war eine harte Zeit. Der übrige Handel hat unsere Haltung aber honoriert. Nach zwei Jahren hatten wir dieses Minus wieder aufgeholt.

Natur erholt sich schnell

Der Ehrensberger Hof, auf dem Sie mit Ihrer Familie leben, gilt als Musterbetrieb für Biodiversität. Welche Maßnahmen entwickeln Sie dort und wie profitieren Ihre 8.000 HiPP-Bio-Erzeuger davon?
Auf dem Ehrensberger Hof erforschen wir in Kooperation mit Wissenschaftlern und Naturschutzverbänden Methoden, die sich in der Landwirtschaft positiv auf Bodenfruchtbarkeit und die Artenvielfalt auswirken. Die Ergebnisse geben wir an unsere Bio-Bauern weiter und erhöhen damit die Anzahl besonders biodiversitätsfreundlicher Erzeuger. Gerade führen wir eine mehrjährige Studie durch, bei der wir die Insektenvielfalt auf ökologisch und konventionell bewirtschafteten Flächen untersuchen. Dabei konnten wir auf dem Ehrensberger Hof insgesamt 21 Prozent mehr Insektenarten sowie 60 Prozent mehr Schmetterlingsarten als auf der konventionellen Vergleichsfläche feststellen, darüber hinaus die doppelte Anzahl laut Roter Liste gefährdeter Arten.

Zudem konnten wir nachweisen, dass sich die Natur schnell erholt. Bereits ein Jahr nach der Umsetzung biodiversitätsfördernder Maßnahmen nimmt die Vielfalt auf den bislang konventionell betriebenen Flächen wieder zu. Mit ganz einfachen und pragmatischen Mitteln können wir das Artensterben verhindern. Wir müssen es nur wollen.

Was bedeutet es für Sie, im Einklang mit der Schöpfung zu leben?
Es heißt, ich erkenne an, dass es einen Schöpfer gibt, der über allem steht. Einen Schöpfer, dem wir auch Rechenschaft schuldig sind. Wir müssen alles unterlassen, bei dem wir seine Schöpfung schädigen oder ihr Dinge entnehmen, die unserer Generation gar nicht zustehen.

Fleisch „Die Menge macht’s“

Auf welche Dinge verzichten Sie selbst?
Beim Essen verzichte ich zum Beispiel auf einen zu hohen Fleischkonsum. Grundsätzlich soll jeder Fleisch essen dürfen, aber die Menge macht’s – und entscheidend ist auch die Qualität. Wenn wir sehen, dass die Stadt Wien täglich so viel Brot wegschmeißt wie die Stadt Linz verbraucht, dann stimmt etwas nicht. Seit vielen Jahren bin ich Schirmherr der Münchner Tafel: Dort vermitteln wir an unsere Gäste Lebensmittel, die verzehrfähig sind, aber vielleicht nicht mehr verkehrsfähig. Und da bewegen wir in der Woche Lebensmittel im Wert von über 100.000 Euro.

Wer war Ihnen ein Vorbild im Glauben?
Das waren meine Eltern. In der Familie haben wir gebetet und viel über Glaubensfragen erzählt bekommen. Wir sind in die Kirche gegangen und das war ganz normal.

Arbeit als Gebet

Sie schließen morgens in aller Frühe die Kapelle Herrnrast auf und beten dort. Gleichzeitig sagen Sie, Arbeit ist auch Gebet. Wie meinen Sie das?
Meine Arbeit kann ich als Aufgabe sehen, die mir von oben gestellt wurde. Dann ist es Gebet. Wenn ich aber in erster Linie möglichst viel Geld zusammenraffen möchte, ist es kein Gebet mehr. Ich kann schon schauen, Gewinne zu machen. Aber es kommt dann darauf an, was ich damit anfange und wie sozial ich die Mittel wieder einsetze.

Welche Rolle spielt der Glaube in Ihrem Alltag?
Glauben heißt, etwas für wahr halten, was man nicht sehen oder verstehen kann. Es ist ein Akt des Willens. Wenn ich alles diskutiere und hinterfrage und mir alles logisch erscheint, dann ist es Wissen. Dann bleibt für den Glauben nichts mehr übrig. Wenn ich mich in einem kindlichen Vertrauen fallen lasse, fühle ich mich im Glauben geborgen und aufgehoben. Damit kann ich mehr tun als jemand, der nicht glaubt: Ich kann beten und hoffen, dass es gut wird.

Ja, und trotzdem erleben wir aber auch, dass manches eben nicht so läuft, wie wir beten oder worauf wir hoffen.
Ja, sicher. Die Welt besteht aus Gutem und Bösen. Sie ist so geschaffen und damit müssen wir zurechtkommen. Auch bei Paulus [in der Bibel, Anm. d. Red.] lesen wir, wie er sich selbst als Schwachen und Sünder bezeichnet, der gegen das Böse zu kämpfen hat. Wenn es ein Apostel schon machen muss, dann steht es uns auch zu.

Talente nicht vergraben

Gibt es einen Bibelvers, zu dem Sie einen besonderen Bezug haben?
„Richtet euren Sinn auf das, was oben ist, nicht auf das Irdische!“ aus Kolosser 3,2. Das sagt eigentlich alles. Diesen Vers fand ich schon immer gut. Es hat in meinem Leben Situationen gegeben, in denen ich schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hatte. In denen ich nach Gewissen, nach meinem Wertebewusstsein und meinen Überzeugungen entschieden habe. Und das war richtig.

Was macht Ihrer Meinung nach ein erfülltes Leben aus?
Jeder bekommt Talente und die soll man nicht vergraben. In meinem Leben habe ich mich bemüht, es gut zu machen. Aber ich hätte es auch sicher besser machen können.

Inwiefern hätte man es besser machen können?
Alles lässt sich besser machen. Es ist nicht so, dass ich in irgendeiner Weise stolz bin. Sondern ich bin mir meiner Schwächen bewusst und weiß, dass ich manchmal hätte mehr machen können. Und dass die eigene Trägheit oft davor steht.

Claus Hipp, der Tausendsassa

Es hätte ja gereicht, das Unternehmen zu leiten. Sie sind darüber hinaus Künstler und Kunstprofessor, Georgischer Honorarkonsul für Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen, spielen im Behördenorchester Oboe. Warum diese Vielfalt?
Erstmal wird es mir schnell langweilig. Und vielleicht ist es schon ein Bedürfnis, Bestätigung auch woanders zu suchen. Aber es war richtig, die Firma zu leiten. Mein Vater war auch ein sehr musischer Mensch. Er hat wunderbare Bilder gemalt, aber er hat zu mir gesagt, als wir über Berufe diskutiert haben: „Da hast du ein Unternehmen, aus dem du noch etwas machen kannst. Ob die Welt auf dich als Künstler wartet, kannst du vorher nicht wissen.“ Und da hat er Recht gehabt.

Ihr Vater ist gestorben, als Sie 29 Jahre alt waren. Inwiefern hat Sie das geprägt und welche Rolle spielt die Perspektive auf die Ewigkeit für Sie?
Dass das Leben kurz sein kann, ist ein Gedanke, der uns immer bewegt. Ich bin dankbar dafür, dass mein Leben schon so lange währt, aber es kann schnell vorbei sein. Manchmal diskutiere ich darüber mit meiner Frau. Sie wüsste immer gern, wie alt sie wird. Und ich frage dann: Was würdest du dann anders machen? Dann hat sie irgendwelche Ideen. Ich sage, lebe jeden Tag so, als ob er der letzte ist. Und wenn sich meine Mitmenschen einmal mit Wohlwollen an mich erinnern, bin ich zufrieden.

Interview: Debora Kuder

Das Unternehmen
HiPP wird von mehr als 8.000 Bio-Landwirten beliefert und ist damit einer der weltweit größten Verarbeiter biologisch erzeugter Rohstoffe. An allen HiPP-Standorten in der EU wird klimaneutral produziert, am Stammsitz in Pfaffenhofen und in Österreich bereits seit 2011. Bis 2025 will das Unternehmen klimapositiv werden und über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg mehr Treibhausgase ausgleichen als verursachen.

Susanne in Montur, Foto: Privat

Honig-Start-up: Susanne und Markus besuchen spontan einen Imker – und krempeln danach ihr Leben um

Eigentlich wollten Susanne und Markus Müller nur Urlaub machen. Doch der Ausflug überzeugt sie, eine Imkerei aufzubauen.

Eigentlich wollten sie nur „im Vorüberfahren“ eine Salbe kaufen, damals im Österreichurlaub 2014. Doch sie landeten bei jenem Imker, der sie schließlich mit seiner Begeisterung ansteckte. Susanne und Markus Müller beschäftigten sich gerade intensiv mit ihrer Zukunft. Susanne hatte Kommunikationsdesign und Markus Maschinenbau studiert. Aber als engagierte Christen wollten sie nicht nur eigenen Plänen folgen, sondern sich an Gott und seinen Gedanken ausrichten. Kaum etwas lag ihnen ferner als Honig. Den hatten sie noch nicht mal im Haus!

Doch dann blieben sie bei jenem Imker in Österreich hängen, der nicht ahnen konnte, was er mit seiner „Bienenschwärmerei“ auslöste. Susanne und Markus hörten zu, sahen sich um, ließen sich den Betrieb zeigen. Anschließend sahen sich die beiden im Auto an und wussten: Honigbienen – das wird unser Ding!

Völlige Überforderung

Zuhause in Brackenheim, 40 Kilometer nördlich von Stuttgart, krempelten die beiden Mittzwanziger gleich die Ärmel hoch: Parallel zum Imkerkurs und dem Studium von Bienenlektüre zogen bereits zwei Völker im Garten der Müllers ein. „Wir waren völlig überfordert“, lachen die beiden, als ich sie in ihrem Wohnhaus im Zabergäu besuche. Im Keller sind auch ihre zertifizierte Bioland-Imkerei und die Abfüllstation untergebracht. So einiges machte ihnen anfangs zu schaffen und vieles mussten sie erst mühsam durch Trial and Error lernen. Varroamilbe, Drohnenschneiden, Königinnenzucht – am Beginn alles noch Fremdwörter.

„Obwohl es sehr stressig war, haben sich für uns ganz viele Türen geöffnet“, staunt Markus im Rückblick. Was zunächst als Hobbyimkerei beginnt, weitet sich mit den Jahren aus. Als die drei Kinder dazukommen, nutzt Markus die Elternzeit unter anderem zum Ausbau des Betriebs, der immer mehr Raum im Leben der beiden einnimmt. Schließlich reduziert Markus seine Arbeitszeit als Ingenieur auf 80 Prozent.

Jede Menge Gottvertrauen

Dann kommt Corona und damit Kurzarbeit für Markus, was sich überraschend als eine weitere geöffnete Tür entpuppt, die sie als himmlisches Angebot wahrnehmen, den Übergang vom Neben- zum Vollerwerb anzupacken. Ihre Bienen bringen sie je nach Blütezeit an ganz unterschiedliche Standorte, manche mehrere Stunden Fahrt entfernt. „Unser Ziel sind 160 Völker“, erklären die beiden. Für ein neues Wirtschaftsgebäude haben sie gerade die Baugenehmigung erhalten. Und dabei soll es nicht bleiben, erzählt Susanne: „Ich träume von einem Naturgarten mit Bienenlehrpfad, der Stauden, Sträucher, Obstbäume sowie Rückzugsorte für Tiere und Insekten bieten soll.“

Das erste Jahr als Berufsimker stellte sie in diesem Jahr aber auch vor Zweifel und innere Kämpfe: Das Frühjahr und der Sommer waren extrem verregnet, die Ausbeute war wesentlich geringer als erhofft. Doch sie bleiben dran und ich staune über ihren Mut, den sie aus ihrem Glauben beziehen: „Wir setzen unser ganzes Vertrauen in Gottes Zusagen“, erklärt Markus.

Jeder Honigname hat eine Bedeutung

Und davon soll auch ihr Name „Werthonig“ erzählen. Am Esstisch der Müllers darf ich das Bienengold testen. Vor mir aufgereiht stehen Gläser, versehen mit Etiketten, die Wertmarken ähneln. Jede Honigsorte trägt einen besonderen Namen. Der duftige Lindenblütenhonig zum Beispiel heißt „Friede“. Markus erntet diesen Honig am Heilbronner Neckarufer unter Linden – und wo könnte man mehr Frieden finden als abseits von Straßenlärm? Der dunkle Weißtannenhonig trägt den Namen „Geduld“, weil dieser nur alle paar Jahre geerntet werden kann. Ihr Akazienhonig heißt „Hoffnung“, eine Anspielung auf die Empfindlichkeit der Blüte. Zudem steht auf jedem Etikett ein zu den jeweiligen Namen passender Bibelvers. Müllers hoffen vor allem, dass ihr Honig verschenkt wird: „Ein Glas Hoffnung oder Geduld für einen Freund im Krankenhaus: Das spricht seine eigene Sprache“, erklärt Susanne den Kern ihrer Vision. Honig ist hier also nicht nur süßer Brotaufstrich, sondern ein greif- und schmeckbarer Beweis für Gottes Fürsorge in jeglicher Hinsicht.

Und auch ich werde versorgt. Susanne und Markus schenken mir von jeder Honigsorte ein Glas und als ich nach Hause fahre, haben auf dem Beifahrersitz Vertrauen, Geduld, Hoffnung, Fülle, Trost, Freude, Liebe, Kraft und Geborgenheit Platz genommen. Letzteres, eine Honig-Zimt-Mischung, rühre ich abends meinen Kindern in ihre heiße Milch und muss denken, wie sehr sie göttliche Geborgenheit gebrauchen können und wie schön es ist, dass es Menschen gibt, die gleich mehrere Leidenschaften so sympathisch zusammenbringen.

Veronika Smoor ist Autorin, Referentin und Hobbygärtnerin. Mehr über Werthonig: werthonig.de

Die Wohngemeinschaft der Familie Filker. Foto: Privat

Claudia öffnet ihre Wohnung radikal für Fremde – und bereut es nicht

Bei Claudia Filker wohnen jahrelang Geflüchtete in der Wohnung. Jetzt wendet sie sich mit einem Mutmach-Appell an alle, die Platz haben.

„Mama, ihr seid doch wohl verrückt!“. Klarer hätte unser Sohn Lukas sein Unverständnis nicht zum Ausdruck bringen können. Gerade hatte ich ihm am Telefon erzählt, dass wir einen jungen Afghanen als Mitbewohner in unser Haus aufgenommen haben und nun für drei Wochen in die Alpen fahren würden. „Ist das euer Ernst?! Ihr kennt ihn eigentlich gar nicht und dann überlasst ihr ihm einfach euer Haus?! Ich kann euch jetzt schon sagen, wie ihr es bei eurer Rückkehr vorfinden werdet!“ Zugegeben, unser Sohn wusste genau, wovon er sprach. Er leitete damals als Sozialarbeiter eine Wohngruppe für unbegleitete männliche Flüchtlinge. Er machte es mit viel Engagement, meistens großer Begeisterung und freute sich über die vielen Fortschritte der jungen Leute. Nur diese ungeputzten Badezimmer und die unaufgeräumten Küchen gingen ihm gehörig auf die Nerven. Und genau das prophezeite er uns – und vor allem mir mit meiner Vorliebe für eine saubere, aufgeräumte Küche, für geputzte Herde und weggeräumtes Geschirr.

Drei Menschen aus anderen Kulturen zu Gast

Szenenwechsel. Drei Wochen später. Wir betreten nach einem sehr erholsamen Urlaub mit einem etwas mulmigen Gefühl unser Haus. Unsere Wohnküche – top aufgeräumt. Der Tisch ist fein gedeckt und es riecht nach leckerem Essen. Samir, unser neuer Mitbewohner, strahlt zur Begrüßung, so wie auch alle Fenster strahlen, denn die hat er frisch geputzt. Der Rasen ist auch gemäht. Was soll ich sagen? Gut gegangen! Es hätte natürlich auch ganz anders aussehen können …

Zu gern erzähle ich diese verrückteste all unserer „Wir-lassen-Menschen-mit-uns-wohnen“-Storys. Zugegebenermaßen rate ich nicht zu ähnlicher Blauäugigkeit. Aber als sich damals der 23-jährige Samir bei uns vorstellte, hatten wir sofort ein sehr gutes Gefühl. Eigentlich sollte er nach unserer Rückkehr zu uns kommen. Aber wie praktisch: Er konnte sofort aus seiner Flüchtlingsunterkunft ausziehen und wir hatten damit einen Haus-Sitter während unserer Reise. Das war im Jahr 2017. Der Beginn einer langjährigen gemeinsamen Zeit. Ab 2020 wohnte auch noch seine Frau Rohina bei uns. Auf sie hatte er drei Jahre warten müssen, ehe die Familienzusammmenführung möglich war. Beide sind im Frühling 2021 in eine eigene kleine Wohnung gezogen. Das war einfach dran, traurig waren wir trotzdem alle. Seit 2019 wohnt zudem Wossen, ein 44-jähriger äthiopischer Flüchtling bei uns. Richtig mitgezählt? Ja, eine gewisse Zeit lang lebten drei freundliche Menschen aus anderen Kulturen mit uns gemeinsam. Und wir hatten und haben richtig viel Spaß zusammen.

Keine scheinheiligen Argumente

Das jüngste unserer Kinder zog 2013 aus unserer Doppelhaushälfte aus, da waren die anderen schon weg. Drei freie Kinderzimmer? Kein Problem: Erklären wir doch eins zum Nähzimmer. Schade nur, ich nähe nicht und auch die Modelleisenbahn können wir nicht bieten. „Ein Zimmer brauchen wir, wenn unsere Kinder oder andere Gäste sich anmelden“, hören wir es von Bekannten in ähnlichen Lebenssituationen, „und vielleicht kommen mal alle drei mit Anhang, dann braucht man doch drei Zimmer!“

Wir wollten es anders machen und keine Argumente anführen, warum wir „Fremde“ nicht aufnehmen können, obwohl unbestritten „genug Platz in der Herberge“ wäre. Seither fallen uns Mitbewohnerinnen und Mitbewohner irgendwie immer in den Schoß. Mal hängt in der Gemeinde ein Zettel an der Pinnwand, der einen Praktikanten als ersten Mitbewohner zu uns brachte, mal taucht eine Frage in der WhatsApp-Gruppe auf: „Meine Cousine sucht …“ Und dann kam dieser Notruf einer Sozialarbeiterin, die dringend für einige Tage einen Schlafplatz für einen Flüchtling suchte. Daraus wurde dann eine jetzt dreijährige gemeinsame Geschichte. Sogar eine ganz enge. Heute Morgen haben wir Wossens 44. Geburtstag gefeiert. Er vermisst seine Heimat und seinen alten Vater sehr. Wir sind jetzt seine Familie in Deutschland.

Der Bedarf nach Wohnraum ist riesig

Ich finde es schade, wenn sich Paare auf ihren 100, 120, 150 Quadratmetern ausbreiten, wenn die Kinder aus dem Haus sind. In nur zwanzig Jahren hat sich die bewohnte Fläche pro Einwohner in Deutschland von 34,9 auf 47,4 Quadratmeter erhöht. Wohnungsknappheit entsteht auch, weil wenige Personen üppig viele Quadratmeter beanspruchen. Der Bedarf an zu vermietenden Zimmern ist riesengroß.

Das Zusammenleben lässt sich auch erst einmal ausprobieren. Für einige Zeit einen (meist jungen) Menschen als Mitbewohnerin oder Mitbewohner ins Haus oder die Wohnung aufzunehmen, ist schließlich kein Bund fürs Leben. Ein guter Start kann zum Beispiel eine Person sein, die ein vierwöchiges Praktikum in der Stadt machen möchte oder für ein Gastsemester ein Zimmer sucht. In solchen begrenzen Zeiten lassen sich Erfahrungen sammeln. Gerade wohnte für zwei Monate eine Hochschullehrerin aus dem Senegal bei uns, die einen Forschungsauftrag an der Humboldt-Universität hatte. Einfach ein grandioser Mehrwert. Wir haben viel von ihrem Land gelernt, viel gelacht, gut gegessen und rund um den Esstisch gespielt.

Klare Regeln fürs Zusammenleben

Hilfreich ist dabei, klare Regeln festzulegen. Wir sind keine Studierenden-WG, in der man über unterschiedliche Toleranzschwellen von Sauberkeit diskutiert. Klarheit erlebe ich als guten Weg für Konfliktvermeidung. Wichtig ist, gut zu erklären, wo Geräte und Putzmittel zu finden sind und was für den gemeinsamen Gebrauch bestimmt ist und was auch nicht. Natürlich dürfen unsere Mitbewohner beispielsweise alle Gewürze mitbenutzen. Im Kühlschrank wird ein Platz für die persönlichen Lebensmittel freigeräumt.

Wir verstehen uns nicht als Gastgeber. Es wird nicht bewirtet und umsorgt, sondern wir entscheiden, wie viel gemeinsames Leben wir zulassen möchten. Bei uns hat sich das gemeinsame Samstag-Frühstück mit allen eingebürgert. Und in der Lockdown-Zeit, als Sprachkurse online stattfanden, haben wir gemeinsam Mittag gegessen und reihum gekocht. Sonst gibt es am Wochenende oft ein gemeinsames Essen – und jeder ist mit dem Kochen dran. Vereinbart haben wir eine monatliche Miete. In Notfällen fiel sie auch mal aus.

Studierende zahlen mit Mithilfe

Freundinnen von mir haben ihren Wohnraum zur Verfügung gestellt, um sich ihre zu groß gewordene Wohnung noch weiter leisten zu können. So kann das Sinnvolle mit dem eigenen Nutzen verbunden werden. Es gibt vom Studierendenwerk eine wunderbare Initiative, die eine sehr viel größere Verbreitung verdient: „Wohnen für Hilfe“. Hier werden Zimmer gegen Unterstützung im Haushalt vermittelt. Ursprünglich für Seniorinnen und Senioren gedacht, nutzen inzwischen auch Alleinerziehende, Familien, Menschen mit Beeinträchtigungen diesen Service. Die Aufgaben werden individuell ausgehandelt. Es gilt die grobe Faustregel: Eine Arbeitsstunde gegen einen Quadratmeter Wohnfläche. Also für ein 15-Quadratmeter großes Zimmer werden 15 Arbeitsstunden pro Monat geleistet: Einkaufen, gemeinsames Kochen, Gartenarbeit … Pflege und medizinische Tätigkeiten sind ausgenommen.

Ich finde: Es gibt gute Gründe, die Türen zu öffnen und mit Menschen, die nicht zur Familie gehören, gemeinsames Wohnen auszuprobieren. Mein Mann und ich schauen auf acht bunte Jahre zurück und sind gespannt, wer bei uns noch anklingeln wird.

Claudia Filker ist Pfarrerin im Ehrenamt bei der Berliner Stadtmission. Zusammen mit Hanna Schott hat sie die Talk-Box-Reihe entwickelt (talk-box.de).